Charakterisierung von Biobanken im Hinblick auf Gesundheitspolitik und Medizin



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Transkript:

Charakterisierung von Biobanken im Hinblick auf Gesundheitspolitik und Medizin Gutachten im Auftrag des Deutschen Bundestages vorgelegt dem Büro für Technikfolgen - Abschätzung (TAB) Uta Wagenmann Gen-ethisches Netzwerk Brunnenstraße 4, 10119 Berlin Tel: 030 685 60 88 gen@gen-ethisches-netzwerk.de Berlin, November 2005

INHALT KURZZUSAMMENFASSUNG...3 EINFÜHRUNG...6 A Aufbau des Gutachtens...7 B Methode...8 Teil I: DIE BEDEUTUNG VON BIOBANKEN FÜR WISSENSCHAFT UND MEDIZIN...9 1 Biobanken und Krankheitsverständnis...11 1.1 Bevölkerungsweite Biobanken...14 1.2 Krankheitsbezogene Biobanken...16 1.3 Gen-Gen- und Gen-Umwelt-Interaktionsstudien...17 1.4 Zusammenfassung...20 2 Die Bedeutung genetisch-epidemiologischer Forschungsergebnisse für die Medizin...21 2.1 Targets für neue Medikamente...22 2.2 Stratifizierung von Patientengruppen und pharmakogenetische Tests...23 2.3 Individuelle Erkrankungsrisiken und Prävention...26 2.4 Zusammenfassung...29 3 Die Notwendigkeit von Biobanken für Wissenschaft und Medizin...30 Teil II DIE BEDEUTUNG VON BIOBANKEN FÜR GESUNDHEITSPOLITIK UND ÖKONOMIE...34 4 Forschungspolitik und ökonomische Zielsetzungen in der Bundesrepublik...34 4.1 Ziele und Strukturen im Nationalen Genomforschungsnetz...38 4.2 Ziele und Strukturen der Kompetenznetze...40 4.3 Die Bedeutung der Förderpolitik für den Betrieb von Biobanken...42 4.4 Zusammenfassung...47 5 Estland und das Nationale Genomprojekt...48 5.1 Das estnische Biobank-Projekt...48 5.2 Wirtschafts- und strukturpolitische Strategien und das Biobankprojekt...52 5.3 Öffentliche Gesundheit und das Biobankprojekt...58 5.4 Zusammenfassung...63 6 Biobanken im Spannungsfeld forschungs- und gesundheitspolitischer Erwartungen...64 Anhang 1: Interviewleitfaden...69 Anhang 2: Einbezogene Forschungsprojekte und verbünde...70 LITERATUR...72 ABKÜRZUNGEN...79 2

KURZZUSAMMENFASSUNG Die Entstehung weit verbreiteter, komplexer Erkrankungen wird heute auf ein Zusammenspiel genetischer Dispositionen mit Umwelteinflüssen und Lebensgewohnheiten zurückgeführt. Der derzeit dominante Ansatz in der Forschung nach Krankheitsursachen, die genetische Epidemiologie, ist auf umfangreiche Proben- und Datensammlungen angewiesen, um mittels Korrelation beziehungsweise Assoziation Genvarianten mit diesen Erkrankungen statistisch signifikant in Verbindung bringen zu können. Funktion und Bedeutung von Genvarianten ebenso wie molekulare Pathways bei der Entstehung komplexer Erkrankungen werden dabei zumeist erst in Ansätzen verstanden. Die Forschung mit Biobanken hat daher den Charakter von Grundlagenforschung. Der Umfang der Sammlungen tendiert systematisch zur Ausweitung: Aufgrund der Komplexität weit verbreiteter Erkrankungen wächst die benötigte Anzahl an Proben und Daten in dem Maße, in dem genetische zu anderen Krankheitsrisiken in Beziehung gesetzt und statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen Interaktionen von Genen und Umwelteinflüssen mit Erkrankungshäufigkeiten hergestellt werden sollen. Grundsätzliche Zweifel an der zentralen Ausrichtung der medizinischen Forschung auf die genetische Epidemiologie sind angebracht, weil die Entstehung weit verbreiteter Krankheiten sich durch ein dynamisches Wechselspiel zwischen sehr unterschiedlichen Einflüssen und Bedingungen auszeichnet. Es ist fraglich, ob mit der Assoziation von Genvarianten, Interaktionen zwischen Genen oder zwischen Genen und Umwelteinflüssen mit Krankheit ein probater Weg gefunden ist, diese Erkrankungen in ihrem komplexen Entstehungs- und Wirkungsgefüge zu verstehen. Der Ansatz reduziert das komplexe Krankheitsgeschehen auf ein Zusammenspiel statistisch operationalisierbarer Faktoren und ist deshalb wenig geeignet, der sozialen, psychischen und personalen Wirklichkeit von Krankheit gerecht zu werden. Da es sich um Grundlagenforschung handelt, kann die Bedeutung der genetischen Epidemiologie für die Medizin nicht abschließend bewertet werden. Der praktische Wert der Forschungsergebnisse für eine bessere Behandlung und Versorgung von Patienten ist bisher allerdings gering geblieben. Weil Nebenwirkungen von Medikamenten nicht allein von genetischen Faktoren abhängen, stehen nur wenige pharmakogenetische Tests vor der klinischen Anwendung. Selten konnten bisher auch Medikamente auf der Basis genetisch-epidemiologischer Studien entwickelt werden. Sie wirken nur bei einem sehr kleinen Teil der jeweiligen Patientengruppe, weil Ziel- 3

moleküle für neuartige Wirkstoffe vor allem bei sehr seltenen Formen einiger weit verbreiteter Erkrankungen gefunden wurden, bei denen molekulare Besonderheiten eine wesentliche Rolle spielen. Ob umfangreiche Biobanken für diese Forschungen unerlässlich sind, kann solange nicht beantwortet werden, wie andere Ansätze zur Entdeckung molekularer Targets nicht realisiert werden. Ergebnisse aus der Forschung mit Biobanken finden vor allem in Form von Aussagen über Erkrankungsrisiken und wahrscheinlichkeiten Eingang in die medizinische Praxis. Im Gegensatz zu den Aussagen der klassischen Epidemiologie quantifizieren genetische Tests die individuelle Wahrscheinlichkeit zu erkranken. Solche individuellen Risikoberechnungen haben weder positive Effekte auf die Behandlung und Versorgung von Patienten, noch verbessern sie die Lebenswirklichkeit gesunder Menschen substanziell. Dem geringen praktischen Nutzen der genetisch-epidemiologischen Forschung steht eine Forschungspolitik gegenüber, die Aufbau und Betrieb von Biobanken großzügig fördert. Wirtschafts- und strukturpolitische Zielsetzungen stehen dabei im Vordergrund. Die Umsetzung der Strategie der wissensbasierten Gesellschaft in die Förderpolitik überführt biomedizinische Grundlagenforschung in marktförmige Strukturen. Biobanken sind dabei Ausgangspunkt und Instrument eines Prozesses, der auf die Entfaltung ökonomischer Potenziale der Forschung gerichtet ist. Sie bieten nicht nur die notwendige Infrastruktur für die Assoziation von Genvarianten mit komplexen Erkrankungen, sondern fungieren auch als Basis für unternehmerische Aktivitäten der sie tragenden Forschungsverbünde und -institutionen und als Reservoir für verwertbare Ergebnisse. Dass diese Ergebnisse vor allem in Wahrscheinlichkeitsaussagen über individuelle genetische Erkrankungsrisiken bestehen, ist dem Ansatz der genetischen Epidemiologie inhärent. Ihre praktische Umsetzung in Form genetischer Tests wird mit den durch die Förderpolitik entstehenden Forschungsstrukturen befördert und beschleunigt. Hinzu kommen die gesundheitsökonomischen Potenziale der Forschung an genetischen Dispositionen für weit verbreitete Erkrankungen. Das Konzept der genetischen Risikoprävention hat die Macht eines Leitbildes entwickelt, dessen Wirkungen zum Teil über die Medizin hinaus reichen. Neben der Entwicklung gesundheitspolitischer Strategien wie der frühzeitigen Feststellung individueller genetischer Risiken und einer darauf abgestimmten Prävention generiert dieses Leitbild auch sozialethische Vorstellungen, die Grundlagen von Gesellschaft wie Solidarität und Autonomie in Frage stellen. 4

Vor dem Hintergrund des geringen praktischen Wertes der Forschung mit Biobanken und den weit reichenden sozialen und gesellschaftlichen Implikationen individueller Risikoberechnungen sind Aufbau und Betrieb von Biobanken gründlich zu überdenken. Eine offene und ernsthafte gesellschaftliche Diskussion der verfolgten wissenschaftlichen Zielsetzungen, des medizinischen Wertes der zu erwartenden Ergebnisse und deren Verbindung mit wirtschafts- und gesundheitspolitischen Zielsetzungen ist deshalb dringend geboten. 5

EINFÜHRUNG Auf Sammlungen von Gewebeproben oder klinischen Daten stützt sich die medizinische Forschung schon lange. Vor dem Hintergrund des mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms einher gehenden Paradigmenwechsels in der Genetik 1 entstand in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ein neuer Typ von Proben- und Datensammlungen für die medizinische Forschung, der heute unter der eher unspezifischen Bezeichnung Biobanken diskutiert wird. Charakteristisch für diese neuen, im Aufbau befindlichen Biobanken ist zum einen, dass der anvisierte Umfang der Sammlungen die in klinischen Studien übliche Anzahl an Probanden erheblich übersteigt. Zum anderen werden in Biobanken diesen Typs nicht nur Gewebe- bzw. Blutproben gelagert, sondern auch eine Vielzahl von Daten erhoben; neben DNA und klinischen Daten können das Angaben über Erkrankungen in der Familie oder Ernährungsgewohnheiten sein, über Alkohol- und Nikotinkonsum oder den Lebensstil der Teilnehmer. Wesentliches Merkmal und zugleich Zweck der Sammlungen ist, dass alle erhobenen Daten miteinander verbunden und zueinander in Beziehung gesetzt werden können. 2 Sie sollen als Basis für die Forschung an den weit verbreiteten, sogenannten Volkskrankheiten dienen: für populationsbasierte Assoziationsstudien und für Forschungen zu Gen-Gen- und Gen-Umwelt-Interaktionen. Grundsätzlich wird in der Diskussion zwischen bevölkerungsweiten und krankheitsbezogenen Biobanken unterschieden. Diese Unterscheidung ist insofern irreführend, als sie Differenzen suggeriert, die nicht bestehen. - Bevölkerungsweite und krankheitsbezogene Biobanken unterscheiden sich nicht im Umfang. Die Anzahl der Proben und Daten in krankheitsbezogenen kann die in bevölkerungsweiten Biobanken übersteigen und umgekehrt. 3 - Krankheitsbezogene Biobanken werden durchaus für die Forschung an anderen Erkrankungen genutzt. 4 1 2 3 Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms revolutionierte das klassische Paradigma der Genetik, ein Gen kodiere für ein einziges Enzym. Da die Anzahl der Gene des Menschen sich nur unwesentlich von der weitaus weniger komplexer Lebewesen unterscheidet und die Anzahl der Enzyme sehr viel größer als die der Gene ist, hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass Gene und ihre Varianten nur einen wenn auch wichtigen Faktor unter anderen bei der Entstehung der allermeisten Krankheiten darstellen. Insbesondere die weit verbreiteten, sogenannten Volkskrankheiten gelten als multifaktoriell als Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels genetischer mit nichtgenetischen Faktoren, das heißt, Umweltbedingungen, Ernährungsgewohnheiten, psychischen Belastungen oder, allgemeiner, dem Lebensstil. Vgl. Schneider 2002, 39 So sind beispielsweise in dem bevölkerungsweiten Projekt in Estland etwa 10.000 Proben gelagert, während in München etwa 15.000 Proben und Datensätze zu atopischen Erkrankungen bei Kindern vorgehalten werden. 6

- Für die populationsweite Validierung von genetischen Hypothesen werden nicht nur krankheitsbezogene, sondern in Abhängigkeit von Erkrankung und Hypothese auch bevölkerungsweite Sammlungen verwendet. 5 Die Differenzierung in krankheitsbezogene und bevölkerungsweite Biobanken lässt außerdem die für Forschungsprojekte zu einzelnen Erkrankungen notwendigen Kontrollgruppen außer acht. Sie werden auf vielfältige Weise aus der Normalbevölkerung rekrutiert, etwa über Einwohnermeldeämter oder über die Nutzung von Blutspenden. 6 A Aufbau des Gutachtens Die Aussicht auf sowohl in quantitativer wie qualitativer Hinsicht umfassende Datensammlungen hat eine anhaltende Diskussion über Risiken und Potenziale von Biobanken provoziert, in deren Verlauf sich eine Reihe bisher ungelöster rechtlicher und ethischer Fragen herauskristallisiert hat. Aufgabe des vorliegenden Gutachtens war es, die Bedeutung von Biobanken für Wissenschaft und Medizin sowie für das Gesundheitssystem abzuschätzen. Im ersten Teil des Gutachtens geht es um die Notwendigkeit von Biobanken für den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt und die Bedeutung der gewonnenen Erkenntnisse für die Medizin (Teil I). Auf dem Prüfstand stand zum einen die Bedeutung der Sammlungen für die Forschung, zum anderen die Relevanz der mit ihnen gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse für Versorgung und klinischen Alltag. Der zweite Teil des Gutachtens beschäftigt sich mit den Perspektiven, die aus wirtschafts-, struktur- und forschungspolitischer Sicht mit Biobanken verbunden werden (Teil II). Hier wurde untersucht, in welchem Verhältnis Aufbau, Betrieb und Nutzung der Sammlungen zu den Zielsetzungen von Gesundheits- und Forschungspolitik stehen und welche Konsequenzen für das Gesundheitssystem damit verbunden sind. Zu diesem Zweck wurden neben Zielsetzungen und Gegenständen staatlicher Forschungsförderung in der Bundesrepublik auch die politischen und sozialen Hintergründe des estnischen Biobankprojektes untersucht. 4 5 6 So wird zurzeit beispielsweise eine Kooperation des NGFN-Forschungsprojektes Alkoholismus und affektive Störungen mit dem Heidelberger Krebsforschungszentrum vorbereitet, um eine bestehende Proben- und Datensammlung von Brustkrebspatientinnen, die unter anderem auch zu Lebensgewohnheiten befragt wurden, für die Forschung an genetischen Grundlagen von affektiven Störungen zu nutzen. Das trifft insbesondere für psychische Erkrankungen zu. Im NGFN-Projekt Erforschung von Kandidatengenen bei Alkoholismus und affektiven Störungen beispielsweise wurden Kollektive über die Einwohnermeldeämter rekrutiert. Quelle: Telefoninterviews (M. Rietschel), s. Anhang 2, S. 70 f. Quelle: Telefoninterviews (K.J. Osterziel, J. Oldenburg, M. Rietschel), s. Anhang 2, S. 70 f. 7

B Methode Um einen differenzierten und zugleich möglichst umfassenden Überblick über die Bedeutung verschiedener Biobanken für Forschung, klinischen Alltag und Gesundheitssystem zu erlangen, wurden folgende Arbeitsschritte unternommen: Literaturrecherche Fachzeitschriften wurden nach Veröffentlichungen zum genetisch-epidemiologischen Ansatz bei weit verbreiteten Erkrankungen im allgemeinen und Publikationen aus der Forschung zur Genetik dieser Krankheiten im besonderen ausgewertet. Interviews mit an genetisch-epidemiologischen Forschungsprojekten beteiligten Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen Die Auswahl beschränkte sich auf Projekte aus dem Nationalen Genomforschungsnetz (NGFN) und den Kompetenznetzen in der Medizin (KN), weil Aufbau und Betrieb von Biobanken in der Bundesrepublik vorwiegend in diesen beiden Strukturen stattfinden. 7 Recherche der öffentlich formulierten Ziele des BMBF für die Forschungsförderung Dabei ging es darum, konkrete Begründungen und Kriterien für die Forschungsförderung im Rahmen des NGFN und der Kompetenznetze unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung, die Biobanken bei der Formulierung dieser Ziele zugewiesen wird, zusammenzufassen. Interview mit den Betreibern des estnischen Biobankprojektes Das Interview diente der Beschaffung detaillierter Hintergrundinformationen über das Projekt. Gespräche mit der Staatssekretärin für Gesundheit im Sozialministerium der Republik Estland, dem Direktor des Nationalen Instituts für Gesundheitsentwicklung und einer Vertreterin des Ethikzentrums an der Universität Tartu In den Gesprächen wurden die gesundheitspolitischen und ökonomischen Zielsetzungen der estnischen Regierung bei der Unterstützung des Biobankprojektes und ihre derzeitigen Erwartungen an das Projekt und seine Perspektiven thematisiert. 7 Zu den Fragen vgl. Interview-Leitfaden, Anhang 1, S. 69; einbezogene Forschungsverbünde vgl. Anhang 2, S. 70 f. Die Kriterien für die Auswahl der Projekte werden weiter unten näher erläutert, s. S. 9 f. 8

Teil I: DIE BEDEUTUNG VON BIOBANKEN FÜR WISSENSCHAFT UND MEDIZIN Das 1988 gestartete Projekt zur Kartierung und Sequenzierung des menschlichen Genoms markiert den Beginn einer Neuorientierung in der medizinischen Forschung. Im Verlauf der sogenannten Entschlüsselung verschob sich der Blick in der Forschung nach den Ursachen von Erkrankungen nahezu vollständig auf die molekulare und genetische Ebene. Im Zentrum der Forschung steht dabei weniger die Qualität molekularbiologischer und genetischer Prozesse im Krankheitsgeschehen; die Forschung mit Biobanken ist vor allem darauf gerichtet, den Anteil der Genetik am Krankheitsausbruch zu quantifizieren. In diesem Teil des Gutachtens wird die Bedeutung von Biobanken für Wissenschaft und Medizin untersucht. Dabei geht es zum einen darum, den Beitrag der mit Hilfe von Biobanken gewonnenen Erkenntnisse zum Verständnis von Krankheitsursachen zu ermessen. Zum anderen zielt die Untersuchung darauf ab, welche Bedeutung diese Erkenntnisse für die Behandlung und Versorgung von Patienten haben. Zu diesem Zweck wurden neben der Literaturrecherche telefonische Interviews mit an genetisch-epidemiologischen Forschungsprojekten beteiligten Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen geführt. 8 Um den Rahmen des Vorhabens nicht zu überdehnen, wurden ausschließlich im Rahmen des Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN) und der Kompetenznetze in der Medizin (KN) geförderte Projekte ausgewählt; die Auswahl richtete sich in der Reihenfolge ihrer Nennung nach folgenden Kriterien: a) häufiges Vorkommen der im jeweiligen Projekt untersuchten Erkrankung in der Bevölkerung (sogenannte Volkskrankheiten); bei der Auswahl der Projekte stand dieses Kriterium an erster Stelle, denn bei weit verbreiteten Erkrankungen ist der genetisch-epidemiologische Zugang zum Verstehen der Krankheiten mit besonderen Schwierigkeiten behaftet: Weit verbreitete Erkrankungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch ein komplexes Wechselspiel zwischen verschiedensten Einflüssen verursacht werden. Zudem stellt sich hier die Frage des praktischen Nutzens genetischer Forschung besonders dringend, da langjährige, klinische Erfahrungen mit ihrer Behandlung bestehen und in der Regel Präventionsmaßnahmen und Therapien existieren. 8 Zu den Fragen vgl. Interview-Leitfaden, Anhang 1, S. 69; einbezogene Forschungsverbünde vgl. s. Anhang 2, S. 70 f. 9

b) Erfolge genetisch-epidemiologischer Forschung / Publikationen; dieses Kriterium war wesentlich, um Erkenntnisse bei der Erforschung einzelner Erkrankungen abschätzen und zu Erwartungen an die genetisch-epidemiologische Forschung in Beziehung setzen zu können. c) Größe der für das Projekt genutzten Proben- und Datensammlung d) Vollständigkeit des Überblicks; es sollten möglichst viele verschiedene Fragestellungen und Studiendesigns der genetisch-epidemiologischen Forschung in die Befragung einbezogen werden. Um einen vollständigen Überblick zu erlangen, wurden zudem die wissenschaftlichen Leiter zweier Forschungsverbünde befragt, die sich mit sehr seltenen Erkrankungen befassen. e) Erreichbarkeit der wissenschaftlichen Leitung; dieses Kriterium ergab sich notwendig aus der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit für die Bearbeitung der Aufgabenstellung des Gutachtens. Forschungen im Rahmen des NGFN und der KN zu verschiedenen Krebsformen wurden in das vorliegende Gutachten nicht einbezogen. 9 Für die Untersuchung der Bedeutung von Biobanken für diesen Forschungsbereich ist aufgrund der Komplexität des Themas eine gesonderte Untersuchung notwendig. Nur am Rande berücksichtigt wurden außerdem die seltenen Krankheiten, da sich hier aus der Sammlung von Proben und Daten andere Fragen und Probleme ergeben als bei weit verbreiteten Erkrankungen. 10 Aufgrund der seltenen Fallzahlen ist die Errichtung einer Biobank hier zudem sehr aufwändig. 11 Weitere Fragen ergeben sich aus dem Umstand, dass die Erhebung von Daten zu den einzelnen Erkrankungen zumeist europaweit vernetzt erfolgt. 9 10 11 Konkret außer acht gelassen wurden in dem vorliegenden Gutachten die Genomnetze Cancer Net, Gehirntumoren und Neuroblastom sowie die Kompetenznetze Pädiatrische Onkologie und Hämatologie, Akute und chronische Leukämien und Maligne Lymphome. Der Umfang der einzelnen Sammlungen in der Bundesrepublik übersteigt bislang selten 1000 Proben. Da sie in der Regel von Veränderungen eines einzelnen Gens ursächlich hervorgerufen werden, ist die Forschung an der Genetik dieser Erkrankungen mit besonders großen Hoffnungen verbunden, zumal nur selten Therapien existieren. Zudem geht das Interesse der Industrie an Grundlagenforschung im Bereich der seltenen Erkrankungen und damit auch an den in Biobanken lagernden Zelllinien gegen Null, solange sich nicht therapeutische Ansätze andeuten. Der Forschungsverbund GeNeMove im nicht mehr mit Mitteln des BMBF geförderten Kompetenznetz Seltene Erkrankungen beispielsweise zahlt Neurologen eine Aufwandsentschädigung von etwa 100 pro Probe. Da es sich zumeist um äußerst seltene Erkrankungen handelt, stehen auch Mittel bereit, um Patienten die Kosten für die Reise zu einem Arzt oder einem Zentrum zu erstatten, wo sie ihre Probe abgeben können. Quelle: Telefoninterviews (O.Riess), s. Anhang 2, S. 70 f. 10

1 Biobanken und Krankheitsverständnis Weit verbreitete Erkrankungen zeichnen sich durch eine hohe Komplexität aus. Die klassische Epidemiologie hat durch Studien an großen Gruppen von Patienten eine Reihe von Umwelteinflüssen und Lebensgewohnheiten zu diesen Erkrankungen in Beziehung gesetzt und als Risikofaktoren für ihren Ausbruch identifiziert. Mit der Neuorientierung der medizinischen Forschung im Zuge der Entschlüsselung des menschlichen Genoms entstand ein neues Krankheitsverständnis. Häufig vorkommende Erkrankungen werden heute als multifaktoriell definiert: Ihre Entstehung wird als komplexes Zusammenspiel genetischer Dispositionen mit Umwelteinflüssen und Lebensgewohnheiten verstanden. In diesem Krankheitsmodell der postgenomischen Phase gelten äußere, nicht-genetische Einflüsse als Auslöser für eine Erkrankung, für die eine genetische Anfälligkeit besteht. Die Schwierigkeiten der Forschung an der Genetik weit verbreiteter Erkrankungen beginnen bereits bei der Identifizierung genetischer Varianten, die mit dem Krankheitsausbruch in Zusammenhang stehen. Während es bei den sehr selten vorkommenden, monogenetischen Erkrankungen relativ einfach war, über Familienstudien auf der Grundlage der Mendelschen Gesetze Gene zu finden, die mit der Krankheitsentstehung in Zusammenhang stehen, ist das bei weit verbreiteten Erkrankungen aufgrund ihrer Komplexität ein weitaus schwierigeres Unterfangen. Für das Verständnis der Krankheitsentstehung sind zudem Forschungen an den Interaktionen zwischen Genen und zwischen Genen und Umwelt notwendig. Der Versuch, mit Hilfe einer genetischen Epidemiologie die dynamischen Verhältnisse und Interaktionen zwischen molekularen Prozessen und Umwelteinflüssen zu erkennen und zueinander in Beziehung zu setzen, ist unter anderem als Reaktion darauf zu verstehen, dass die molekulare Pathogenese von Erkrankungen heute in der Regel erst in Ansätzen verstanden wird. Selbst bei vielen monogenetischen Erkrankungen sind die biologischen Prozesse in der Zelle, die zur Erkrankung führen, nicht geklärt. 12 Dieses ursprüngliche Motiv des genetisch- epidemiologischen Ansatzes gerät leicht aus dem Blick, weil der Versuch, mittels statistischer Operationen Zusammenhänge zwischen genetischen Varianten und Krankheit herzustellen, in der medizinischen Forschung so dominant ist. 12 Weil die molekulare Pathogenese seltener Erkrankungen Gegenstand der Forschung ist, werden in den meisten Biobanken für diese Krankheiten Zellen und Gewebe gelagert. 11

Genetische Epidemiologie in der Bundesrepublik: Beispiele aus dem NGFN Herzinsuffizienz (HI; Häufigkeit 2-5 Prozent der Bevölkerung). Eine Genetik der Herzinsuffizienz gibt es nicht, weil HI viele verschiedene Ursachen haben kann. Herzinfarkt (für die systolische HI), Bluthochdruck, der wiederum auf Diabetes, Übergewicht etc. zurückzuführen ist und dilatative Kardiomyopathie (für die dyastolische HI) gelten als häufigste Ursachen. Insgesamt wird der Anteil der Genetik an der Entstehung der verschiedenen Formen der Herzinsuffizienz mit 30 bis 50 Prozent angegeben. Mit diesem Prozentsatz ist die Summe aller genetischen Aspekte gemeint, die bei den verschiedenen Grunderkrankungen eine Rolle spielen, in deren Folge eine HI auftreten kann. Sowohl im NGFN als auch im Kompetenznetz Herzinsuffizienz sind genetische Grundlagen der Erkrankung Gegenstand mehrerer Forschungsprojekte. Quelle: Telefoninterviews (T. Weis, G. Hasenfuss, H. J. Osterziel, U. Keil), s. Anhang 2, S. 70 f. Die Dilatative Kardiomyopathie (DCM) als eine der Ursachen der Herzinsufffizienz gehört zu den wenigen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bei denen es eine erbliche Komponente zu geben scheint: Bei bis zu einem Drittel der Patienten tritt die Erkrankung in der Familie gehäuft auf. Die bisher in solchen Familien mit der Erkrankung assoziiert gefundenen Mutationen erklären maximal 20 Prozent der familiär gehäuft auftretenden Form der Erkrankung, das heißt, von hundert Patienten, in deren Familie die Erkrankung gehäuft auftritt, findet man bei zwanzig genetische Varianten, für alle anderen sind sie noch unbekannt. In dem mit rund 2,2 Mio über zwei Jahre geförderten Forschungsvorhaben Ursachen und Mechanismen der Dilatativen Kardiomyopathie geht es darum, einen ersten Einblick in die Genetik von DCM zu erhalten. Unter anderem sollen neue Kandidatengene in Tiermodellen positionell kloniert, auf der Basis von Familienstudien Mutationen bekannter und neuer Kandidatengene gefunden und durch SNP-Analysen in großen Patientenkohorten Modifiergene identifiziert werden. Ein mit knapp 133.000 gefördertes Projekt untersucht außerdem Mutationen im Titin-Gen an von DCM betroffenen Familien. Quelle: Telefoninterviews (T. Weis, G. Hasenfuss, H. J. Osterziel, U. Keil), s. Anhang 2, S. 70 f. Adipositas Eine große Zahl von Umweltfaktoren wird mit der Entstehung von Übergewichtigkeit in Zusammenhang gebracht. Der genetische Anteil an der Varianz des Körpergewichtes wird mit 30 bis 70 Prozent angegeben. In Studien an eineiigen Zwilling liegt er bei 70 Prozent, in familienbasierten Untersuchungen ist der Prozentsatz niedriger. Auch hier geht man davon aus, dass mehrere Genvarianten bei der Entstehung von Übergewicht zusammenspielen. Sicher ist, dass identische Ernährung bei verschiedenen Menschen zu unterschiedlichem Körpergewicht führt. Im NGFN wird in einem Forschungsverbund in elf verschiedenen Projekten an verschiedenen Standorten an den genetischen Grundlagen von Übergewicht geforscht. Quelle: Telefoninterviews (J. Hebebrand, A. Hinney), s. Anhang 2, S. 70 f. Alkoholismus und affektive Störungen Der Anteil der Genetik an Suchtverhalten ist unklar. Alkoholismus wie auch Nikotinsucht weisen eine große Komorbidität mit Depressionen auf, das heißt, es sind identische genetische Varianten bei diesen Erkrankungen gefunden worden. In dem mit knapp 1,5 Mio ausgestatteten NGFN-Projekt Erforschung von Kandidatengenen bei Alkoholismus und affektiven Erkrankungen sollen Mutationen identifiziert und in transgenen Tierlinien, Patientenkollektiven und populationsbasierten Kohorten validiert werden. Quelle: Telefoninterviews (M. Rietschel), s. Anhang 2, S. 70 f. 12

Allergien und Asthma Aufgrund der Ergebnisse von Zwillingsstudien geht man von einem genetischen Anteil von 70 Prozent an der Entstehung von Asthma aus. Bislang sind Studien zu etwa 200 Genen und ihrem Zusammenhang mit der Erkrankung publiziert worden, zehn Gene gelten inzwischen als sichere Mitverursacher. Asthma und Allergien wie Heuschnupfen, das atopische Ekzem oder die allergische Rhinitis gelten als verwandte Erkrankungen. Man geht derzeit davon aus, dass etwa 20 Gene eine allgemeine Disposition für allergische Reaktionen bedingen, etwa die Hälfte mit Bezug zur Haut beziehungsweise zur Lunge, und dass diese Gene in Kombination mit genetischen Veränderungen des Immunsystems und verschiedenen Umweltfaktoren zu allergischen Erkrankungen führen. Im NGFN-2 wird im Rahmen des Projektes Genetische Einflüsse der Krankheitsentstehung von Asthma bronchiale ein Netzwerk aufgebaut, in dem Gen-Gen- und Gen-Umwelt-Interaktionen in Fall-Kontroll- und Familienstudien stattfinden sollen. Eine Datenbank mit 25.000 Patienten befindet sich im Aufbau. Quelle: Telefoninterviews (M. Kabesch), s. Anhang 2, S. 70 f. Biobanken sind für diesen Ansatz unerlässlich. Die Fülle der an der Krankheitsentstehung beteiligten Faktoren bringt es mit sich, dass eine einzelne genetische Variante in der Regel nur einen sehr kleinen Einfluss auf den Prozess der Krankheitsentstehung hat. Um statistisch signifikante Beziehungen zwischen einer Genvariante und der Erkrankung herstellen zu können, sind deshalb große Fallzahlen notwendig. Grundsätzlich gilt: Je kleiner die Effekte, desto größer muss der Umfang einer Studienpopulation sein. 13 Dies gilt insbesondere, wenn es darum geht, durch Kopplungsanalysen Kandidatengene für Erkrankungen zu identifizieren, weil die Veränderungen einzelner Basenpaare auf der DNA (SNPs: Single Nucleotide Polymorphisms) sich durch eine hohe Variabilität zwischen Individuen auszeichnen. Ganz allgemein ist festzustellen, dass die zu berücksichtigende Komplexität bei der Untersuchung von Zusammenhängen zwischen genetischen Varianten und der Krankheitsentstehung große Anforderungen an Studiendesigns und Methoden stellt. Für die Forschung an Gen-Gen- und Gen-Umwelt-Interaktionen müssen mathematische Modelle erst noch entwickelt werden. Mit den heute zur Verfügung stehenden bioinformatischen und -statistischen Methoden sind lediglich Assoziationsstudien zwischen Kandidatengenen und einem bereits bekannten, das Erkrankungsrisiko steigernden Umwelteinfluss möglich. Die wichtigsten methodischen Probleme des genetisch-epidemiologischen Ansatzes werden im folgenden Überblick über existierende Biobankprojekte dargestellt. 13 Vgl. Roos 2001 13

1.1 Bevölkerungsweite Biobanken Bevölkerungsweite Biobanken umfassen eine große Anzahl von DNA-Proben und Daten, die aus verschiedensten Angaben der Probanden, etwa zum Alter, dem Geschlecht, der Geschwisterzahl, bisherigen und bestehenden Erkrankungen, eingenommenen Medikamenten oder auch Ernährungsgewohnheiten und anderen sogenannten Lebensstilfaktoren erhoben worden sind. Die Probanden sind in der Normalbevölkerung rekrutiert worden. Bevölkerungsweite Biobanken sind als Reservoir für die Identifikation genetischer Marker und krankheitsrelevanter Gene konzipiert und stehen für Interaktionsstudien zwischen genetischen Dispositionen, Erkrankungen, Umwelteinflüssen und Lebensgewohnheiten zur Verfügung. Mittlerweile gibt es weltweit eine ganze Reihe solcher Biobanken, die sich in Umfang und Reichweite stark voneinander unterscheiden. 14 Die Ende der 1990er Jahre begonnenen bevölkerungsweiten Projekte in Island und Estland heben sich dadurch hervor, dass die gesamte Bevölkerung beziehungsweise eine große Mehrheit in das Projekt eingeschlossen werden sollte. In Island war geplant, genetische Daten mit den vorhandenen Patientendaten aller lebenden und toten Isländer und einer Datenbank aus Familienstammbäumen zu verknüpfen. Aufgrund verschiedener Datenschutzprobleme, Streitigkeiten mit dem größten Krankenhaus Islands und einem Verfassungsgerichtsurteil Ende 2003 ist dieses Konzept gescheitert. Nach Angaben der Betreiberin des Biobankprojektes, dem börsennotierten Unternehmen decode Genetics, sind mittlerweile etwa 110.000 Blutproben mit dazugehörigen klinischen Informationen und Familienstammbäumen vorhanden. In Estland, wo etwa drei Viertel der Bevölkerung in das Biobankprojekt eingeschlossen werden sollten, stagniert seit Ende 2004 die Erhebung bei etwa 10.000 Proben und Datensätzen, da der Vertrag zwischen Betreibern und Geldgebern aufgrund unüberbrückbarer Differenzen in beiderseitigem Einvernehmen aufgelöst wurde. Die laufenden Kosten für die Lagerung der Proben und die Pflege der Infrastruktur werden derzeit aus dem Etat der Abteilung Gesundheit des estnischen Sozialministeriums getragen. 15 14 15 Die Biobank der schwedischen Umeå University umfasst drei verschiedene Kohorten verschiedener Personengruppen, die zu einer großen Untersuchungsgruppe, der Northern Sweden Health and Disease Study Cohort, zusammengeführt wurden. Sie umfasst Blutproben und Daten von insgesamt rund 85.000 Personen. In Kanada arbeitet man im Rahmen des CARTaGENE-Projekts in Quebec an der Errichtung einer Biobank, die Informationen zu Lebensstil, Erkrankungen und Ernährung von über 60.000 Menschen im Alter zwischen 25 und 74 Jahren umfassen soll. Die Biobank des Biotechnologie-Unternehmens Genomics Collaborative, Inc. in Cambridge, Massachusetts enthält menschliche DNA, RNA, Seren und Gewebeproben und detaillierte medizinische Informationen von über 120.000 Menschen. Eine ausführliche Darstellung des estnischen Biobankprojektes findet sich in Kapitel 5, S. 48 ff. 14

Der Ansatz solcher Biobankprojekte ist umstritten. So wurde das britische Vorhaben, Proben und Daten von 500.000 Individuen zu sammeln und zu erheben und durch regelmäßige Follow Ups fortzuführen, in den vergangenen Jahren immer wieder verschoben. 16 Grund sind anhaltende Diskussionen über den wissenschaftlichen Sinn von großen, bevölkerungsweiten Biobanken. Grundsätzlich wird kritisiert, dass Umwelteinflüsse große Bedeutung für die Entstehung von Krankheiten haben und Gen-Gen- und Gen-Umwelt-Interaktionen zu komplex sind, um mit genetischepidemiologischen Methoden erfasst, geschweige denn verstanden zu werden. 17 Eine Reihe von Genetikern kritisiert den bevölkerungsweiten Ansatz auch aus systematisch-methodischen Gründen. In Frage gestellt wird vor allem der Wert des Ansatzes für die Untersuchung von Interaktionen zwischen Genen und anderen Einflüssen, die bei der Krankheitsentstehung eine Rolle spielen. 18 Das Studiendesign bei herkömmlichen genetischen Assoziationsstudien richtet sich nach der Ausgangshypothese. Die Fragestellung bestimmt beispielsweise, wer rekrutiert werden soll und was gemessen wird. Zweifel an der Qualität von Studien, die sich auf die unspezifischen Daten einer bevölkerungsweiten Biobank stützen, seien deshalb angebracht. 19 Zudem seien signifikante Ergebnisse, die aus der Verbindung unspezifischer Daten resultieren, insofern künstlich, als eine Beziehung zwischen einzelnen Faktoren auf der Grundlage der vorgefundenen Effekte hergestellt werde, anstatt umgedreht eine Vorannahme anhand von zu diesem Zweck erhobenen Daten zu überprüfen. 20 Befürworter des Ansatzes halten die bevölkerungsweite Rekrutierung unabhängig von den Erkrankungen der Probanden dagegen für ein probates Mittel, um verzerrende Einflüsse bei der Rekrutierung auszuschließen. Zudem verweisen sie auf den Wert bevölkerungsweiter Biobanken für Kopplungsanalysen und genomweite Scans, die die Identifizierung von das Krankheitsrisiko erhöhenden Genen ermöglichen. 21 16 17 18 19 20 21 Voraussichtlich wird Ende 2005 mit der Rekrutierung der angestrebten 500.000 Probanden für die UK Biobank begonnen. Angesetzt ist dafür ein Zeitraum von etwa fünf Jahren. Vgl. Baird 2001 Vgl. Clayton/McKeigue 2001 Vgl. Wright et al. 2002 Vgl. Swaen et al. 2001, Terwilliger/Weiss 2003 oder Coffey et al. 2004 Vgl. Metspalu 2004, 98 15

1.2 Krankheitsbezogene Biobanken Die Mehrheit der Biobanken ist krankheitsbezogen angelegt. Hier werden möglichst viele Patienten mit einer bestimmten Erkrankung oder Symptomatik eingeschlossen. Neben den genetischen werden vor allem klinische Daten erhoben. Krankheitsbezogen sind in der Bundesrepublik zum Beispiel die in den Kompetenznetzen (KN) angelegten Biobanken. Sie sind als Reservoir für zukünftige Forschungen an den Erkrankungen konzipiert; großer Wert wird auf eine standardisierte und qualitätskontrollierte Datenerhebung gelegt. Im Zentrum steht dabei eine möglichst differenzierte klinische Charakterisierung der Patienten. Viele krankheitsbezogene Biobanken bestehen aber auch aus im Rahmen verschiedener Studien angelegten Kollektiven. Einige der im Herz-Kreislauf-Netz, im Genomnetz Neuro 22 oder im Genomnetz Umweltbedingte Erkrankungen 23 des Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN) entstandenen Biobanken gehören in diese Kategorie. Ein Problem besteht hier in der Vergleichbarkeit der Daten. Um sie zusammenführen zu können, befassen sich eine Reihe der unter dem NGFN-2 geförderten Projekten mit der Standardisierungsproblematik. 24 Hinzu kommen Datensammlungen, die krankheitsbezogen für ein epidemiologisches Forschungsvorhaben angelegt wurden. Ursprünglich nicht für die Validierung von Kandidatengenen aufgebaut, werden sie heute auch für genetisch-epidemiologische Studien verfügbar gemacht, indem im Nachhinein aus den vorhandenen Blutproben DNA extrahiert wird. 25 Krankheitsbezogene Biobanken sollen es ermöglichen, durch Assoziationsstudien Gene für weit verbreitete Erkrankungen zu identifizieren. Diese Erkrankungen treten nur selten familiär gehäuft auf. Ist das der Fall, handelt es sich in der Regel um selten vorkommende Sonderformen der Krankheit. 26 Einige Genetiker weisen darauf 22 23 24 25 26 Etwa die Patientenpopulationen zu Adipositas oder zu Suchterkrankungen Etwa die im Rahmen von Studien zu Asthma und atopischen Erkrankungen angelegten Patientenkollektive. Für das Herz-Kreislauf-Netz im NGFN werden allein in München zurzeit im Rahmen des Projektes Populationsgenetik kardiovaskulärer Erkrankungen Phänotypdaten und DNA von knapp 15.000 Patienten bearbeitet, um sie für genetisch-epidemiologische Studien verfügbar zu machen. Im Herznetz wird zudem eine zentrale Datenbank etabliert, in die standardisierte Basisdatensätze aus allen an den verschiedenen im Herznetz zusammengeschlossenen Universitäten verfügbaren Kollektiven eingestellt werden. Vgl. auch Kapitel 4.3, S. 42 Dazu gehören beispielsweise die in den 80er und frühen 90er Jahren aufgebauten KORA- und SHIP- und die europaweit angelegten EPIC-Kohorten. Die European Prospective Investigation Into Cancer and Nutrition (EPIC) umfasst Blutproben und dazugehörige Daten zum Lebensstil und zur Ernährung von insgesamt etwa 520.000 Menschen aus ganz Europa. Die Datenbank wurde ursprünglich errichtet, um den Zusammenhang zwischen Lebensstil sowie Umweltfaktoren und dem Auftreten von Krebs und anderen chronischen Krankheiten zu erforschen. In Zukunft soll sie unter anderem für die Erforschung der Interaktionen zwischen genetischen Polymorphismen und Ernährungs- sowie Umweltfaktoren genutzt werden. Zu KORA vgl. Kapitel 4.3, S. 43 Vgl. Kap. 1, Genetische Epidemiologie in der Bundesrepublik Beispiele aus dem NGFN, S. 12 f. 16

hin, dass es aufgrund des polygenen Charakters und der Komplexität weit verbreiteter Erkrankungen schwierig ist, echte Assoziationen zwischen Genen und Erkrankung zu finden. 27 Andere stellen Korrelationsstudien für weit verbreitete Erkrankungen grundsätzlich in Frage. Die Schwierigkeit, genetische Dispositionen mit diesen Erkrankungen zu assoziieren, entstehe nicht in erster Linie durch den polygenen Charakter häufiger Erkrankungen, sondern sei vielmehr in den komplexen Interaktionen von Genen und Umwelteinflüssen begründet, die ihre Entstehung begünstigen. Das grundsätzliche Problem der Quantifizierung genetischer Anfälligkeit könne deshalb durch einen großen Umfang von Studienpopulationen nicht gelöst werden. 28 1.3 Gen-Gen- und Gen-Umwelt-Interaktionsstudien Viele Genetiker gehen davon aus, dass in naher Zukunft neue mathematische und theoretisch-biologische Modelle entwickelt werden, um vielfältige Interaktionen zwischen mehreren genetischen und nicht-genetischen Faktoren zu untersuchen. Mit den derzeit zur Verfügung stehenden statistischen Methoden sind Gen-Gen- und Gen-Umwelt-Interaktionsstudien nur unter engen Voraussetzungen möglich: Die genetische Variation und der Umwelteinfluss, deren Interaktion in ihrer Bedeutung für die Krankheitsentstehung untersucht werden soll, müssen bekannt sein. Zudem ist für die statistische Aussagekraft ( statistische Power ) des Studiendesigns eine sehr große Anzahl von Probanden erforderlich: Damit eine Interaktion statistisch signifikant ist, muss die Kombination der einzelnen Werte einen multiplikativen Effekt signifikant überschreiten. Wie schwierig der statistische Beweis von Interaktion ist, zeigt eine im NGFN-1 geförderte Studie zum Zusammenhang zwischen zwei Genvarianten, Asthma und Passivrauchen. 29 Auf der Grundlage der vorgefundenen Prävalenz von Asthma unter Schulkindern wurde die für die statistische Power notwendige Probandenzahl mit etwas mehr als 3.000 kalkuliert. 30 Diese Anzahl von Kindern wurde genotypisiert und je nach Symptomatik in vier Gruppen von Phänotypen eingeteilt: momentanes Asthma, ständiges Keuchen, momentanes Keuchen und Husten ohne Erkältung. Im Ergebnis war die Interaktion zwischen jeweils einer der Genvarianten, Passivrauchen und Asthma statistisch signifikant. Aber auch für die anderen Symptome zeig- 27 28 29 30 Vgl. Altmuller et al. 2001. Häufig erhält man bei weit verbreiteten Erkrankungen signifikante Assoziationen, die statistische Artefakte darstellen. Vgl. Terwilliger et al. 2002 Für eine ausführliche Darstellung der Studieninhalte vgl. Kabesch/Hoefler/Carr et al. 2004 und Kap. 2.3, S. 27 f. Vgl. Kabesch/Hoefler/Carr et al. 2004, 569 17

ten die Ergebnisse der Untersuchung einen Trend zur Interaktion zwischen Genvarianten und Passivrauchen. Auf der Grundlage der gefundenen Werte errechnete das Forschungsteam, wie groß der Datensatz sein müsste, wenn man für alle Symptome die Interaktionen sicher berechnen wollte und kam je nach Symptom auf Größenordnungen zwischen 8.000 und 146.000 Datensätzen. 31 Dass es in einer Studie mit einer demgegenüber kleinen Kohorte von 3.054 Probanden überhaupt gelang, eine Interaktion statistisch nachzuweisen, ist auf die Stärke des Effekts zurückzuführen. 32 In den letzten Jahren sind Initiativen auf den Weg gebracht worden, über nationale Grenzen hinweg gemeinsame Standards der Datenerhebung, der Lagerung und Präparierung von Proben oder der Trägerschaft zu entwickeln mit dem Ziel, die beteiligten, im Aufbau befindlichen Biobanken zu koordinieren und die Forschung an den Daten zusammenzuführen. 33 Zum Teil geht es dabei um die zentrale Verwaltung von Proben, vor allem aber um die Lösung statistischer, methodischer und infrastruktureller Probleme. 31 32 33 Vgl. Kabesch/Hoefler/Carr et al. 2004, 572 Die beiden untersuchten Genvarianten verursachen den Mangel an einem Enzym, das in die Entgiftung von Tabakrauch involviert ist. Zu den Ergebnissen der Studie vgl. auch Kapitel 2.3, S. 27 f. Die EuroBioBank beispielsweise ist Teil eines EU-geförderten Forschungsverbundes zu seltenen Erkrankungen und geht auf die Initiative eines europaweiten Zusammenschlusses von Selbsthilfegruppen zurück. Hier sind zwölf europäische Banken mit Gewebe, Zellen und DNA von Menschen mit seltenen Krankheiten vernetzt. Insgesamt sind etwa 65.000 DNA-Proben und 15.000 Gewebeproben verfügbar. Vgl. www.eurobiobank.org. Ziel des Projektes ist es, der Forschung den Zugang zu dem seltenen biologischen Material zu erleichtern. Aufgrund der zum Teil sehr kleinen Fallzahlen der in der Regel monogenetischen Erkrankungen, um die es hier geht, ist das Projekt eine Voraussetzung dafür, dass Forschungen zu Genetik und Ätiologie der Erkrankungen überhaupt stattfinden können. Die Methoden der Probenentnahme, der Präparierung, des Transportes, der Aufbewahrung und der Verteilung von Proben wurden im Rahmen eines EU-geförderten Projektes standardisiert. 18

Vernetzungsinitiativen Eine Pilotfunktion für die Zusammenführung großer Probandenkollektive auf europäischer Ebene hat das Projekt GenomEUtwin. Seit mehr als drei Jahren werden genetische, epidemiologische und phänotypische Daten von insgesamt etwa 600.000 Zwillingspaaren aus acht dänischen, holländischen, schwedischen, italienischen und finnischen Zwillingsregistern zusammengeführt, um den Einfluss von Genetik, Lebensstil und Umwelt auf die Entstehung weit verbreiteter Krankheiten zu erforschen. Das Projekt wird mit Mitteln des 5. EU-Forschungsrahmenprogramms noch bis September 2006 gefördert. (Vgl. www.genomeutwin.org) Das Public Population Project in Genomics (P3G) vereint Forschungsinstitutionen in Europa und Kanada, die große Biobanken betreiben oder aufbauen, zum Beispiel das estnische Genomprojekt (10.000 Proben und Datensätze aus der Allgemeinbevölkerung); die britische Biobank CIGMR (verschiedene krankheitsbezogene Samples, insgesamt 20.000 Proben und Datensätze) oder das kanadische CARTaGENE (angestrebte 60.000 Proben mit dazugehörigen Informationen zu Lebensstil, Erkrankungen und Ernährung). P3G zielt darauf ab, bevölkerungsweite Datensammlungen zusammenzuführen, um eine ausreichend große, öffentlich zugängliche Datenbasis für Gen-Umwelt- Interaktionsstudien aufzubauen. Die Koordinatoren des Projektes verstehen das Vernetzungsvorhaben überdies als Instrument für den Transfer von Erkenntnissen aus der genetischen Epidemiologie weit verbreiteter Erkrankungen in die Gesundheitssysteme. (Knoppers et al. 2004, S.2) Unter dem 6. EU-Forschungsrahmenprogramm wird ab Dezember 2006 ein von dem P3G-Konsortium initiiertes Kooperationsprojekt zwischen 18 europäischen und kanadischen Forschungsinstitutionen gefördert. Das Projekt mit dem Titel Harmonisierung bevölkerungsweiter Biobanken und Kohortenstudien zur Stärkung der biomedizinischen Forschung in Europa in der post-genomischen Ära hat zum Ziel, - bestehende bevölkerungsweite Biobanken und Kohortenstudien in Europa systematisch zu kategorisieren. Besondere Berücksichtigung sollen dabei Studien finden, die substanziell zu koordinierten Forschungen an den genetischen und umweltbedingten Ursachen komplexer Erkrankungen beitragen können. - unter besonderer Berücksichtigung genetisch isolierter Bevölkerungen neue Möglichkeiten für den Aufbau von Biobanken in Europa zu identifizieren. Standardisierte Kriterien für die Auswahl von wie für die Erhebung und Probensammlung in genetisch isolierten Bevölkerungen sollen etabliert werden. - eine Infrastruktur für den Austausch über Methoden der Genotypisierung in großen Kohorten aufzubauen. Ein Kommunikationsforum soll entstehen, in dem Fragen wie die Auswahl von Markern, Qualitätskontrolle, Datenbankstruktur und Analyse von Genotypen diskutiert werden können. - einen Standard zur Bestimmung komplexer Phänotypen und Lebensstilfaktoren zu entwickeln. - an der Lösung der statistisch-methodischen Probleme bei Studiendesign und analyse und der Zusammenführung von Daten aus verschiedenen Studien zu arbeiten. Eine Expertenplattform soll entstehen, um mathematische Modelle zu entwickeln und in die genetische Epidemiologie und Statistik zu integrieren. 19

1.4 Zusammenfassung Biobanken werden erklärtermaßen aufgebaut und betrieben, um den Einfluss genetischer Aspekte auf die Entstehung weit verbreiteter, komplexer Erkrankungen quantifizieren zu können. Umwelteinflüsse spielen hier eine zum Teil gewichtige Rolle für den Krankheitsausbruch und es ist von vielfältigen Interaktionen zwischen Genen und zwischen Genen und Umweltfaktoren auszugehen. Bisher fehlt es an statistisch-mathematischen und theoretisch-biologischen Modellen für eine Untersuchung von solchen, nicht nach einem einfachen, mechanistischen Schema zu denkenden Gen-Gen- und Gen-Umwelt-Interaktionen. Forschung nach genetischen Ursachen häufiger Erkrankungen hat vor diesem Hintergrund den Charakter von Grundlagenforschung, insbesondere auch deshalb, weil die molekulare Pathogenese vieler häufiger Erkrankungen nur im Ansatz verstanden wird. Unabhängig von zukünftigen methodischen Möglichkeiten tendiert die statistische Herangehensweise an weit verbreitete Erkrankungen zur Ausweitung; je komplexer die angenommenen Einflüsse und ihr Zusammenwirken, desto größer muss die Anzahl der in eine Studie eingeschlossenen Probanden sein, um Annahmen validieren oder falsifizieren zu können. 20

2 Die Bedeutung genetisch-epidemiologischer Forschungsergebnisse für die Medizin Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt befinden sich Untersuchungen zu den genetischen Aspekten multifaktorieller Erkrankungen bisher in Ansatz, Methodik und Problemstellungen noch im Stadium der Grundlagenforschung. Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass die praktische Bedeutung dieser Forschung in der derzeitigen Phase weder allgemein noch abschließend bewertet werden kann. Unabhängig von den vielfältigen und äußerst unterschiedlichen Problemstellungen in den einzelnen Krankheitsfeldern lassen sich aber drei allgemeine Perspektiven bereits heute erkennen: Forschung zu genetischen Aspekten weit verbreiteter Erkrankungen bringt Erkenntnisse hervor, die a) als Grundlage für neue pharmakologische Ansätze dienen können, b) das Potenzial haben, die Stratifizierung von Patientengruppen entlang ihrer Reaktionsmuster auf pharmazeutische Substanzen zu erlauben und die c) eine Quantifizierung und Differenzierung bereits bekannter allgemeiner Erkrankungsrisiken für das einzelne Individuum ermöglichen. Für die medizinische Praxis werden folgende Optionen in Aussicht gestellt: a) Die Identifizierung molekularer Angriffspunkte (Targets) für Arzneistoffe ermöglicht die Entwicklung neuartiger Medikamente. b) Tests zur Feststellung des pharmakologischen Reaktionstyps eines Patienten erlauben eine alternative Medikamentierung beziehungsweise Anpassung der Dosis eines Medikamentes. c) Auf der Grundlage der Berechnung des individuellen genetischen Risikos können präventive Maßnahmen ergriffen werden. Diese tendenziellen Perspektiven der Umsetzung von Erkenntnissen aus der genetisch-epidemiologischen Forschung in die medizinische Praxis sagen wenig über den Wert konkreter Forschungsergebnisse für die Behandlung und Versorgung von Patienten aus. Anhand von Problemstellungen auf einzelnen Krankheitsfeldern wird die Bedeutung der umrissenen Perspektiven für die klinische Praxis deshalb im folgenden konkretisiert. Auf eine ausführliche Diskussion der Perspektiven der Pharmakogenomik (Entwicklung neuartiger Medikamente) und -genetik (Tests zur Medikamentenverträg- 21

lichkeit) für die Medizin wird allerdings verzichtet; beide Bereiche der Forschung werden zwar in ihren für dieses Gutachten wesentlichen Aspekten dargestellt. Für die Beurteilung der klinischen Bedeutung dieser Forschungsrichtungen sei aber auf die inhaltsreiche und umfassende Synopse sieben europäischer Studien zur Pharmakogenetik verwiesen, die in diesem Jahr erarbeitet worden ist. 34 Der materialund detailreiche Überblick bietet eine ausreichende Basis, um Stand und Perspektiven des Forschungsfeldes zu bewerten. Die in diesem Kapitel vorgenommene Analyse der medizinischen Bedeutung von mit Hilfe von Biobanken gewonnenen Erkenntnissen konzentriert sich deshalb auf die Perspektive der risikobezogenen Diagnostik und der Prävention bei weit verbreiteten, multifaktoriellen Erkrankungen. 35 Ausgehend von den für das vorliegende Gutachten geführten Interviews wurden dafür Untersuchungen und Forschungsprojekte in der Bundesrepublik ausgewählt, die Perspektiven und klinische Anwendungen von Erkenntnissen der genetischen Epidemiologie repräsentativ wiedergeben. 2.1 Targets für neue Medikamente Zu den zentralen Erwartungen an die genetische Forschung gehört in der öffentlichen Wahrnehmung die Entwicklung neuartiger Medikamente und Therapien. Das Beratungskomitee zur Gesundheitsforschung der Weltgesundheitsorganisation etwa geht in seinem Bericht Genomics and the World Health von 2002 davon aus, dass die Erforschung der Genetik weit verbreiteter Erkrankungen zu einem besseren Verständnis der zugrunde liegenden Pathologie führen wird. Auf dieser Grundlage könnten molekulare Targets für die Medikamentenentwicklung identifiziert werden. In der Zukunft werde es möglich sein, an den direkten Ursachen von Erkrankungen auf molekularer Ebene anzusetzen. 36 Umfangreiche Biobanken sind für diesen Ansatz unerlässlich. Für die Entdeckung und Validierung von Zielmolekülen ist neben effektiven Hochdurchsatz-Verfahren 37 eine große Anzahl von klinisch gut charakterisierten Proben erforderlich, um mittels genomweiter Scans Gene, genetische Marker oder Genprodukte (wie mrna oder 34 35 36 37 Vgl. Kollek et al. 2005, insbesondere Kapitel II, 15 50, Kapitel IV, 96-102 und VIII, 185-192 Der für die Erstellung des vorliegenden Gutachtens gesetzte Zeitrahmen gestattete es nicht, die öffentlich geförderten genetisch-epidemiologischen Forschungsprojekte in der Bundesrepublik (NGFN, DFG, Kompetenznetze) einer systematischen Analyse im Hinblick auf potenzielle Anwendungen beziehungsweise Umsetzungen von Ergebnissen zu unterziehen. (Vgl. Einführung Teil I, S. 10, Kriterium e) Eine solche Untersuchung wäre allerdings von großem Wert für die Bewertung des medizinisch-klinischen Wertes von mit Hilfe von Biobanken gewonnenen Erkenntnissen. Vgl. WHO 2002, 55 ff. Für Genanalysen ist das vor allem die Anwendung der DNA-Chip-Technologie. 22