Schmerztherapie, ein neuer Bereich ärztlicher Tätigkeit H. U. Gerbershagen, Mainz



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schmerzt.doc: 8.7.97/ge Schmerztherapie, ein neuer Bereich ärztlicher Tätigkeit H. U. Gerbershagen, Mainz Schmerz ist das Symptom, das die Mehrzahl der Patienten in die ärztliche Behandlung führt. Dementsprechend ist der in der Patientenversorgung tätige Arzt mit der Vielschichtigkeit dieses Symptoms vertraut. Die Relevanz von Schmerzen kommt in den wenigen vorliegenden Studien zur Epidemiologie von Schmerz zum Ausdruck. So leiden ca. 3 % aller erwachsenen Deutschen an chronischen Kopfschmerzen, ca. 13% haben eine Migränesymptomatik, ca. 25% geben die Symptome der episodischen Kopfschmerzen vom Spannungstyp (IHS-Literaturstelle) an. Die Punktprävalenz des Erwachsenen-Kopfschmerzes durfte bei 80 % liegen. Bei Schulkindern bis zum 13. Lebensjahr liegt die Häufigkeit der Migräne und des episodischen Kopfschmerzes vom Spannungstyp ähnlich hoch (J. Gerbershagen). Die Punktprävalenz für Rückenschmerzen beträgt nach Raspe und Zink 30%, v. Korff et al. (1988) fanden bei 6-Monate Punktprävalenzuntersuchungen, daß 4 % der Befragten (N = 1016) kurze Rückenschmerzperioden hatten, 25% zwei und mehr Schmerzperioden erlebten und 12% an mehr als der Hälfte aller Tage unter Rückenschmerzen litten. Dennoch suchen nur in ca. der Hälfte der Fälle Menschen, die unter klinisch- und volkswirtschaftlich-relevanten Kopfschmerzen (z.b. stark reduzierte Konzentrationsund Leistungsfähigkeit, regelmäßige Arbeitsausfallzeiten, familiäre Rücksichtnahmen und Belastungen, fehlerhafte Medikamenteneinnahme bis hin zum Medikamentenmißbrauch und der Induktion des Medikamenten-Kopfschmerzes) leiden, überhaupt einen Arzt wegen dieser Kopfschmerzen auf und nur ein Prozent einen Neurologen. Diese Menschen geben an, daß die Ärzte Kopfschmerzen sowieso nicht behandeln können. 1

Das Versorgungsdefizit aller Schmerzsyndrom-Gruppen wurde durch den deutschen Ärztetag 1996 erkannt und Gegenmaßnahmen eingeleitet. Die wichtigste Maßnahme war die Einführung der Pflichtweiterbildung auf dem Sektor Schmerz für alle medizinischen Disziplinen (sie war bis 1996 nur in der anästhesiologischen Weiterbildungsordnung verankert). Ein weiterer Beschluß dieses Gremiums führte zur Zusatzbezeichnung Spezielle Schmerztherapie mit dem Behandlungsauftrag für chronisch Schmerzkranker. Klinisch tätige Ärzte aller Fachgebiete können diese Zusatzbezeichnung erwerben. Zuvor war 1994 von den Ersatzkassen das schmerztherapeutische Defizit durch die Einführung der Schmerztherapie-Vereinbarung anerkannt worden. Auf der Basis dieses Vertrages zwischen den Ersatzkassen und speziell in der Schmerztherapie ausgebildeten Ärzten können chronisch Schmerzkranke effektiver behandelt werden. Die epidemiologischen Studien zeigen, daß eine gezielte Schmerztherapie erforderlich ist. Damit jedoch die Schmerztherapie ein neuer Bereich ärztlicher Tätigkeit werden kann, und damit sie gute Langzeitresultate zeitigen kann, müssen zunächst folgende Aspekte des Schmerzmanagements berücksichtigt werden: 1. Die Schmerzbehandlung ist langfristig nur dann effektiv, wenn Diagnostik und Behandlung theoriegeleitet sind. 2. Die Diagnosen müssen (und hier ist noch viel Entwicklungsarbeit zu leisten auf der Basis operationalisierter Kriterien gestellt werden (z.b. die Kopf- Gesichtsschmerz-Diagnosen nach den Kriterien der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft [ab 1998 übernimmt die WHO diese Kriterien]. 3. Die Erfassung des Grades der Schmerzchronifizierung muß für jeden Patienten durchgeführt werden. 4. Der Verlauf der Schmerzbehandlung und die Resultate müssen nachvollziehbar dokumentiert werden. Theroriegeleitete Schmerzkonzepte Epidemiologische Studien, die Mehrzahl der Ergebnisstudien-Berichte bzw. die modern gewordenen Metaanalysen bei chronisch Schmerzkranken verdeutlichen, daß Ärzte in der Regel die Schmerzpatienten auf der Grundlage eines biologischen (medizinischen) Schmerzmodells behandeln. Schmerz wird nur als das Resultat von Gewebeschädigun- 2

gen gesehen. Die Basis dieses Modells ist also bewußt oder unbewußt ein Reiz- Reizantwort-Modell. Hierbei wird suggeriert, daß bei ausbleibendem Reiz auch keine Reizantwort mehr erfolgen kann, bzw. daß jedem Schmerz eine zu analysierende körperliche Reizursache zugrunde liegt. Die Ätiologie der meisten Schmerzsyndrome (z.b. der Migräne, des episodischen Kopfschmerzes vom Spannungstyp, der Fibromyalgie, der Mehrzahl der Polyneuropathien) ist heute allerdings noch völlig unbekannt. Die Multikausalität chronischer Schmerzen wird, wie bei chronischem Rückenschmerz, oft anerkannt, dann aber nicht selten monokausal (z. B. operativ) angegangen. Die Therapieresultate auf der Basis dieses Modells dürften bei maximal 35% der Patienten positiv sein. In den vergangenen Jahren wurde eine Vielzahl von Krankheitsmodellen und, oft aus ihnen abgeleitet, Schmerzmodelle entwickelt, die bei konsequenter und suffizienter praktischer Umsetzung bei den Schmerzpatienten in ca. 65% der Fälle gute bzw. befriedigende Ergebnisse erzielen können. Die Mehrzahl dieser Krankheitsmodelle kann man unter dem Begriff des bio-psycho-sozialen Krankheitskonzeptes (Engel; Loeser; Wadell; Geissner; Flor und Birbaumer subsumieren. Dieses Konzept verlangt die gleichzeitige und gleichberechtigte Berücksichtigung der körperlichen Funktionskapazitäten, der körperlichen Rollenfunktion und der psychologischen, psychodynamischen und sozialen Funktionen. Die ständigen Interaktionen der biologischen- psychischen und sozialen Dimensionen werden von dem schmerztherapeutisch tätigen Arzt im Vordergrund seiner Analysen gesehen werden. Die gleichzeitige Bestimmung der körperlichen Störungen, des psychischen Distress (wie Angst, Depression, Ärger), des Schmerz- und Krankheitsverhaltens und die daraus folgenden sozialen Interaktionen im weitesten Sinn ist dem Arzt aufgrund seiner Weiter- und Fortbildung oft unmöglich. Die das Schmerzgeschehen bestimmenden Interaktionen der genannten Dimensionen erkennen Ärzte ohne spezielles Training selten; zumindest setzen nur wenige dieses Wissen therapeutisch um. Gerade auf diesem wichtigen Gebiet müssen die Ärzte aller Fachgebiete ihre Kompetenz erweitern. In letzter Konsequenz würde das erwähnte Denkansatz bedeuten, daß bei der vollständigen Berücksichtigung eines bio-psycho-sozialen Schmerzmodells 3

bei jedem chronisch Schmerzleidenden mehrere Diagnoseachsen ausgefüllt werden müssen, z.b. am Beispiel eines Patienten: Schmerzdiagnosen: Migräne, chronischer Kopfschmerz vom Spannungstyp, Beinschmerz bei Polyneuropathie Medizinische Diagnosen (Komorbidität): Beinschmerz bei Polyneuropathie, arterielle Hypertonie, Lebercirrhose, Polyneuropathie Psychologisch/psychiatrische Diagnosen: major depression;. chronisch (DSM IV), Opioidabusus, Laxantienabusus Soziale Diagnosen: Berufliche Überforderung, Eheprobleme Bisheriger Operationskatalog (Multichirurgie): Zustand nach HWS-Fusionsoperation, Zustand nach Leberbiopsie, Zustand nach lumbaler Bandscheibenoperation Für die multidisziplinären ambulanten, teilstationären und stationären schmerztherapeutischen Einheiten muß eine solche multiaxiale Diagnosestellung heute gefordert werden. Operationalisierte diagnostische Kriterien für Schmerzsyndrome Schmerzsyndrome halten sich selten an die Grenzen eines medizinischen Fachgebietes. Daher besteht bei der Entwicklung operationalisierter diagnostischer Kriterien die Notwendigkeit der interdisziplinären Konsensfindung und der Überprüfung der Schmerzsyndrome in Praxis und Klinik. Nur die fachübergreifende intensive Kooperation wird zu diagnose-definierenden Kriterien führen, die für epidemiologische Untersuchungen, zur Überprüfung von Behandlungsmaßnahmen und das Gesamtoutcome des Schmerzpatientenmanagements unabdingbar sind. Am weitesten fortgeschritten ist die Kriterienauswahl für Kopf- Gesichtsschmerzdiagnosen (IHS). Die ICD-10-Klassifikation, ist derzeit noch für fast alle Schmerzsyndrome völlig insuffizient. Für die Kopf- und Gesichtsschmerzpatienten, die ca. 35% aller Schmerzdiagnosen repräsentieren dürften, wäre es eine überzeugende Hilfe, wenn jeder Arzt vor dem Beginn der Therapie die operationalisierten diagnostischen Kriterien für die betreffende Schmerzentität mit dem Patienten ausführlich besprechen würde. Das Vertrauen und die Compliance der Patienten würden sprunghaft steigen und durch die notwendigerweise mul- 4

timodale Therapie würden gute Langzeitresultate erzielt. Gleichzeitig würden seltene Kopf- bzw. Gesichtsschmerzformen wie der Cluster-Kopfschmerz oder die idiopathische Trigeminusneuralgie wieder selten diagnostiziert und iatrogene Störungen vermieden werden. In der Alltagsroutine der Praxis, der Ambulanz und der Station fehlt oft die Zeit, die schmerzrelevanten Daten umfassend zu erfragen. Um dieses Defizit zu beseitigen und gleichzeitig eine zufriedenstellende Dokumentation zu erhalten, wurden zur einfachen, zeitsparenden Erfassung der Schmerzvariablen bzw. der schmerzbedingten Behinderung, der Depression, der Lebensqualität von dem Patienten auszufüllende theoriegeleitete, validierte Schmerzfragebögen (z.b. der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes [DGSS]) entwickelt. Der Schmerz-Chronifizierungsprozeß Das internationale Schrifttum kennt nur eine dichotome Aufteilung von Schmerzen in eine akute und eine chronische Form, so daß schließlich auch die Behandlungseinheiten in acute and chronic pain services aufgeteilt wurden. Hierbei wird dann suggeriert, daß es sich bei den Akut-Schmerzpatienten und den Chronisch-Schmerzkranken jeweils um homogene Subpopulationen handelt. Gleichzeitig wird unterstellt, daß die akuten Schmerzen monokausal entstehen, leicht verständliche pathobiologische Mechanismen haben, leicht zu diagnostizieren und monokausal und stets monodisziplinär behandelbar sind. Auch dieses binäre ärztliche Denken untersteht einem rein biologischmedizinischen Konzept. Bei diesem simplistischen Konzept wird leider nicht darüber nachgedacht, warum sich aus den gut überschaubaren, leicht zu behandelnden Akutschmerzen chronische Schmerzen überhaupt entwickeln können. Jeder Arzt kennt zahlreiche Patienten, bei denen ein dynamischer Schmerz- Entwicklungsprozeß abgelaufen ist. Der Verlauf von seltenen einseitigen Migräneanfällen über häufigere Migräneanfälle pro Monat, über die beidseitige Ausbreitung des Anfallschmerzes, über fast tägliche Kopfschmerzen hin zum Dauerschmerz mit Medikamentenmißbrauch ist jedem Arzt vertraut. Dennoch wird dieser Entwicklungsprozeß, dieses eindeutige Kontinuum der Schmerzchronifizierung radikal dichotom in akute und chronische Schmerzen aufgeteilt. Im internationalen Schrifttum erfolgt die Aufteilung 5

(cutt-off-point) an der 6-Monate-Marke, obgleich die Sinnlosigkeit dieser Zuordnung seit Jahren bekannt ist. Epidemiologische Untersuchungen der vergangenen 40 Jahre haben gezeigt, daß fast alle Erkrankungen sehr unterschiedlich in ihrer Stärke, in ihrem Ausprägungsgrad auftreten. Rose wies nach, daß es sich unter epidemiologischen Gesichtspunkten fast ausnahmslos um eine kontinuierliche Ausprägungscharakteristik der Krankheiten und Störungen handelt. Er erstellte das Modell des Kontinuums des Ausprägungsgrades der Erkrankung [model of the continuum of the severity of disease] und zeigte, daß sich die einzelnen Krankheitsausprägungen diesem Kontinuum zuordnen ließen. Bei rigoroser Anwendung dieses Kontinuummodells wird rasch deutlich, daß es keine einfache dichotome Aufteilung der Menschen in Gesunde und Kranke oder der Patienten in Depressive und Nichtdepressive, in Hypertoniker und Nichthypertoniker geben kann. Menschen, die bei dem Ausfüllen eines Depressionsfragebogens Werte direkt unter dem sicher mit einer depressiven Störung verbundenen Cutt off point erreichen, können nicht zu den Depressiven gerechnet werden. Sie sind allerdings Risikopatienten nach dem Kontinuummodell und müssen dementsprechend nachuntersucht werden. Die Zusammenhänge zwischen dem Ausprägungsgrad der Erkrankung oder dem Schmerzgeschehen und dem Krankheitsrisiko müssen erkannt werden. Im Zusammenhang mit dem Schmerzchronifizierungsprozeß müssen die Ausprägungsgrade aller Störungen der biologischen - psychischen - und psychosozialen Dimensionen charakterisiert werden, um eine erfolgsversprechende Therapie einleiten zu können. Der Ausprägungsgrad der Störungen entscheidet auch darüber, ob eine monodisziplinäre Behandlung durchgeführt werden kann oder ob eine interdisziplinäre Behandlung obligat ist. Nur eine patientenorientierte, fachübergreifende Fortbildung kann diese Zusammenhänge lebendig werden lassen. Im DRK-Schmerz-Zentrum Mainz wurde in den vergangenen 15 Jahren ein Chronifizierungsmodell des Schmerzes erarbeitet, das die bio-psycho-sozialen Bedingungen des Schmerzes erfaßt (Gerbershagen, Schmitt und Gerbershagen, Wurmthaler et al., Hardt). Der Ausprägungsgrad der Schmerzerkrankung wurde empirisch aus den umfangreichen 6

Daten der eigenen Klinik und den Literaturangaben der verschiedenen medizinischen, psychologischen und soziologischen Disziplinen festgelegt (s. verkürzte Darstellung der Tabelle 1). Die Dimensionen erfassen zeitliche und räumliche Aspekte, das Medikamenteneinnahmeverhalten, die Beanspruchung der Einrichtungen unseres Gesundheitssystems und psychische und soziale Determinanten. Es wurde angenommen, daß die Therapieergebnisse (Außenkriterium) mit zunehmender Schmerzchronifizierung schlechter werden. Die Datenanalyse zeigte, daß aus den schmerzcharakterisierenden Items (s. Tabelle 1) nur 10 Variablen die ersten 4 Achsen determinieren. Die 5. Achse [psychische und soziale Dimensionen] soll hier nicht weiter operationalisert und dargestellt werden. Wie Abbildung 2 zeigt, wird jeder Variablen ein definierter Stadienwert (1-3) (Gewichtung) zugeordnet. Die Stadienwerte jeder Achse (Dimension) werden dann zunächst zur Achsensumme addiert, und schließlich werden die einzelnen Achsensummen zu dem Achsenstadium (I-III) zusammengefaßt. Die Addition der einzelnen Achsenstadien ergibt die Gesamtsumme aller Achsen (Werte von 4-12), aus der dann das zutreffende Gesamtstadium (I-III) durch erneute Addition berechnet wird. der Methode der multiplen Regression überprüft. Ebenfalls wurden in Zusammenarbeit mit Wermuth alternative Berechnungen mit Hilfe von log-linearen Modellen für Teilzusammenhänge durchgeführt. Als abhängige Variable wurde der Summenscore der Stadieneinteilung (= Addition der Achsenstadien, siehe Abbildung 2), als die unabhängigen Variablen wurden die 10 (Roh-) Variablen des Stadiensystems vorgegeben. Untersucht wurden dann die Beiträge der einzelnen Variablen zum Gesamtmodell und die Anpassung der Regression an die empirischen Werte der abhängigen Variablen. Die Brauchbarkeit des Modells wurde dann auch durch einen signifikanten F-Wert und einen hohen R²-Wert bestätigt Die Regressionsanalyse der 10 stadiendefinierenden Variablen ergab einen R²-Wert von 0.89 (F = 0.0000). Das Zusammenwirken der Variablen wurde dann in linearen und quadratischen Effekten [N = 987]) und zeigte eine ausgezeichnete Anpassung der Regression an die abhängige Variable. Alle Variablen trugen signifikant zu dem Stadienmodell bei. Es ergab sich keine signifikanten Beziehungen zwischen den einzelnen Achsen des Stadienmodells. Die Majorität der Patienten befand sich im Chronifizierungsstadium II (51,8 %). 38,6 % der Patienten wurden dem Stadium III und 8,6 % dem Stadium I zugeordnet. Die Vorstellung von lediglich 4 Dimensionen unseres Chronifizierungsmodells wird hier gewählt, um zu zeigen, daß auch ohne gute Kenntnisse psychosozialer Zusammenhänge eine Stadienzuordnung durch Ärzte und paramedizinisches Personal möglich ist. So kann ein wesentliches Hemmnis für Chronifizierungserfassungen des Schmerzes um- 7

gangen werden. Dies ist unabdingbar für epidemiologische Studien. Es ist selbstverständlich, daß, wo immer es möglich ist das volle Ausmaß der psychischen und psychosozialen Dimension gleichzeitig erfaßt und berücksichtigt werden muß. Die Stadienzuordnung unterscheidet, wie erwartet, eindeutig die Therapieergebnisse. In einer Vielzahl von eigenen und fremden Untersuchungen erfahren die Patienten im Stadium I eine 65-70% deutliche Schmerzlinderung und im Stadium III bei multidisziplinärer Behandlung in 70% keine Schmerzlinderung. Die Stadieneinteilung unterscheidet deutlich zwischen ambulanten und stationären Schmerzpatienten und zwischen Schmerzsyndromgruppen. So sind Kopfschmerzpatienten in Schmerzbehandlungseinheiten prozentual immer doppelt so häufig im Stadium I vertreten wie Kreuzschmerzpatienten. Es zeigte sich bei allen Untersuchungen, daß z.b. die Schmerzintensität und die depressive Symptomatik unabhängig von der Erkrankungsdauer sind. Signifikante Unterschiede finden sich jedoch in den Schmerzdauer-unabhängigen Stadien. Psychologische Diagnosen (ICD-10; DSM-IV) müssen mit höherem Stadium signifikant häufiger gestellt werden, auch finden sich öfters mehrere DSM-IV-Diagnosen gleichzeitig im Stadium II und III. Die schmerzbedingte Behinderung nimmt mit dem Chronifizierungsprozeß zu. Die Lebensqualität der Patienten, erfaßt mit den Frageinventaren Short-Form-36 des Medical Outcome Study (SF-36), dem Nottingham Health Profile (NHP) und den Fragen zur Lebenszufriedenheit (FLZ) von Henrich et al., reduziert sich sicher signifikant vom Stadium I zum Stadium III. Die Mainzer Stadieneinteilung (Abbildung 1) der Schmerzchronifizierung ist ein valides, reliables Meßinstrument, das zur Qualitätssicherung beiträgt. Es kann Hilfestellung geben bei der Erstellung von operationalisierten diagnostischen Kriterien. Für den Vergleich der Effektivität von Therapieverfahren ist es derzeit das einzige valide Instrument. Für den Vergleich der Patienten in Praxen, Ambulanzen und teilstationären und stationären Bereichen ist das Stadiensystem unentbehrlich. Da das Ausprägungsmaß der Schmerzstörung exakt erfaßt werden kann, ist das Mainzer Stadiensystem für die Festlegung z.b. von Fallpauschalen unabdingbar. 8

Formulare und Anweisungen zum Ausfüllen der Stadienzuordnung können angefordert werden. Der Verlauf der Schmerzbehandlung Ohne Dokumentation des Behandlungsablaufes durch den Arzt und die deutlich zeitaufwendigeren Registrierungen des Schmerzintensitätsverlaufs mittels Schmerztagebücher durch den Patienten kann keine Objektivierung von Therapieergebnissen erfolgen. Nachbefragungen der Patienten mittels Fragebögen zur Ermittlung des Therapieverlaufes (ein validierter Fragebogen liegt von der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes vor) können die Wirksamkeit der Behandlungsmaßnahmen bzw. die weitere Entwicklung des Schmerzgeschehens zuverlässig erfassen. Diese kurzen Skizzierungen sollten verdeutlichen, daß verantwortete Schmerztherapie mehr ist als die Ausschaltung nozifensiver Reize. Schmerztherapie muß von jedem Arzt jeder Disziplin, primär mit dem Handwerkszeug des eigenen Fachgebietes, durchgeführt werden. Um die Schmerzchronifizierung, die über das therapeutische Resultat entscheidet, zu verhindern, müssen alle Ärzte sich noch intensiver als bisher mit theoriegeleiteten Schmerzmodellen, um das Kontinuum des Schmerzausbreitungsgrades und um eine den Chronifizierungsprozeß frühzeitig erfassende Dokumentation des Schmerzgeschehens befassen. Wie aus der Entwicklung der letzten Jahre deutlich geworden ist, werden die Kostenträger die Mehrarbeit der Ärzte honorieren. Das Kursangebot der Akademie für Ärztliche Fortbildung Rheinland-Pfalz für die Spezielle Schmerztherapie ist ein Angebot, das auch unabhängig von dem Erwerb der Zusatzbezeichnung Spezielle Schmerztherapie von Ärzten aller Fachgebiete angenommen werden sollte. Schmerztherapie sollte ein neuer Bereich ärztlicher Tätigkeit werden. Die Voraussetzungen muß jeder Arzt eines jeden Fachgebietes selbst schaffen. Literatur beim Verfasser 9