Wissen ist der Schlüssel zum Können



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Wissen ist der Schlüssel zum Können Elsbeth Stern Das Zauberwort seit PISA heißt Frühförderung". Doch ist zweifelhaft, ob sich mit abstrakten Denkspielen die kindliche Gehirnentwicklung stimulieren lässt. Als viel versprechender hat sich erwiesen, Kinder schon in frühem Alter gezielt mit dem Lehrstoff der Schule vertraut zu machen denn nicht Intelligenz, sondern Wissen ist der Schlüssel zum Können Noch am selben Tag, an dem das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler in der PISA- Studie bekannt gegeben wurde, war eine wichtige Ursache für den bescheidenen Lernerfolg der 15-Jährigen ausgemacht: die unzureichende Förderung in den früheren Lebensjahren. Streng genommen bleibt es aus wissenschaftlicher Sicht schleierhaft, wie ausgerechnet aus dem Aufbau der PISA-Studie messerscharf auf Versäumnisse in der Grundschule geschlossen werden konnte. Da aber bekanntlich auch aus falschen Gründen das Richtige getan werden kann, wurde die Besinnung auf die Förderung von Vor- und Grundschulkindern von vielen Wissenschaftlern begrüßt, die sich mit der geistigen Entwicklung im Kindesalter beschäftigen. Sie kritisierten seit langem, dass sich die Vor- und Grundschulpädagogik - vielleicht typisch deutsch - bisher vor allem an den vermeintlichen Defiziten von Kindern orientierte. Gern berief man sich dabei auf den berühmten Schweizer Biologen und Entwicklungspsychologen Jean Piaget (siehe Kasten). In Analogie zum Größenwachstum nahm man an, dass das Gehirn heranreifen müsse, bevor das Kind anspruchsvolle Lernangebote nutzen könne. Diese Vorstellung hat auch bei Lehrern viele Anhänger gefunden. Dazu eine Anekdote: Die von der Piagetschen Entwicklungspsychologie beeinflusste Grundschullehrerin des frisch eingeschulten Kindes einer Kollegin ließ die Eltern auf einem Informationsabend wissen, dass es völlig natürlich sei, wenn Kinder ihr Heft nicht von vorn nach hinten voll schrieben, sondern Eintragungen querbeet vornähmen. Die Bemerkung einer Mutter, ob man denn nicht in die Schule gehe, um ordentliche Heftführung zu lernen, konterte die Lehrerin mit der Feststellung, Piaget habe schließlich bewiesen, dass man Entwicklungsschritte nicht einfach überspringen könne. Derartige Fehlvorstellungen, die von der Entwicklungspsychologie längst korrigiert wurden, prägen den Alltag in unseren Kindergärten und Grundschulen. Natürlich gibt es stark reifungsabhängiges Lernen. Es ist vergebliche Liebesmüh, Kindern Sauberkeitsverhalten anzutrainieren, bevor sich bestimmte Nervenverbindungen herausgebildet haben. Vor dem dritten Lebensjahr wird man Kindern bestimmte Satzkonstruktionen nicht entlocken können. Längerfristige Ziele zu verfolgen, fällt Kindern schwer. Ich will also keineswegs infrage stellen, dass sich im Kindesalter noch grundlegende geistige Veränderungen vollziehen, die eng an die Hirnentwicklung geknüpft sind. Dennoch meine ich, dass Kinder schon früh gefördert werden müssen. In einer hoch technisierten und -zivilisierten Gesellschaft ist es unlogisch, Kinder möglichst lange in einem geistigen Naturz ustand belassen zu wollen. Schreibhefte waren in der Natur nicht vorgesehen. Deshalb konnten uns unsere Gene nicht darauf vorbereiten, Hefte so mit Information zu füllen, dass wir und andere bestimmte Abschnitte mit minimalem Aufwand wiederfinden. Derartiges lernt man auch nicht durch Versuch und Irrtum, sondern nur mit direkter Anleitung und Überwachung durch einen Mentor - sprich Lehrer. Renne ich mit meinem Plädoyer für eine anspruchsvollere Erziehung im Kindergarten und in der Grundschule inzwischen offene Türen ein? Bisweilen stößt man in jüngster Zeit auf eine Frühförderungs euphorie, die ins andere Extrem umschlägt. Im Kindesalter, so heißt es da, sei das Gehirn ganz besonders aufnahmefähig. Wenn es in dieser Zeit nicht trainiert werde, gingen seine ungenutzten Kapazitäten verloren. Dem kindlichen Gehirn werden geradezu mythische Kräfte zugesprochen: Was Erwachsene nur mühsam lernen, sauge das Kind sozusagen wie ein Schwamm auf. Es gelte, die sensiblen Phasen, die windows of opportunity zu nutzen. Würden von der Umwelt nicht zur richtigen Zeit die richtigen Angebote gemacht, träten Versäumnisse auf, die nie wieder kompensiert werden könnten. Als Beispiel wird gern auf die Sprachentwicklung verwiesen: In den ersten Lebensjahren wird ohne profes sionelle Instruktion nicht nur die Mut tersprache, sondern - in mehrsprachigen Umgebungen - problemlos auch noch eine zweite Sprache erworben. Aus diesem Befund wird häufig unberechtigterweise auf eine generell erhöhte Lernfähigkeit in der frühen Kindheit geschlossen. Es wäre bei der gegenwärtigen Euphorie nicht verwunderlich, wenn bald Kurse

angeboten würden, in denen man lernt, wie man bereits während der Schwangerschaft Buchstaben und Zahlen auf den Bauch malen muss, damit das Kind bald nach seiner Gehurt lesen lernt. Auch intelligente Kinder müssen lernen Mit Wissenschaft hat das alles wenig zu tun. Völlig falsch ist etwa die Vorstellung vom Gehirn als Schwamm, der Informationen aufsaugt. Das Gegenteil ist der Fall: Ein funktionierendes Gehirn ist ständig damit beschäftigt ' nur diejenigen Umweltreize herauszufiltern, die für das gerade aktualisierte Handlungsziel relevant sind. Der so genannte Arbeitsspeicher - und damit die Informationsmenge, die man in einer bestimmten Zeiteinheit verarbeiten kann - ist begrenzt, und diese Begrenzung ist durchaus sinnvoll. Sie erlaubt uns, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Diese Funktionen werden vom Frontalhirn koordiniert, das sich im Laufe der Kindheit stark verändert und entwickelt. Kinder haben noch deutliche Defizite in der Handlungs - und Planungskompetenz. Wer ein Kind aufzieht, weiß, dass man es ständig ermahnen muss, beim Essen lieber nachzunehmen, als sich den Teller zu voll zu laden. Auch das Verhalten von Kindern im Straßenverkehr zeugt von eingeschränkter Arbeitsspeicherkapazität, und es ist keineswegs Ausdruck eines neurotischen Elternverhaltens, wenn das Überqueren einer Straße rituell ein geübt wird. Auch dass Kinder in den ersten Lebensjahren ohne systematische Instruktion die Muttersprache fehlerfrei erwerben, erklärt sich durch ihre eingeschränkte Arbeitsspeicherkapazität. Obwohl sie von Anfang an komplexe, verschachtelte Sätze hören, bilden sie zunächst nur Einwortsätze, später dann Zwei- Lind Dreiwortsätze. Sie blenden zunächst so genannt e Funktionswörter wie Artikel und Präpositionen ganz aus und unt erlassen auch das Konjugieren und Deklinieren. Erst wenn sie Substantive, Verben und Artikel besser im Griff haben, wenden sie sich Wortarten und Regeln zu, die komplexere Satzkonstruktionen erlauben. Es sei also noch einmal festgehalten, dass die Annahme, man müsse möglichst viel Lernstoff in die ersten Lebensjahre packen, weil das Gehirn in diesem Zeitabschnitt neue Information wie ein Schwamm aufsauge, falsch ist. lm Gegenteil, wie die Sprachentwicklung zeigt, ziehen Kinder geradezu einen Nutzen aus der Beschränktheit ihres Aufnahmevermögens. Auch wenn dies immer wieder behauptet wird, gibt es bisher keinen Beleg dafür, dass Kinder vom Fremdsprachenunterricht mehr profitieren, als dies Erwachsene tun. Der Erwerb einer zweiten Muttersprache von Geburt an, ist etwas ganz anderes als gezielter Unterricht in einer Fremdsprache. Die Euphorie, mit der gegenwärtig der Englischunterricht im Kindergarten und in der Grundschule begrüßt wird, lässt sich jedenfalls nicht mit Besonderheiten der Hirnentwicklung begründen. Formale Bildung" ohne Inhalte gibt es nicht. Wissen braucht stets einen Gegenstand - sei es die Himmelsgeometrie, die Welt der Pilze, ein einstiges Handwerk wie die Gerberei oder eine alte Kultur wie die ägyptische: Anschauungsunterricht für Kinder" aus französischen und deutschen Bilderbüchern des 19. Jahrhunderts. Dennoch: Die Forderung nach einer anregenderen Lernumgebung schon im Kleinkindalter ist berechtigt. Sie birgt gleichwohl eine gewisse Gefahr, wenn man sie so unspezifisch lässt. Es ist dann nämlich zu befürchten, dass eine unselige Tradition der Bildung aufrechterhalten wird, die in Deutschland leider immer noch die Gestaltung des schulischen Curriculums bestimmt: die Idee von der formalen Bildung. Dieser Idee zufolge schulen wir unseren Intellekt optimal, indem wir uns mit möglichst komplexen und abstrakten Problemen beschäftigen, egal was deren Inhalte sind. Es wird eine Analogie zum Sport hergestellt: So wie man seine allgemeine körperliche Kondition durch Kraft- und Ausdauertraining steigern kann, könne man seine geistige Kondition durch das Lernen von Latein oder Mathematik verbessern. Schon vor mehr als 80 Jahren haben die amerikanischen Psychologen Edward Thorndike und Robert Woodworth berechtigte Zweifel an dieser Annahme eines unspezifischen Transfers geäußert. Theoretisch gut begründete Untersuchungen zeigten bereits damals, dass das Lateinlernen keineswegs die ihm nachgesagten Auswirkungen auf andere Fächer hat. Einige Jahrzehnte später konnten Ludwig Haag und ich dies mithilfe modernerer statistischer Methoden bestätigen. Es ließen sich keinerlei Effekte des Lateinlernens auf das logische Denken nachweisen. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass es für die Optimierung der geistigen

Entwicklung ausreicht, Menschen mit anspruchsvollen und komplexen, aber mehr oder weniger beliebigen Inhalten zu beschäftigen. Wissen ansammeln gilt zu Unrecht als kleingeistig Es kommt sehr wohl auf den Inhalt des Gelernten an, auf das Wissen also. Der Begriff des Wissens hat in unserer Gesellschaft häufig einen negativen Beigeschmack. Wissen ansammeln sei etwas für weniger intelligente Menschen, während intelligente Köpfe sich auch ohne dies behelfen könnten. In den letzten Jahrzehnten hat sich die absurde Auffassung gefestigt, dass es intelligente Schüler nicht nötig haben, für die Schule zu lernen, was sich denn auch über Jahre hin zu bestätigen schien. Erst der Globalisierungsschock namens PISA förderte zutage, dass Deutschland, was Spitzenleistungen insbesondere in der Mathematik und den Naturwissenschaften angeht, nicht mehr mithalten kann. Neuere Ergebnisse der Kognitionsforschung zeigen denn auch auf drastische Weise, dass Wissen und nicht Intelligenz der Schlüssel zum Können ist. In der Tradition der Expertiseforschung zum Beispiel werden Menschen untersucht, die in einem anspruchs vollen und komplexen Gebiet Höchstleistungen erbringen, etwa in Schach, Mathematik, Musik oder den Naturwissenschaften. Es zeigte sich, dass sich diese Menschen von anderen nicht durch ihre Intelligenz, sondern durch ihr Wissen unterscheiden. Systematische biografische Forschungen haben gezeigt, dass Experten lange Jahre hindurch sehr intensiv auf ihrem Gebiet geübt haben. Natürlich sind Experten in vielen Bereichen auch überdurchschnittlich intelligent. Ein unterdurchschnittlich intelligenter theoretischer Physiker ist schwer denkbar. Aber während fehlendes Wissen nicht kompensierbar ist, können Defizite bei Intelligenz und speziellen Begabungen durch besonders intensives Üben in gewissem Maß ausgeglichen werden. Warum unterscheiden sich am Ende eines Schuljahrs die Schüler einer Klasse in ihren Leistungen auf Gebieten, die im Unterricht ausführlich behandelt wurden? Eine einfache Erklärung wäre, dass manche Schüler aufgrund ihrer Persönlichkeit, die sich in Merkmalen wie Intelligenz, Motivation oder Anpassung ausdrücken kann, mehr vom Unterricht mitbekommen haben als andere. Tatsächlich liegt die Sache noch einfacher: Kinder, die - unabhängig von ihrer Intelligenz - schon zu Beginn des Schuljahres Wissen mitbringen, haben die besten Chancen, etwas dazuzulernen. Unterschiede des Vorwissens etwa in der Mathematik treten schon sehr früh auf. Manche Kinder können rechnen, lange bevor sie in die Schule kommen, und sich diesen Vorsprung oft auch erhalten. Dies zeigen unter anderem die deut schen Längsschnittstudien LOGIK und SCHOLASTIK, die unter der Leitung des vor zwei Jahren verstorbenen Lehr- und Lernforschers Franz Emanuel Weinert durchgeführt wurden. Wer früh lernt, hat später einen Vorsprung Ein Ergebnis war besonders beeindruckend: Unt erschiede der Mathematikleistung bei Gymnasiasten in der elften Klasse ließen sich besonders gut durch Unterschiede der Mathemat ikleistung in der zweiten Klasse erklären. Es war sogar so, dass ausschließlich Kinder, die bereits in der zweiten Klasse ein fortgeschrittenes Verständnis von Zahlen hatten, in der elften Klasse noch sehr gute Leistungen erbringen konnten. Vergleicht man den Einfluss von Vorwissen und Intelligenz, so zeigt sich - wie nicht anders zu erwarten -, dass intelligentere Kinder im Allgemeinen auch über mehr Wissen verfügen. Wer es jedoch nicht geschafft hat, seine Intelligenz in Wissen umzusetzen, der hat in dem entsprechenden Fachgebiet weniger Chancen als jemand, der bei schlechteren Ausgangsbedingungen mit vielleicht etwas größerer Anstrengung Wissen erworben hat. Wissen ist der entscheidende Schlüssel zum Können. Die heut e oft anzutreffende negative Einstellung zum Wissen hängt möglicherweise mit einer einseitigen Betrachtungsweise zusammen, die Wissen auf eine Ansammlung von Fakten reduziert. Wenn ich weiß, dass Manila die Hauptstadt der Philippinen ist, aber gleichzeitig denke, dass die Philippinen in Nordeuropa liegen, nützt mir das nicht wirklich etwas. Mit derartigem Wissen kann man mit etwas Glück einige Runden im Fernsehquiz überstehen. Ansonsten ist isoliertes Faktenwissen unbrauchbar. Zweifellos sicht ein Großteil des in der Schule erworbenen Wissens genau so aus: einige korrekte Fetzen in einem wüsten Haufen Müll. Den Satz des Pythagoras kennen viele Schüler vielleicht noch, aber es gelingt ihnen nicht, ihn heranzuziehen, wenn ein ungewöhnliches Problem gelöst werden soll. Faktenwissen ist wichtig und hilfreich, wenn es in intelligent vernetztes Begriffswissen eingebettet ist. Kompetenztraining": eine einfältige Mode der Pädagogik

Seit einiger Zeit wird unter dem Modeschlagwort von den Schlüsselqualifikationen" gefordert, dass nicht die Vermittlung von Wissen im Mittelpunkt von Bildung stehen solle, sondern Dinge wie Sozial- und Lernkompetenz. Damit geht die Annahme einher, diese Kompetenzen ließen sich unabhängig vom Inhalt vermitteln. Nichts ist falscher als das. Leider haben mir Berliner Schüler schon von solchen Auswüchsen erzählt: In der ersten Woche nach den Ferien werden in jedem Fach nur Lernstrategien vermittelt, bevor es richtig" losgehen sollte. Tatsächlich sind Lernstrategien oder Sozialkompetenzen zwar lernbar, aber nicht direkt lehrbar. In einer erfolgreichen Lernumgebung fallen sie als höchst brauchbare Nebenprodukte ab. Man sollte als Lehrer durchaus Gruppenarbeit machen und die Schüler zum systematischen Lernen und Lesen anhalten - aber eben nur im Zusammenhang mit der erfolgreichen Vermittlung von Inhalten. Ohne Wissen können wir nichts, mit Wissen aber auch nicht immer alles. Es gibt intelligentes und weniger intelligentes Wissen. Die Redewendung Wissen vermitteln" ist, wenn es um intelligentes Wissen geht, unangemessen. Intelligentes Wissen kann nicht über eine Art Fotokopierprozess vom Kopf des Lehrers in den Kopf des Schülers übertragen werden. Es muss vom Lernenden konstruiert werden, indem er mit der neu eingegangenen Information an sein bereits bestehendes Wissen anknüpft. Je mehr Wissen er hat und je besser dieses strukturiert ist, umso leichter kann er neu eingehende Informationen aufnehmen. Wir müssen eine anspruchsvollere Vor- und Grundschulerziehung etablieren, weil in dieser Zeit mit dem Aufbau von Wissen begonnen werden muss. Der Aufbau einer intelligenten Wissensbasis benötigt Zeit, weil eben intelligentes Wissen nicht einfach aufgesogen werden kann, sondern in einem mühsamen Prozess der inneren Umstrukturierung entsteht. Ein Grund, früh damit anzufangen, besteht darin, die mit dem Lernen einhergehende Automatisierung" von Wissen besser und sinnvoller auszuschöpfen. Dass wir in Sekundenschnelle das Wort Mississippidampfschifffahrtsgesellschaftskapitän" lesen können, verdanken wir der hochgradigen Automatisierung des Erkennens von Großbuchstaben sowie dem Wissen darüber, welche Buchstabengruppen welchen Silben zugeordnet sind. Ein im Lesen ungeübter Mensch hingegen muss jeden Buchstaben in einen Laut übertragen und daraus mühsam ein Wort konstruieren. Es wird Arbeitsspeicherkapazität gebunden, die für das Sinnverständnis verloren geht. Die PISA-Studie zeigte, dass hier das Problem für viele Hauptschüler liegt: Der Leseprozess ist so wenig automatisiert, dass die gesamte Aufmerksamkeit absorbiert wird und für das Stiften von Sinnzusammenhängen nichts übrig bleibt. Automatisierung wird in allen Bereichen gefordert. Das Beherrschen des Einmaleins gehört ebenso dazu wie das Erkennen von Schaubildern oder das Vokabellernen in der Fremdsprache. Automatisierung ist die Folge von Übung in Teilschritten. Ein kapitaler Fehler der Bildungsreform der 60er und 70er Jahre bestand in der geringen Bedeutung, die dem Üben beigemessen wurde. Man solle Dinge verstehen und nicht auswendig lernen, hieß es. Damit wurden künstliche Widersprüche aufgebaut. Tatsächlich ist automati siertes Wissen die Voraussetzung für Verstehensprozesse, eben weil man für Verstehensprozesse freie Kapazitäten braucht. Das teilweise durchaus stupide Üben in Teilschritten mit ein Ziel der Automatisierung hat seine Berechtigung, wenn es nicht dabei bleibt. Automatisiertes Wissen muss immer wieder in sinnstiftendes Lernen eingebettet werden. Aber Automatisierung braucht Zeit. Je früher bestimmte Teilschritte automatisiert werden, umso eher kann man sich auf Sinnstiftung konzentrieren. Ein Beispiel: Wir wissen inzwischen, dass die Voraussetzung für einen unproblematischen Schriftspracherwerb die so genannte phonologische Bewusstheit ist. Darunter versteht man die Fähigkeit, die lautlichen Merkmale einer Sprache zu erkennen. Dies drückt sich in der Fähigkeit aus, im Rhythmus der Silben zuklatschen oder Reime zu erkennen. Phonologische Bewusstheit ist Voraussetzung für eine Automatisierung des Lesens. Mithilfe von Sprachspielen, die zum Beispiel von meinem früheren Kollegen Wolfgang Schneider und seiner Arbeitsgruppe entwickelt wurden, lässt sich die phonologische Bewusstheit bereits im Kindergarten trainieren. Kinder, die dieses Training durchlaufen haben, lernen in der Grundschule sehr viel unproblematischer Lesen und Schreiben. In den nächsten Jahren müssen Wissenschaftler und Lehrer enger zusammenarbeiten, um gemeinsam den langfristigen Aufbau einer intelligenten Wissensbasis in unterschiedlichen Fächern zu planen. Welche Übungen in Vor- und Grundschule den späteren Unterricht am besten unterstützen, muss in langfristig angelegten empirischen Studien untersucht werden. Ein häufig vorgebrachter Einwand gegen anspruchsvollere Lernbedingungen in der Vor- und Grundschule betrifft die Schüler mit ungünstigeren geistigen Voraussetzungen. Es wird befürchtet, dass diese von Anfang an überfordert und damit frustriert werden. Diese Annahme ist jedoch nicht

berechtigt. Gerade Schüler mit ungüns tigeren Voraussetzungen bedürfen der besonderen Anregung, und die beschriebenen Übungen zur phonologischen Bewusstheit im Kindergarten bewahren insbesondere diese Schüler vor einer Lese-Rechtschreib-Schwäche. Ebenso unberechtigt ist allerdings auch die Hoffnung, ein anregender Unterricht würde die Unterschiede zwischen den Schülern zum Verschwinden bringen. Tatsächlich werden durch anregenden Unterricht und sinnvolle Übungen alle Schüler entsprechend ihren Voraussetzungen gefördert. Das allgemeine Niveau steigt, aber auf diesem höheren Niveau bleiben die Unterschiede bestehen. Prof. Dr. Elsbeth Stern, Jahrgang 1957, ist Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Honorarprofessorin für Pädagogische und Ent wicklungspsychologie an der Technischen Universität Berlin. Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag, den Frau Professor Stern am Hanse-Wissenschaftskolleg gehalten hat. Weitere Informationen zur Forschung von Elsbeth Stern im Internet: www.mpib -ber lin.mpg.de/de/forschung/eub/projekte/ enterprise.htm PSYCHOLOGIE HEUTE JULI 2003 Wo sind mehr Bonbons? Vorschulkinder sind klüger, als der berühmte Entwicklungspsychologe Jean Piaget ihnen zugestand Jean Piaget nahm an, dass die geistige Entwicklung von Kindern in einer Abfolge von Stufen erfolgt. Auf welcher Stufe ein Kind steht, wird von seiner fort schreitenden Hirnreifung vorgegeben. Der sensomotorische Säugling holt sich noch nicht den vor seinen Augen mit einem Tuch bedeckten Gegenstand. Das präoperative Grundschulkind behauptet, dass die aus einem flachen in ein hohes Gefäß umgegossene Flüssigkeit mehr geworden ist. Auch scheinen diese Kinder zu glauben, dass die in einer Reihe ausgelegten Bonbons mehr werden, wenn die Reihe auseinander gezogen wird. Das konkret-operative Grundschulkind behauptet, dass eine Mischung aus 3 Gläsern Himbeersirup und 8 Gläsern Wasser genauso schmeckt wie eine Mischung aus 13 Gläsern Himbeersirup und 18 Gläsern Wasser, da die Differenz und nicht das Verhältnis berücksichtigt wird. Jede Stufe ist durch geistige Grenzen charakterisiert. Piagets Aufgaben waren genial, und die von ihm gefundenen Antworten lassen sich noch immer an Kindern in unterschiedlichen Kulturkreisen reproduzieren. Allerdings gibt es inzwischen zahlreiche Befunde, die zeigen, dass Piaget die geistige Leistung der Kinder unterschätzte, weil er Antworten der Kinder, die mit dem Kontext seiner Aufgabenstellung zu tun hatten, übergeneralisierte. Die Einbeziehung zusätzlicher Beobachtungsdaten, geringfügige Abweichungen in der Aufgabenstellung oder recht einfache Formen der Unterstützung zeigen, dass Kinder mehr von der Welt begreifen, als lange angenommen wurde. Auf diese Weise lässt sich zum Beispiel demonstrieren, dass Säuglinge durchaus wissen, dass sich besagter Gegenstand unter dem Tuch befindet. An den Blickbewegungen der Kinder lässt sich ersehen, dass sie den Ort kennen, an dem der Gegenstand liegt. Vorschulkinder, die zuvor noch behauptet haben, dass die umgeschüttete Flüssigkeit mehr wird, verneinen, dass man mit dieser Methode einer drohenden Getränkeknappheit auf einem Kindergeburtstag entgegenwirken kann. Darf sich ein Vorschulkind zwischen einer kürzeren Reihe mit vielen eng aneinander liegenden Bonbons und einer längeren Reihe mit weit auseinander liegenden wenigen Bonbons entscheiden, so wählt es, ohne zu zögern, die kurze Reihe mit der größeren Zahl Bonbons. Soll ein Grundschulkind herausfinden, ob ein Gemisch aus 4 Gläsern Himbeersirup und 6 Gläsern Wasser stärker nach Himbeere schmeckt als ein Gemisch aus 3 Gläsern Sirup und 5 Gläsern Wasser, so wird es mit einfachen Hilfsmitteln erkennen, dass 2 zusätzliche Gläser Wasser eine Grundsubstanz von 3 Sirupgläsern stärker verwässern als eine Grundsubstanz von 4 Sirupgläsern. Kleinen Kindern fehlt häufig das Wissen, um beim Denken mit vielen Elementen zu jonglieren - ansonsten können sie aber mehr, als Piaget ihnen zutraute. E. S.