Unfalluntersuchungsstelle Bahnen und Schiffe UUS Service d enquête sur les accidents des transports publics SEA Servizio d inchiesta sugli infortuni dei trasporti pubblici SII Investigation bureau for railway-, funicular and boat accidents Joseph Zeder Reg. Nr.: 07082503 Schlussbericht der Unfalluntersuchungsstelle Bahnen und Schiffe über Personenunfall bei Zug 58 vom Samstag, 25. August 2007 in Frauenfeld Joseph Zeder Monbijoustr. 51 A 3003 Bern Tel. +41 31 325 70 90, Fax +41 31 323 00 76, mobile +41 79 277 39 30 joseph.zeder@uus.admin.ch www.uus.admin.ch
Dieser Bericht wurde ausschliesslich zum Zweck der Verhütung von Unfällen beim Betrieb von Eisenbahnen, Seilbahnen und Schiffen erstellt. Die rechtliche Würdigung der Umstände und Ursachen von Unfällen ist nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung gemäss Art. 25 der Verordnung über die Meldung und Untersuchung von Unfällen und schweren Vorfällen beim Betrieb öffentlicher Verkehrsmittel (VUU, SR 742.161). 0 ALLGEMEINES 0.1 Kurzdarstellung Am Samstag, 25. August 2007 um ca. 13:52 Uhr erfasste Zug 58 der Frauenfeld Wil Bahn (FW) beim unbewachten Fussgängerübergang Friedau in Frauenfeld ein Mädchen. Es erlitt schwerste Verletzungen, an denen es noch auf der Unfallstelle erlag. 0.2 Untersuchung Die Unfalluntersuchungsstelle UUS wurde um 14:20 Uhr durch die Meldestelle REGA über das Ereignis informiert. Die Rückfrage bei der Infrastrukturbetreiberin FW ergab die Notwendigkeit eines Untersuchs. Der Untersuchungsbericht der UUS fasst die Ergebnisse der durchgeführten Untersuchungen zusammen (Art. 25 VUU). 1 FESTGESTELLTE TATSACHEN 1.1 Vorgeschichte Zug 58 der Frauenfeld - Wil Bahn (FW) verliess am Samstag, 25. August 2007 den Bahnhof Frauenfeld Richtung Wil rechtzeitig um 13:49 Uhr. Dieser Zug wurde vorher von Wil herkommend dort gewendet. Situationsplan TwixRoute 2/8
1.2 Verlauf der Fahrt Nach Abfahrt vom Ausgangsbahnhof Frauenfeld hatte Zug 58 fahrplanmässig bei der Haltestelle Frauenfeld Marktplatz angehalten. Darauf fuhr er Richtung Wil weiter. Die Bahn fährt dort auf eigenem Trassee links der St. Gallerstrasse entlang, bevor dann linkerhand der mit Andreaskreuz (SR 741.21, Art.93, 3.22) und Wechselblinklichtsignalen (SR 741.21, Art. 93, 3.20) ausgerüstete Bahnübergang Reutenenstrasse einmündet. Darauf folgt ein ca 40m langes Bahntrassee, worauf in steilem Winkel, ebenfalls von links, die Rüegerholzstrasse einmündet. Dieser Übergang ist ebenfalls mit Andreaskreuz und Wechselblinklichtsignalen ausgerüstet. Zwischen diesen beiden Bahnübergängen überquert (ca. 20 m nach dem ersten Übergang) ein Fussgängerübergang (Friedau) das Bahntrassee und mündet in einen Fussgängerstreifen (ohne Lichtampeln), der die St. Gallerstrasse überquert und der in der Mitte der Strasse mit einer Fussgängerinsel unterbrochen ist. Zwischen dem Bahntrassee und dem parallel dazu verlaufenden Fussweg auf der linken Seite ist ein massiver Haag angebracht, unterbrochen durch den Fussgängerübergang. Rüegerholzstrasse Marschrichtung Reutenenstrasse St. Gallerstrasse Fahrrichtung Zug Situation aus Sicht des Lokführers Foto: UUS, zej 3/8
Bis vor den Übergang Reutenenstrasse verlief die Fahrt ohne spezielle Vorkommnisse. Ca. auf der Höhe des Reutener-Übergangs (ca. 19 m vor dem Fussgängerübergang) bemerkte der Lokführer 2 Mädchen, die offensichtlich beabsichtigte den unbewachten Fussgängerübergang zu betreten. Sofort gab er ein Achtungssignal und leitete eine Schnellbremsung ein. Der Bremsweg betrug 41 m. Ein Mädchen konnte sich noch durch einen Sprung retten, das zweite, jüngere wurde von der Frontseite des Zuges erfasst und am Kopf so schwer verletzt, dass es noch auf der Unfallstelle verschied. Fussgängerübergang Foto: UUS, kow 1.3 Personenschäden Bahnpersonal Reisende Drittpersonen Leicht Verletzte - - - Schwer Verletzte - - - Tödlich Verletzte - - 1 1.4 Sachschäden am Rollmaterial und an der Infrastruktur des Bahnunternehmens Keine 1.5 Beteiligte Personen 1.5.1 Lokführer Lokführer FW Ausweis: BAV Schmalspurbahn /C Modul O ohne Modul V 1.5.2 Zugbegleiter Der Zug verkehrte unbegleitet 4/8
1.5.3 Dritte tödlich verletztes Mädchen 1.6 Schienenfahrzeuge Eigentümer: Frauenfeld-Wil Bahn (FW), c/o Appenzellerbahnen, 9100 Herisau Zugskomposition: Bt 112 (Spitzenfahrzeug), Be 4/4 11 Triebfahrzeug: Be 4/4 11 Bremsverhältnis: 104% Ausgeschaltete Bremsapparate: keine 1.7 Strassenfahrzeuge Es waren keine Strassenfahrzeuge am Unfall beteiligt. 1.8 Wetter, Schienenzustand Tag, sonnig, normale Sicht; Schienen trocken und Haftung gut. 1.9 Bahnsicherungssysteme Die Bahnsicherungssysteme haben normal funktioniert. Sie sind für den Verlauf des Ereignisses nicht relevant. 1.10 Zug- und Rangierfunk Die Funkgespräche sind für den Unfallablauf nicht relevant. 1.11 Bahnanlagen Die Strecke der FW von Frauenfeld nach Wil weist eine Länge von 17, 44 km auf. Sie ist gekennzeichnet durch total 88 Bahnübergänge. Davon sind 41 gesicherte Anlagen SR 741.21 (SSV), Art.93 und 47 ungesicherte Anlage; davon 10 Anlagen L190 ( L190 = Erkennungszeit für Lokführer < 6 Sekunden). 1.12 Fahrdatenschreiber Der Triebwagen ist mit einer elektronischen Geschwindigkeitsmessanlage Sécheron MultiRec-AS ausgerüstet. Die Fahrdaten werden elektronisch aufgezeichnet und auf einer Memory Card gespeichert. Sie wurden durch die Verkehrsunternehmung im Beisein der UUS ausgelesen und ausgewertet. Die Auswertung der Fahrdaten ergibt, dass der Lokführer mit einer Geschwindigkeit von 40 km/h gefahren ist und sich somit an die vorgeschriebene Geschwindigkeit von 40 km/h für diesen Streckenabschnitt gehalten hat. 5/8
Der Lokführer hat die Schnellbremsung korrekt eingeleitet, der Anhalteweg betrug 41 m. 40 km/h Schnellbremsung ( ) bei 40 km/h eingeleitet; Pfeifsignal ( ) abgegeben. 1.13 Befunde an den Fahrzeugen Über das Fahrzeug sind keine Unzulänglichkeiten bekannt. 1.14 Medizinische Feststellungen In Bezug auf medizinische Beschwerden der am Unfall beteiligten Personen ist nichts bekannt. Der Lokführer fühlte sich bei Dienstantritt fit. Durch die Polizei wurde beim Lokführer ein Atemlufttest durchgeführt. Der Befund war negativ (0,0 ). 1.15 Feuer Es trat kein Feuer auf. 1.16 Ueberlebensmöglichkeiten Aufgrund dessen, dass der Lokführer erst kurz vorher (ca. 19 m) erkennen konnte, dass die Mädchen den Fussgängerübergang überqueren wollten und der Bremsweg 41 m betrug, hatte das Mädchen keine Überlebenschance. 1.17 Informationen über Organisation und Verfahren Auf der Strecke Frauenfeld Wil können auf einer Streckenlänge von 17.44 km 88 Bahnübergänge gezählt werden. Davon sind 41 gesicherte und 47 ungesicherte Bahnübergänge. Von den 47 ungesicherten sind 21 so genannte L190 Bahnübergänge; das heisst: dass die Erkennungszeit für den Lokführer weniger als 6 Sekunden beträgt. Geht man von einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 50 60 km/h, zum Teil bis 75 km/h, und einem Bremsverhältnis von 104% aus, so ergibt dies einen Bremsweg von max. 120 170 m. Bei dieser Anzahl von Bahnübergängen auf so kurzer Strecke ist ein sich fokussieren auf jeden einzelnen Bahnübergang eine grosse Herausforderung für den Lokführer. 6/8
1.18 Verschiedenes Fussgängerübergang aus Sicht Lokführer Der Fussgängerübergang befindet sich in einer Entfernung von ca. 20 resp. 10 m zwischen zwei mit Lichtsignalen ausgerüsteten Strassenübergängen. Parallel zum Bahngleis in Fahrtrichtung links verläuft ein Fussweg, welcher mit einem Haag vom Bahngleis abgetrennt ist; in der Mitte dieses Haags befindet sich eine Öffnung durch die man auf den unbewachten Fussgängerübergang gelangt. Unmittelbar nach dem Gleiskörper mündet dieser Fussgängerübergang in einen Fussgängerstreifen (Zebrastreifen), der wiederum in der Mitte mit einer Verkehrsinsel unterbrochen ist. Weder der Fussgängerübergang über die Bahn noch der Fussgängerstreifen sind mit einer Ampel oder einem Lichtsignal gesichert. 2 BEURTEILUNG 2.1 Technisches Die Schienenfahrzeuge waren technisch in Ordnung. Die Zugspfeife funktionierte. 2.2 Betriebliches Die Bahnstrecke von Frauenfeld nach Wil ist auf einer Strecke von nur gerade 17,44 km mit 88 zum Teil bewachten und zum Teil unbewachten Bahnübergängen durchsetzt. Einzelne erlauben dem Lokführer sogar nur eine Einsichtzeit von weniger als 6 Sekunden. Die Beurteilung des Verhaltens der Fussgänger und Strassenbenützer fordert den Lokführer daher sehr stark. Ein Anhalten auf kürzeste Strecke ist unmöglich, wenn man bedenkt, dass der Zug bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 60 70 km/h und einem Bremsverhältnis von 104% einen Bremsweg von 120 170 m benötigt. 2.3 Strassenseitig Um die Strasse beim Fussgängerstreifen, queren zu können, muss zuerst ein unbewachter Fussgängerübergang über das Bahngleis begangen werden. Der Haag zwischen Fussweg und Bahntrassee sowie der ungefähr 20 m vorher liegende mit Lichtsignalen gesicherte Strassenübergang erschweren dem Lokführer die Beurteilung, ob Fussgänger auf dem Fussweg weitergehen oder ob sie auf den Fussgängerübergang abzweigen. 7/8
3 SCHLUSSFOLGERUNGEN 3.1 Befunde Der ungesicherte Fussgängerübergang liegt zwischen zwei mit Lichtsignalen gesicherten Strassenübergängen, welche in einer Entfernung von ca. 20 resp. 10 m vom Fussgängerübergang entfernt sind. Ein Anhalten des Zuges auf kürzeste Distanz ist nicht möglich. Die akustischen Signale bei den Strassenübergängen sind bei grossem Verkehrsaufkommen schlecht zu hören. 3.2 Ursache Fehlende Sicherung des Fussgängerübergangs. Unachtsames Betreten des Fussgängerübergangs. 3.3 SICHERHEITSEMPFEHLUNGEN Die UUS empfiehlt den Fussgängerübergang zu sichern. Die Untersuchung wurde von Walter Kobelt und Joseph Zeder geführt. Der Bericht von Letzterem erstellt. 3003 Bern, 14. Dezember 2007 Unfalluntersuchungsstelle Bahnen und Schiffe Walter Kobelt Leiter UUS Joseph Zeder nbl. Untersuchungsleiter Verteiler: gem. SR 742.161 (VUU), Art 25 3 8/8