Der Zug nach Westen Anhaltende Abwanderung



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Transkript:

Wanderungen zwischen dem früheren Bundesgebiet und der DDR bzw. den neuen Ländern* Angaben in Tausend Tsd. 400.000 350.000 388.396 383.261 395.343 359.126 Wanderungssaldo des früheren Bundesgebietes gegenüber den neuen Ländern (einschl. Berlin Ost) Zuzüge in die neuen Länder (einschl. Berlin Ost) aus dem früheren Bundesgebiet 300.000 302.808 Zuzüge aus den neuen Ländern (einschl. Berlin Ost) ins frühere Bundesgebiet 262.822 247.751 249.743 250.000 230.227 222.322 214.456 216.165 199.170 195.530 195.216 200.000 182.478 185.878 175.088173.602 166.007. 169.476 163.034 151.750 153.179 150.000 135.774 139.412 151.973 151.943 133.349 138.615 122.918 137.517 127.996 111.345 91.612 100.000 80.267 87.825 76.753 61.277 43.587 52.529 50.684 39.986 50.000 36.217 27.260 30.728 57.699 25.429 20.664 18.58215.774 47.092 14.214 2.082 1.560 5.135 0 14.034 1950 1960 1970 1980 1989 1990 1991 1992 1994 1996 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 Jahr * 2001-2006 früheres Bundesgebiet ohne Berlin West, neue Länder einschließlich Berlin Quelle: Datenreport 2008, S. 16 Lizenz: Creative Commons by-nc-nd/3.0/de; Bundeszentrale für politische Bildung, 2010, www.bpb.de Seite 1

1. Der Osten Deutschlands: traditionell eine Abwanderungsregion Ein durchgängiges Merkmal der DDR war die hohe Abwanderungsbereitschaft ihrer Bürger. Die Wende von 1989/90 und die anschließende Wiedervereinigung haben den Westwärts-Trend der Ostdeutschen nur zeitweise stoppen können. Ostdeutschland ist weiterhin durch sinkende Bevölkerungszahlen gekennzeichnet. Gewandelt haben sich allenfalls die Beweggründe der Wanderungswilligen; nicht mehr, wie vormals, politische Motive spielen eine Rolle, sondern es sind nunmehr hauptsächlich wirtschaftliche Erwägungen, welche die Wanderungswilligen leiten. Vor allem der massive Abbau von Arbeitsplätzen und die insgesamt nach wie vor prekäre Situation auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt geben den Anstoß zum Ortswechsel von Ost nach West. Betrachtet man den gesamten Zeitraum von 1949 bis heute, lassen sich drei Abwanderungswellen unterscheiden: einmal von 1949 bis 1961; sodann von 1989 bis 1994 und schließlich ab dem Jahr 2000. Die DDR als Auswanderungsland, Wanderungsgewinne für Westdeutschland Die DDR stellt einen Sonderfall unter den Industriegesellschaften dar, weil sie durchgehend eine negative Bevölkerungsentwicklung aufwies. Zwischen 1948 und 1989 sank die Einwohnerzahl von 19,1 Mio. auf 16,4 Mio. Dieser Rückgang ist zum großen Teil auf Abwanderung zurückzuführen, nur teilweise auch auf einen Geburtenrückgang Anfang der 70er Jahre. Die DDR war also zeitlebens ein Auswanderungsland (Geißler 2006, S. 43). Nach der Staatsgründung 1949 verließen in den 50er Jahren jedes Jahr mehrere hunderttausend Menschen die DDR in Richtung Bundesrepublik. Zwar gab es auch Mobilität in entgegengesetzter Richtung, aber nur in einem beschränkten Maße (vgl. Diagramm Wanderungen zwischen dem früheren Bundsgebiert und der DDR ). Ein Höhepunkt der ersten Abwanderungswelle wurde 1953, im Jahr des Volksaufstand vom 17. Juni, mit 331.000 Flüchtlingen erreicht. Gründe für die Abwanderung können in Unzufriedenheit mit der politischen Situation, in besseren beruflichen Möglichkeiten im Westen und in Zwangsmaßnahmen wie der Kollektivierung der Landwirtschaft gesehen werden. Für Staat und Gesellschaft der DDR war die soziale Zusammensetzung der DDR-Flüchtlinge ungünstig: Bevorzugt jüngere, gut ausgebildete Menschen, darunter viele Spezialisten wie Ärzte und Ingenieure, kehrten dem Land den Rücken. Diese soziale Ausdünnung durch Migration führte langfristig zu einer Überalterung der DDR-Bevölkerung (Rytlewski/Opp de Hipt 1987, S. 20). Ungefähr die Hälfte der Auswanderer laut offizieller Sprachregelung des Regimes handelte es sich überwiegend um Republikflüchtlinge war jünger als 25 Jahre. Es wird geschätzt, dass die DDR in den 50er Jahren etwa ein Drittel ihrer Akademiker verlor (Geißler 2006, S. 64). Diese große Abwanderung von Akademikern und Fachkräften hatte durchaus positive Wirkungen in Westdeutschland: Mit dem beginnenden Wirtschaftswunder herrschte ein hoher Bedarf zumal an qualifizierten Arbeitskräften, und auch auf speziellen Arbeitsmärkten gab es keine Probleme mit der beruflichen Integ- Seite 2

ration von DDR-Flüchtlingen. Diese demographischen Prozesse wirkten sich für die DDR negativ aus, für die Bundesrepublik waren sie ein Gewinn. Zum Beispiel stieg in der DDR die durchschnittliche Patientenzahl pro Arzt bis 1961 auf 1.400 an, und das trotz schrumpfender Bevölkerung. In der Bundesrepublik lag sie hingegen im selben Zeitraum bei 800 und sank dann weiter auf 600 (Wehler 2008, S. 45). Der Historiker Hans-Ulrich Wehler schätzt, dass in der Bundesrepublik durch die Zuwanderung von bereits schulisch und beruflich qualifizierten DDR-Bürgern Ausgaben für Bildung und Ausbildung in Höhe von 30 Mrd. DM eingespart worden sind (2008, S. 45). Während der ersten Abwanderungswelle 1949-61 verließen etwa 2,7 Mio. Menschen die DDR. Diese massenhafte Abstimmung mit den Füßen wurde schließlich zum existenziellen Problem für die DDR, das ab August 1961 von der Staatsführung durch die strikte Abriegelung der Grenzen gelöst wurde. Danach gingen die Zahlen von DDR-Flüchtlingen drastisch zurück. Trotzdem haben aber im Zeitraum 1962-88 noch einmal 625.000 Personen die DDR verlassen. Die meisten dieser Migranten taten dies legal im Rahmen von bewilligten Ausreiseanträgen. Das Ende der DDR wurde von der zweiten Abwanderungswelle begleitet. Durch die Entwicklungen in angrenzenden sozialistischen Ländern setzte 1988/89 eine Massenflucht ein, die sich zunächst einen Weg über Ferienreisen in das befreundete Ausland (Ungarn, CSSR, Polen) suchte und bis Ende 1989 gegen 880.000 Menschen umfasste. Wehler (2008, S. 45) kommt zu dem Fazit: Vom Gründungsjahr 1949 bis zur Auflösung der DDR [ ] sind nicht weniger als 4,6 Mio. Menschen unter z.t. äußerst riskanten Umständen nach Westen geflüchtet. Dies entspricht ungefähr einem Viertel der DDR-Bevölkerung im Jahre 1950. Die zweite und dritte Abwanderungswelle: Ostdeutschland verliert gebildete junge Frauen Mit der deutschen Einheit waren die Wanderungsbewegungen nicht mehr behördlich beschränkt. Sie wurden zur normalen Mobilität zwischen neuen und alten Bundesländern (vgl. Diagramm Binnenwanderungssaldo der Länder ). In dieser gewandelten Situation setzte sich die zweite Welle der Abwanderung aus dem Osten fort (vgl. Diagramm Wanderungen zwischen dem früheren Bundsgebiert und der DDR ). In den folgenden vier Jahren verließen fast 1,4 Mio. Bürger ihre ostdeutschen Herkunftsländer. Gleichzeitig zogen jetzt aber auch vermehrt Westdeutsche in Richtung Osten. Doch die gesamten Austauschsalden für Ostdeutschland blieben immer negativ. Bis Mitte der 90er Jahre schwächte sich die Abwanderung von Ostdeutschen wieder ab. In einigen Altersgruppen kam es in dieser Zeitspanne sogar zu Wanderungsgewinnen. So wurden Mobilitätsüberschüsse in Ostdeutschland zeitweise für jüngere Menschen in der Altersgruppe 25-30 Jahre verbucht (Friedrich/Schultz 2005, S. 204). Ab Ende der 90er Jahre setzte aber eine dritte Wanderungswelle ein. Seitdem ziehen vermehrt junge Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen, und darunter insbesondere Frauen, fort. Seite 3

18-30-Jährige stellen 40 Prozent aller Abwanderer gen Westen und 55 Prozent aller seit 1989 abgewanderter Personen waren weiblich (vgl. Kröhnert 2009, S. 91). Die Gründe für dieses Ost- West-Mobilitätsgefälle sind in den Arbeitsmarktproblemen sowie den schlechten Berufs- und Verdienstmöglichkeiten im Osten zu sehen. Gemäß Befragungen unter ehemaligen Ost-Bürgern ist davon auszugehen, dass es sich um bleibende Bevölkerungsverluste handelt, weil die strukturellen Ursachen für die Abwanderung sich nicht verändert haben und auf längere Sicht sich nicht grundlegend verändern werden (Friedrich/Schultz 2005, S. 212). In der Folge hat sich in den neuen Bundesländern ein Frauendefizit bei jungen Erwachsenen herausgebildet, das so großflächig in der Europäischen Union sonst nicht vorkommt (vgl. Kröhnert 2009, S. 92). Die Tatsache, dass so viele junge und weibliche Personen abwandern, wird ebenso wie nach der ersten Abwanderungswelle in der DDR eine weitere Überalterung der ostdeutschen Bevölkerung verstärken (Luy 2009, S. 61). Durch Wanderungsverluste haben die ostdeutschen Bundesländer im Zeitraum von 1990 bis 2006 rund 1,2 Mio. Bürger verloren. Dies entspricht etwa 7,5 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung im Jahre 1990. In der Summe demografischer Veränderungen ergeben sich noch höhere Schrumpfungsraten für die ostdeutschen Bundesländer (vgl. Diagramm Veränderungen im Bevölkerungsbestand ). Im Durchschnitt von Fort- und Zuzügen verließen seit der deutschen Einheit jedes Jahr 45.000 Männer und 51.500 Frauen den Osten der Republik (Luy 2009, S. 61). Aus sozialwissenschaftlicher Sicht kann die Ost-West-Wanderung als aussagekräftiger Indikator für den Stand der deutschen Vereinigung angesehen werden (Schubarth/Speck 2009, S. 256). Wenn die Arbeitsmarktunterschiede als Motor der Wanderungsprozesse in Rechnung gestellt werden, lautet das Fazit in den Worten des Wirtschaftshistorikers Jörg Roesler: Bis 1961 funktionierte der gesamtdeutsche Arbeitsmarkt noch, seit 1990 funktioniert er wieder beide Male zuungunsten des Ostens (Roesler 2005). 2. Gesellschaftliche und politische Effekte der Abwanderung Die überdurchschnittlich hohe Abwanderung qualifizierter junger Menschen wird nicht nur den künftig auftretenden Fachkräftemangel ostdeutscher Betriebe verschärfen. Darüber hinaus kommt es in der regional unterschiedlich betroffenen ostdeutschen Bleibegesellschaft zu negativen sozialen und politischen Effekten. Die nachteiligen Auswirkungen des Männerüberschusses auf Partnersuche und Familiengründung, Kriminalität und Wahlverhalten sind jetzt schon dokumentiert (vgl. Bertelsmann-Stiftung 2006, Berlin-Institut 2007) und dürften sich, sofern der Trend anhält, noch weiter verstärken. Autor Bernd Martens, SFB 580 (Jena/Halle) Seite 4

Literaturhinweise Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Not am Mann. Vom Helden der Arbeit zur neuen Unterschicht? Lebenslagen junger Erwachsener in wirtschaftlichen Abstiegsregionen der neuen Bundesländer, Berlin 2007. Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Wegweiser Demographischer Wandel 2020. Analysen und Handlungskonzepte für Städte und Gemeinden, Gütersloh und Bonn 2006. Friedrich, K./Schultz, A., Mit einem Bein noch im Osten? Abwanderung aus Ostdeutschland in sozialgeographischer Perspektive, in: Dienel, C. (Hrsg.), Abwanderung, Geburtenrückgang und regionale Entwicklung. Ursachen und Folgen des Bevölkerungsrückgangs in Ostdeutschland, Wiesbaden 2005, S. 203-216. Geißler, R., Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz der Vereinigung, Wiesbaden 4. Aufl. 2006. Kröhnert, S., Analysen zur geschlechtsspezifisch geprägten Abwanderung Jugendlicher, in: Schubarth, W./Speck, K. (Hrsg.), Regionale Abwanderung Jugendlicher, Weinheim 2009, S. 91-110. Luy, M., Empirische Bestandsaufnahme der Bevölkerungsentwicklung in Ost- und Westdeutschland, in: Schubarth, W./Speck, K. (Hrsg.), Regionale Abwanderung Jugendlicher, Weinheim 2009, S. 43-67. Rytlewski, R./Opp de Hipt, M., Die Deutsche Demokratische Republik in Zahlen 1945/49-1980, München 1987. Roesler, J., Rezension zu: Mai, Ralf: Abwanderung aus Ostdeutschland. Strukturen und Milieus der Altersselektivität und ihre regionalpolitische Bedeutung. Frankfurt am Main 2004, in: H-Sozu-Kult, 04.02.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-094>. Schubarth, W./Speck, K., Abwanderung Jugendlicher und demografischer Wandel was tun?, in: Schubarth, W./Speck, K. (Hrsg.), Regionale Abwanderung Jugendlicher, Weinheim 2009, S. 253-258. Wehler, H.-U., Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band. Bundesrepublik und DDR 1949-1990, München 2008. Seite 5

Binnenwanderungssaldo der Länder in den Jahren 1991 bis 2006 Angaben in Tausend Niedersachsen -454 Sachsen Sachsen-Anhalt Thüringen Mecklenburg-Vorpommern Berlin Bremen Saarland Brandenburg -263-261 -173-154 -134-23 -16 0 Hamburg Schleswig-Holstein Hessen 30 67 138 Nordrhein-Westfalen Baden-Württemberg Rheinland-Pfalz 198 208 225 Bayern 595-400 -300-200 -100 0 100 200 300 400 500 600 Tsd. Quelle: Statistisches Bundesamt Lizenz: Creative Commons by-nc-nd/3.0/de; Bundeszentrale für politische Bildung, 2010, www.bpb.de Seite 6

Veränderung im Bevölkerungsbestand nach Bundesländern in den Jahren 1990 bis 2006 Angaben in Prozent Sachsen-Anhalt Mecklenburg-Vorpommern Thüringen Sachsen Saarland Bremen Brandenburg Berlin Nordrhein-Westfalen Hessen Hamburg Rheinland-Pfalz Schleswig-Holstein Niedersachsen Bayern Baden-Württemberg -13,2-12 -11,5-10,8-2,8-2,6-1,2-0,9 3,9 5,4 6,2 7,7 7,9 8,1 9,1 9,3-12 -9-6 -3 0 3 6 9 Prozent Quelle: Statistisches Bundesamt Lizenz: Creative Commons by-nc-nd/3.0/de; Bundeszentrale für politische Bildung, 2010, www.bpb.de Seite 7