Kinderarmut in Deutschland Einige empirische Befunde Michael Fertig Marcus Tamm



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Transkript:

Kinderarmut in Deutschland Einige empirische Befunde Michael Fertig Marcus Tamm Seit einigen Jahren werden Kinder in der politischen Debatte häufig mit einem Armutsrisiko assoziiert. Hieraus wird dann oftmals die Forderung abgeleitet, dass der Staat als Gegenmaßnahme Familien höhere Unterstützungsleistungen gewähren müsse. Diese Forderungen basieren jedoch teilweise auf unzureichenden Informationen. Ignoriert wird in der Debatte beispielsweise oft, dass Kinder mit unterschiedlichem familiären Umfeld nicht gleichermaßen von Armut betroffen sind. Dieser Aufsatz versucht mit Hilfe eines umfassenden statistischen Porträts relativer Einkommensarmut unter Kindern in Deutschland einen Beitrag zu einer informierten Diskussion zu leisten. 1Einleitung Trotz eines beträchtlichen Wirtschaftswachstums über einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert und einem deutlichen Anstieg der Pro-Kopf-Einkommen, ist auch in den wirtschaftlich am weitesten entwickelten Staaten Kinderarmut nicht verschwunden. In den OECD-Staaten variiert der Anteil an Kindern, die in Haushalten mit weniger als der Hälfte des Medianeinkommens 1 leben, zwischen rund 3 % und mehr als 25 %. In der Mehrheit der Länder beträgt dieser Anteil mehr als 1 % (UNICEF 5). Angesichts der möglichen Langzeitfolgen eines Aufwachsens in Armut, geben diese Zahlen Anlass zur Sorge. Häufig ist ein Heranwachsen in Armut verbunden mit gesundheitlichen Problemen, Lernschwierigkeiten, niedrigeren Schulabschlüssen, einer höheren Wahrscheinlichkeit straffällig zu werden oder späterer Arbeitslosigkeit. Im schlimmsten Fall kann sich dies zu einer sich selbst verstärkenden Spirale der Armut über mehrere Generationen entwickeln (Corak 4). Während das Phänomen Armut in der Gesamtgesellschaft recht gut erforscht ist, bestehen zur Kinderarmut vor allem in der empirischen Forschung noch einige Lücken. Dieser Aufsatz hat daher zum Ziel, einen Beitrag zur Schließung dieser Leerstellen zu leisten. Hierzu bietet er ein statistisches Porträt relativer Einkommensarmut unter Kindern in Deutschland und zeigt deren Entwicklung seit Mitte der 8er Jahre auf. Unter Kindern werden dabei alle Personen verstanden, die jünger als 18 Jahre sind. Im folgenden Beitrag werden zunächst in Abschnitt 2 die der Untersuchung zugrunde liegenden Daten erläutert sowie die konkrete Vorgehensweise erklärt. Abschnitt 3 fasst die wichtigsten empirischen Resultate für Deutschland zusammen. In Abschnitt 4 werden die Befunde für Deutschland mit denen anderer OECD-Staaten verglichen; Abschnitt 5 bietet einige Schlussfolgerungen an. 2Daten und Vorgehensweise Die vorliegende Studie basiert auf Daten des Sozio-Ökonomischen Panels (SOEP), einer jährlich vom DIW in Berlin durchgeführten repräsentativen Befragung von Haushalten in Deutschland. 2 Hierbei wird neben Einkommensinformationen auch eine ganze Reihe an sozio-demographischen Charakteristika des jeweiligen Haushalts und seiner Mitglieder erhoben. Die verwendete Einkommensinformation bezieht sich auf den Zeitraum 1983 1 für Westdeutschland und 1991 1 für Ostdeutschland. Das erfragte Haushaltsbruttoeinkommen (real, in Euro des Jahres ) beinhaltet (1) Arbeitseinkommen (inkl. Einkommen aus Selbständigkeit), (2) Einkommen aus Kapitalerträgen, (3) Einkommen aus privaten und öffentlichen Transfers und (4) Renten/Pensionen. Hiervon werden in der Datenauswertung Steuern und Sozialabgaben abgezogen, um das Haus- haltsnettoeinkommen zu bestimmen. Unter der Annahme einer Gleichverteilung des Haushaltsnettoeinkommens innerhalb des Haushalts wird dieses dann auf die einzelnen Mitglieder desselben verteilt. Um Größenvorteile von Mehrpersonenhaushalten zu berücksichtigen, wird als Anpassungsfaktor (sog. Äquivalenzskala) die Wurzel aus der Anzahl der Haushaltsmitglieder verwendet. Hierdurch erhält man das individuelle Netto-Äquivalenzeinkommen jeder Person. Aus diesem wird schließlich die Armutsgrenze berechnet. Prinzipiell kann die Armutsgrenze auf viele Arten definiert werden. Hier ist diese so festgelegt, dass Kinder (d.h. Personen unter 18 Jahren), deren individuelles Net- 1 Der Median stellt den Einkommenswert dar, der von jeweils der Hälfte der Bevölkerung unter- bzw. überschritten wird. 2 Dieser Datensatz ist neben der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hauptsächlich verwandt wird sowie dem Niedrigeinkommenspanel (NIEP), die zentrale Datenquelle zur Höhe und Zusammensetzung des Einkommens von Haushalten in Deutschland. Michael Fertig, Dr., ist Forschungskoordinator am RWI Essen. Arbeitsschwerpunkte: Empirische Arbeitsmarkt- und Bevölkerungsökonomik. e-mail: fertig@rwi-essen.de Marcus Tamm, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am RWI Essen und der Ruhr- Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Empirische Arbeitsmarkt- und Gesundheitsökonomik. e-mail: tamm@rwi-essen.de 239

to-äquivalenzeinkommen weniger als 5 % des gesamtdeutschen Medianeinkommens des jeweiligen Jahres beträgt, als (relativ) arm betrachtet werden. Mehrere Sensitivitätsanalysen weisen darauf hin, dass sich die in Abschnitt 3 zusammengefassten Ergebnisse qualitativ kaum ändern, wenn man statt 5 % des Medianeinkommens beispielsweise 6 % wählt. Allerdings macht die Wahl einer gesamtdeutschen anstatt jeweils einer spezifisch west- bzw. ostdeutschen Armutsgrenze teilweise einen deutlichen Unterschied (vgl. hierzu unten und ausführlicher Corak/Fertig/Tamm 5). Im Jahr 1991 lag die Armutsgrenze bei ca. 8.25 pro Jahr (pro Monat ca. 688 ), 1 bei rund 8.7 (pro Monat rund 725 ). Mit Hilfe dieser Informationen können dann auf jährlicher Basis folgende Indikatoren geschätzt werden, die ein umfassendes statistisches Porträt der Kinderarmut ergeben: Armutsinzidenz: Kinderarmutsraten, d.h. Anteil der Kinder, die in Armut leben. Armutsdynamik: Eintrittsraten in und Austrittsraten aus Kinderarmut. Armutsdauer: Anzahl der Jahre in Kinderarmut und die Wahrscheinlichkeit für Wiedereintritt in Armut, nachdem diese verlassen wurde. Diese Indikatoren werden jeweils für Ostund Westdeutsche, Personen mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit sowie für verschiedene Familientypen (Singles mit und ohne Kind, Paare mit und ohne Kind(er)) geschätzt. Im Folgenden wird der Schwerpunkt auf Armutsinzidenz gelegt. Die Themen Armutsdynamik und -dauer können hier aus Platzgründen nicht umfassend diskutiert werden (für Details: Corak u.a. 5). Abb. 1: Kinderarmutsraten nach Region in Deutschland 16 14 12 1 8 6 4 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 1 Ost Ost (Armutsgrenze West) West West (Armutsgrenze West) Abb. 2: Kinderarmutsraten nach Staatsangehörigkeit in Deutschland 15 1 5 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 1 Deutsche Frühe Einwandererkohorten Ausländer insgesamt Neue Einwandererkohorten 3Zentrale empirische Resultate Die Kinderarmutsrate ist im Laufe der 8er Jahre in Westdeutschland moderat gesunken und seit Beginn der 9er Jahre in deutlich angestiegen (Abbildung 1). Im Jahr 1 lebten gemessen an der gesamtdeutschen Armutsgrenze 1,2 % der Kinder in Deutschland in (relativer) Armut. Dies entspricht etwa 1,5 Mio. Personen. Die Zunahme seit 1991 betrug 2,5 Prozentpunkte. Hierbei zeigt sich, dass sich die Situation von Kindern seit Mitte der 9er Jahre auch im Vergleich zur Gesamtbevölkerung und zu Haushalten ohne Kinder verschlechtert hat. Der beobachtete Anstieg der Kinderarmutsrate fällt nur geringfügig kleiner aus, wenn, anstatt einer sich jährlich anpassenden Armutsgrenze, eine für den Beobachtungszeitraum fixe Armutsgrenze definiert wird. Auch nach diesem Konzept, das eher einem Maß für absolute Armut ähnelt, zeigt sich, dass in 1 mehr Kinder in Armut lebten, selbst wenn hierfür der geringere durchschnittliche Lebensstandard zum Beginn der 9er Jahre als Maßstab dient. Die Gründe für den allgemeinen Anstieg der Armutsraten dürften vor allem in der schlechten Arbeitsmarktentwicklung zu suchen sein. Abbildung 1 verdeutlicht auch den bereits angesprochenen Unterschied in den relativen Armutsraten, der durch die Wahl der regionalen Armutsgrenze hervorgeru- 24

Abb. 3: Verbleib in Armut x Jahre nach Eintritt () Anteil in % 1 8 6 4 1 2 3 4 5 Jahre nach Eintritt in Armut alle Kinder Kinder von allein Erziehenden Abb. 4: Verbleib in Nicht-Armut x Jahre nach Austritt aus Armut Anteil in % 1 8 6 4 1 2 3 4 5 Jahre nach Austritt aus Armut (alle Kinder) Westdeutschland (alle Kinder) Ostdeutschland (alle Kinder) (Kinder von allein Erziehenden) Abb. 5: Armutsraten nach Haushaltstypen in Deutschland 5 4 3 1 1991 1993 1995 1997 1999 1 fen wird. Während die Kinderarmutsrate in Ostdeutschland im Jahr 1 gemessen an der gesamtdeutschen Armutsgrenze (d.h. 5 % des gesamtdeutschen Medianeinkommens) 12,6 % beträgt, liegt sie bei allein Erziehende Erwachsene (Einzelpersonen) Paar mit 1 oder 2 Kindern Paar mit mind. 3 Kindern Paar ohne Kinder über 14 %, wenn man die westdeutsche Armutsgrenze, also 5 % des westdeutschen Medianeinkommens, zugrunde legt. Unabhängig hiervon stellt man fest, dass die Kinderarmutsrate in Ostdeutsch- land in den meisten Jahren signifikant höher ist als im Westen. Beispielsweise betrug diese im Jahr 1 in Ostdeutschland 12,6 %, wohingegen sie in Westdeutschland bei 9,8 % lag, jeweils gemessen an der gesamtdeutschen Armutsgrenze. Auch Kinder aus nicht-deutschen Haushalten sind seit Mitte der 9er Jahre stärker von Armut betroffen als Kinder in deutschen Haushalten und haben einen wesentlich stärkeren Anstieg in der Betroffenheit durch Armut erfahren. Dies trifft insbesondere auf Kinder der neueren Einwandererkohorten vor allem aus Osteuropa zu (Abbildung 2; jeweils für gesamtdeutsche Armutsgrenze). Die Dauer je Armutsereignis beträgt für Kinder im Durchschnitt etwa 1,4 Jahre (). Die Mehrheit aller Kinder (ca. 6 %) verlässt diese zwar schon innerhalb von 12 Monaten nach Eintritt; jedes zehnte Armutsereignis dauert jedoch mindestens drei Jahre (Abbildungen 3 und 4). Hierbei sind keine signifikanten Unterschiede zwischen Ost und West sowie zwischen Deutschen und Ausländern festzustellen. Kinder können jedoch nicht nur einmal, sondern mehrmals hintereinander in Armut fallen. Jedes zweite Kind ist spätestens vier Jahre, nachdem es die Armut verlassen konnte, erneut davon betroffen. In Ostdeutschland liegt dieser Anteil sogar bei fast zwei Dritteln. Am prekärsten jedoch ist die Lage bei Kindern von allein Erziehenden (Abbildung 5). Während nur vier von 1 Kindern in Familien mit zwei Erwachsenen in Armut leben, trifft dies bei Kindern von allein Erziehenden auf vier von zehn Kindern zu. Mehr als jedes vierte Kind von allein erziehenden Eltern, das in einem Jahr nicht in Armut lebt, wird im darauf folgenden Jahr davon erneut betroffen sein. Nur 36 % aller in einem bestimmten Jahr in Armut lebenden Kinder von allein Erziehenden lebt im Jahr darauf in einer finanziell weniger prekären Situation. Die Dauer einer Armutsperiode beträgt für diese Kinder durchschnittlich 1,5 Jahre und für fast 3 % dauert eine solche Episode länger als 2 Jahre. Die Wahrscheinlichkeit, nach einem Austritt aus Armut nicht sofort wieder davon betroffen zu sein, ist bedeutend geringer als bei Kindern in Familien mit zwei Elternteilen. Es zeigt sich also folgendes: Familien mit einem allein erziehenden Elternteil weisen signifikant höhere Armutsraten auf, besitzen ein 241

größeres Risiko in Armut einzutreten, eine geringere Chance diese wieder zu verlassen und eine längere Verweildauer in Armut als Alleinstehende ohne Kinder oder Paare mit bzw. ohne Kinder. Für alleinstehende Erwachsene stellen Kinder somit potenziell ein erhöhtes Risiko für Armut dar. Dies gilt jedoch nicht per se für alle Familien. Für Paare mit und ohne Kind(er) lassen sich nämlich keine signifikanten Unterschiede in der Betroffenheit von Armut feststellen. 4Deutschland im internationalen Vergleich Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei Kinderarmut im Mittelfeld aller OECD-Staaten (UNICEF 5). An der Spitze befinden sich vor allem die skandinavischen Länder mit der geringsten (relativen) Kinderarmut, während die USA und Mexiko die Schlusslichter darstellen. Im letzen Jahrzehnt hatte die Mehrheit der OECD-Staaten, ähnlich wie Deutschland auch, einen Anstieg von Kinderarmut zu verzeichnen. Im Durchschnitt fiel dieser Anstieg jedoch geringer als in Deutschland aus (Abbildung 6). Interessant am Ländervergleich ist die unterschiedliche Wirkung staatlicher Transfers. Diese spielen für Kinderarmut eine wichtige Rolle. Ohne staatliche Transferleistungen wäre die Kinderarmutsrate in allen Ländern deutlich höher. In Deutschland beispielsweise läge die Kinderarmutsrate ohne staatliche Transfers im Jahr 1 bei ca. 18 % statt bei 1,2 % (Abbildung 7). Der armutsreduzierende Einfluss staatlicher Transfers ist jedoch seit der zweiten Hälfte der 9er Jahre zurückgegangen. Im Ländervergleich zeigt sich darüber hinaus, dass höhere Staatsausgaben für Familien im Durchschnitt mit niedrigeren Kinderarmutsraten einhergehen. Es wird allerdings auch deutlich, dass vor allem im Mittelfeld unterschiedlich hohe Summen für familienbezogene Transferleistungen ausgegeben werden, die daraus resultierenden Kinderarmutsraten jedoch relativ geringe Unterschiede aufweisen. Umgekehrt kann man erkennen, dass Länder mit ähnlich hohen Transferleistungen stark unterschiedliche Erfolge bei der Bekämpfung von Kinderarmut aufweisen. Dies lässt darauf schließen, dass nicht die Höhe allein, Abb. 6: Kinderarmut im Ländervergleich Mexiko USA Italien Neuseeland Irland Portugal Großbritannien Kanada Australien Japan Spanien Polen Griechenland Österreich Deutschland Niederlande Luxemburg Ungarn Belgien Frankreich Tschechien Schweiz Schweden Norwegen Finnland Dänemark Quelle: UNICEF (5). Zu-/Abnahme seit Anfang der 9er Jahre in Prozentpunkten Armutsrate in 1 in % -1 1 3 Abb. 7: Auswirkungen staatlicher Transfers auf Kinderarmut in Deutschland - - Westdeutschland Ostdeutschland 15,7 7,6 18,2 1,2 1991 1 1991 1 1991 1 Markteinkommen 12,7 7,3 16,5 9,8 25,1 8,3 Einkommen nach Steuern und Transfers 26,9 12,6 242

sondern vor allem die Art der Transfers und Unterstützungen entscheidend für deren Erfolg ist. Manche Länder könnten also unter Umständen allein durch Umschichtungen zwischen familienbezogenen Leistungen, ohne dabei deren Gesamtsumme zu erhöhen, niedrigere Kinderarmutsraten erreichen. In diesem Zusammenhang ist vor allem eine stärkere Verknüpfung von Transferleistungen mit dem Haushaltseinkommen ohne familienbezogene Leistungen zu nennen. Allerdings gilt es dabei zu bedenken, dass auch sonstige Faktoren wie die Arbeitsmarktentwicklung, der soziale und gesellschaftliche Wandel und die Anstrengung der Familienmitglieder selbst eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung von Kinderarmut spielen können. Für weiter reichende Empfehlungen zu einer Umschichtung der familienbezogenen Transferleistungen ist eine umfassendere Erforschung der Zusammenhänge zwischen Transfers und den für Kinderarmut verantwortlichen Entwicklungen im internationalen Vergleich notwendig. 5Schlussfolgerungen Die oben dargestellten Ergebnisse weisen darauf hin, dass die in Deutschland geführte Diskussion um Kinder als Armutsrisiko manchmal zu pauschal ist. Kinder von allein Erziehenden sind in der Tat disproportional stark von Armut betroffen. Bei einem Vergleich von Paaren mit und ohne Kinder lässt sich jedoch kein signifikanter Unterschied ausmachen. Kinder stellen folglich nicht per se ein Armutsrisiko dar. Darüber hinaus weisen die Befunde darauf hin, dass eine generelle Erhöhung staatlicher Transfers an Familien mit Kindern kein geeignetes Mittel zu sein scheint, um Kinderarmut zu bekämpfen, solange diese Transfers unabhängig vom Haushaltseinkommen gewährt werden. Vielmehr stellen Transfers an Bedürftige und eine stärkere Konzentration auf allein Erziehende eine erfolgversprechendere Alternative dar. Darüber hinaus erscheint es geboten, direkte finanzielle Transfers durch anderweitige Unterstützungsleistungen zu ergänzen. Hierbei sind insbesondere Betreuungsmöglichkeiten für allein Erziehende zu nennen, damit diese leichter am Arbeitsmarkt partizipieren können. LITERATUR Corak, M./Fertig, M./Tamm, M. (5): A Portrait of Child Poverty in Germany. RWI Discussion Papers 26, Essen Corak, M. (Hrsg.) (4): Generational Income Mobility in North America and Europe, Cambridge UNICEF (5): Child Poverty in Rich Countries, 5. Innocenti Report Card 6, UNICEF Innocenti Research Center, Florenz 243