Kooperative Bewertung und Kommunikation der systemischen Risiken ubiquitärer Informations- und Kommunikationstechnologien



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Transkript:

Kooperative Bewertung und Kommunikation der systemischen Risiken ubiquitärer Informations- und Kommunikationstechnologien Förderkennzeichen: 07VPS15 Schlussbericht Forschungsverbund AACCrisk

Titel: Endbearbeitung: Kooperative Bewertung und Kommunikation der systemischen Risiken ubiquitärer Informations- und Kommunikationstechnologien Dr. H.-Peter Neitzke, Dr. Silke Kleinhückelkotten Inhaltliche Beiträge: ECOLOG- Institut für sozial-ökologische Forschung und Bildung (ECOLOG) Dieter Behrendt Dr. Silke Kleinhückelkotten Dr. H.-Peter Neitzke Dr. Julia Osterhoff Eckhardt Steinmüller Dagny Vedder Dr. Hartmut Voigt Elisabeth Wegner Interfakultäre Koordinationsstelle für Allgemeine Ökologie, Universität Bern, Bern, Schweiz (IKAÖ) Dr. Susanne Bruppacher Stephanie Moser Sinus Sociovision GmbH, Heidelberg, Deutschland (SINUS) Marc Calmbach Wolfgang Plöger Dr. Carsten Wippermann Katja Wippermann Erscheinungsdatum: September 2010 Kontakt: Dr. H.-Peter Neitzke ECOLOG-Institut für sozial-ökologische Forschung und Bildung Nieschlagstr. 26 30449 Hannover Tel. 0511-473915-12 E-Mail peter.neitzke@ecolog-institut.de In diesem Bericht werden, wo immer es möglich ist, geschlechtsneutrale Formulierungen verwendet. Wo es von der Sache her geboten ist, wird explizit die weibliche oder männliche Form benutzt. An anderen Stellen folgt die Wortwahl um der besseren Lesbarkeit willen den allgemeinen sprachlichen Konventionen. Aus Sicht des Autorenteams bedeutet dies keine Geringschätzung der Rolle von Frauen in Gesellschaft und Wissenschaft.

Danksagung Bei der Bearbeitung des Projekts Kooperative Bewertung und Kommunikation der systemischen Risiken ubiquitärer Informations- und Kommunikationstechnologien wurde der Forschungsverbund AACCrisk von zahlreichen Kolleginnen und Kollegen aus wissenschaftlichen Forschungsinstituten und Unternehmen, aus Gewerkschaften und Verbraucherverbänden sowie von engagierten Bürgerinnen und Bürgern unterstützt. Der Erfolg des Projekts ist nicht zuletzt auch ihrem Engagement im Projektbeirat und bei den Veranstaltungen sowie ihrer Mitarbeit im Rahmen der Risikoanalyse und bei der Entwicklung von Vorsorgestrategien zu verdanken. Aus den Kooperationen haben sich in einigen Fällen Perspektiven für eine längerfristige Zusammenarbeit ergeben. Wichtige Impulse erhielt das Vorhaben auch durch einige Gutachter sowie durch den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, die andere Projekte im Rahmen des BMBF-Förderschwerpunkts Sozial-ökologische Forschung / Strategien zum Umgang mit systemischen Risiken bearbeiteten. Für die Zusammenarbeit bei der Organisation und Durchführung des AACC-Forums in der Ev. Akademie Loccum gebührt Dr. Albert Drews besonderer Dank, desgleichen Cornelia Brandt, Ver.di Bundesverwaltung, und Monika Büning, Verbraucherzentrale Bundesverband e.v., für ihr inhaltliches Engagement und die organisatorische Hilfestellung im Zusammenhang mit zwei Experten- und Stakeholder-Werkstätten. Der Forschungsverbund AACCrisk dankt dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für die Förderung des Vorhabens im Rahmen des Förderschwerpunkts Sozial-ökologische Forschung / Strategien zum Umgang mit systemischen Risiken und dem Projektträger für dessen Betreuung. Dank für die finanzielle Unterstützung der Arbeiten in der ersten Phase des Projekts geht auch an die Deutsche Telekom AG.

Inhalt 1 HINTERGRUND... 1 1.1 Begriffsbestimmungen... 1 1.2 AACC: Allgegenwärtige, jederzeit verfügbare Informations- und Kommunikationstechnik... 2 1.3 IKT und AACC als Schlüsseltechnologien... 3 1.4 Chancen und Risiken von IKT und AACC... 5 2 BEITRAG DES PROJEKTS ZUR SÖF UND ZUR BEKANNTMACHUNG... 6 3 ZIELSETZUNG... 7 4 STAND DER FORSCHUNG... 8 4.1 Risiken von AACC... 8 4.2 Systemische Risiken: Ursprünge und Ansätze zur Definition des Begriffs... 12 4.3 Wahrnehmung der Risiken von IKT und AACC in der Bevölkerung... 15 5 VORGEHEN UND METHODIK... 18 5.1 Analyse der Risiken von AACC... 20 5.1.1 Identifizierung und Bewertung der Risiken von AACC... 20 5.1.2 Vertiefende Analysen ausgewählter Risiken von AACC... 24 5.2 Untersuchungen zur Technikaffinität und Risikowahrnehmung in der Bevölkerung... 25 5.2.1 Qualitative Grundlagenstudie... 25 5.2.2 Quantitative Repräsentativbefragung... 26 5.2.3 Subjektive Risikobewertung und individuelle Reaktionsintentionen... 26 5.3 Risikodialog und Risikoaufklärung... 30 5.3.1 Grundlagen für eine zielgruppengerechte Risikokommunikation... 30 5.3.2 Experten-, Stakeholder- und Bürgerdialog... 33 5.3.3 Angebote für Journalisten... 37 5.3.4 Angebote für die Bildungsarbeit... 38

6 ERGEBNISSE... 38 6.1 AACC-Szenarien: Blicke in die Welt von morgen... 38 6.2 Risiken von AACC... 45 6.2.1 Risikosystematik... 45 6.2.2 Bewertung der Risiken von AACC durch Experten und Laien... 45 6.2.3 Ökologische und gesundheitliche Risiken von AACC... 51 6.2.4 Systemische Risiken... 55 6.3 Technikaffinität und Risikowahrnehmung... 68 6.3.1 Wahrnehmung der Chancen und Risiken von IKT und AACC... 68 6.3.2 Subjektive Risikobewertungen und Intentionsbildung zu möglichen Reaktionsweisen... 77 6.4 Risikokommunikation und Risikodialog... 86 6.4.1 Zielgruppengerechte Risikokommunikation... 86 6.4.2 Risikodialog... 93 6.5 Vorschläge zur Risikominimierung bei AACC... 95 6.5.1 Allgemeine Grundsätze... 95 6.5.2 Minderung der Risiken für Verbraucher durch AACC im Handel... 96 6.5.3 Minderung der Risiken durch AACC in Medizin und Gesundheitswesen... 97 6.5.4 Minderung der Risiken durch AACC im Bereich 'Öffentliche Sicherheit'... 99 6.5.5 Minderung der Risiken durch AACC an Arbeitsplätzen... 100 7 VERWERTUNGSPLANUNG... 101 8 KOOPERATIONEN... 102 9 IM PROJEKT ENTSTANDENE LITERATUR UND ANDERE PRODUKTE... 106 10 NACHWUCHSQUALIFIKATIONEN... 108 11 VERANSTALTUNGEN... 108 12 LITERATUR UND ANDERE QUELLEN... 109

1 Hintergrund 1.1 Begriffsbestimmungen Im Folgenden wird für einige in diesem Bericht häufig verwendete Begriffe eine Definition gegeben bzw. es wird erläutert, wie der jeweilige Begriff in diesem Bericht verstanden wird. AACC (Anytime, Anywhere Communication and Computing): Allgegenwärtige und jederzeit verfügbare sowie weitgehend vernetzte Informations- und Kommunikationstechnik Chance: Möglichkeit des Eintritts eines Nutzens Informations- und Kommunikationstechnologie (-technik) (IKT, engl. information and communication technology, Abk. ICT): Technologien ( Techniken) im Bereich der Informationsverarbeitung und interpersonalen Kommunikation RFID (Radio frequency identification): technisches Verfahren zur Identifizierung von Objekten, in einigen Anwendungen auch von Tieren und Menschen, anhand kontaktlos, per Funk auslesbarer Datenträger Risiko: Möglichkeit des Eintritts eines Schadens; versicherungsmathematisch: R = P S (R: Risiko, P: Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadens, S: Höhe des Schadens) Risikoabschätzung: Identifizierung, Quantifizierung und Bewertung von Risiken d. h. Identifizierung möglicher Schäden und Prognose der Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens und ihres Ausmaßes auf der Basis des verfügbaren Wissens Risikoanalyse: möglichst quantitative Bestimmung der Höhe von Risiken bzw. der Eintrittswahrscheinlichkeiten von konkreten Schadensereignissen und der Höhe der Schäden mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden Risikobewertung: Beurteilung der Zumutbarkeit eines Risikos auf der Basis der Ergebnisse einer Risikoanalyse und der Risikowahrnehmung Risikokommunikation: Interaktiver Austausch von Informationen über mögliche negative Auswirkungen von Ereignissen, Handlungen, Techniken, Stoffen usw. mit einem oder mehreren der folgenden Ziele: - Sensibilisierung für Risiken - Verbesserung des Wissens über Risiken - Veränderung von Einstellungen zu Risiken - Veränderung risikobezogener Handlungs- und/oder Verhaltensweisen - Lösung von Konflikten um Risiken Risikomanagement: Gesamtheit aller Maßnahmen zur Reduzierung, Steuerung und Regulierung von Risiken Risikowahrnehmung: Einschätzung einer Risikosituation aufgrund intuitiver Beurteilung, persönlicher Erfahrung und persönlichen Wissens Schaden: Unerwünschte Folgen einer Handlung oder eines Ereignisses Technik (von altgr. téchne: Fähigkeit, Kunstfertigkeit, Handwerk): alle Gegenstände, Verfahren, Systeme, die durch definierbare Funktionen bestimmten Zwecken dienen. Anmerkung: Gemäß VDI-Richtlinie 3780 zur Technikbewertung umfasst Technik: - die Menge der nutzenorientierten, künstlichen, gegenständlichen Gebilde (Artefakte, Sachsysteme), 1

- die Menge menschlicher Handlungen und Einrichtungen, in denen Sachsysteme entstehen und - die Menge menschlicher Handlungen, in denen Sachsysteme verwendet werden. Technologie (von altgr. téchne: Fähigkeit, Kunstfertigkeit, Handwerk und altgr. lógos: Lehre, Vorgehensweise): Gesamtheit der technischen Komponenten und Verfahren sowie der materiellen und organisatorischen Voraussetzungen zur Produktion von Stoffen, Waren oder Dienstleistungen mit einem bestimmten Zweck (z. B. Informationsund Kommunikationstechnologie) oder einem gemeinsamen Merkmal (z. B. Biotechnologie, Nanotechnologie); im engeren Sinn: Lehre oder Wissenschaft von einer Technik. Anmerkung: Im angelsächsischen Sprachraum (und in diesem Bericht) wird nicht zwischen Technik und Technologie unterschieden. Das Bedeutungsspektrum des englischen Begriffs technology reicht von Technik über Gerät, Werkzeug, Computerprogramm bis zu System und Verfahren. Auch in Deutschland wird der Begriff Technologie im allgemeinen Sprachgebrauch häufig als Synonym für Technik verwendet. 1.2 AACC: Allgegenwärtige, jederzeit verfügbare Informations- und Kommunikationstechnik Im Jahr 1991 beschrieb Mark Weiser, damals leitender Wissenschaftler am Xerox- Forschungszentrum im Silicon Valley, seine Vision der Eigenschaften des Computers im 21. Jahrhunderts: allgegenwärtig und jederzeit verfügbar, aber unsichtbar und unaufdringlich (Weiser 1991). In Weisers Vorstellung sollte die Technik reines Mittel zum Zweck sein, sie sollte in den Hintergrund treten und die Hardware weitgehend unsichtbar sein, die Möglichkeiten zur Verarbeitung von Daten sollten aber praktisch überall verfügbar sein, um den Menschen bei seinen Tätigkeiten zu unterstützen und ihn möglichst weitgehend von lästigen Routineaufgaben zu befreien. Weiser prägte hierfür den Begriff 'Ubiquitous Computing', andere benutzten später den Begriff 'Anytime, Anywhere Computing'. Verbreiteter ist heute der Begriff 'Pervasive Computing', der ebenfalls für eine überall eindringende und allgegenwärtige Informationsverarbeitung steht. In Europa wurde und wird versucht, den stark USamerikanisch geprägten Konzepten eine eigene technologische Strategie entgegenzusetzen, für die der Begriff 'Ambient Intelligence' verwendet wird und die zusätzlich Aspekte der Mensch-Maschine-Interaktion und der künstlichen Intelligenz umfasst. Im Kern geht es jedoch immer um dasselbe: eine umfassende Unterstützung des Menschen und die Optimierung wirtschaftlicher Prozesse durch Informations- und Kommunikationstechnik (IKT), das heißt eine Vielzahl von Mikroprozessoren und Sensoren, die in die Umgebung eingebracht werden, große Datenmengen erheben, verarbeiten und über drahtlose Vernetzungen miteinander austauschen können. In neueren Konzepten wird allerdings nicht mehr nur die Realisierung einer allgegenwärtigen informationstechnischen Infrastruktur zur Erhebung, Verarbeitung und Bereitstellung von Daten angestrebt, sondern es werden auch neue Möglichkeiten für eine technisch vermittelte Kommunikation durch das Zusammenwachsen von Informations- und Kommunikationstechnik propagiert. 'Anytime, Anywhere Communication and Computing' (AACC) steht für diese um Kommunikationsanwendungen erweiterte technologische Perspektive. 2

AACC ist durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet: Miniaturisierung: Die IKT-Komponenten werden immer kleiner und mobiler. Einbettung: IKT-Komponenten sind in Geräte und Gegenstände des täglichen Gebrauchs integriert ('Smart Objects'). Vernetzung: Die IKT-Komponenten sind meist drahtlos miteinander vernetzt. Die Vernetzung erfolgt spontan je nach den technisch, örtlich und zeitlich gegebenen Möglichkeiten. Allgegenwart: Eingebettete IKT-Komponenten sind allgegenwärtig, sie versehen ihre Dienste unauffällig und weitgehend unsichtbar. Kontextsensitivität: Die IKT-Komponenten beschaffen sich durch drahtlosen Datenaustausch und mittels Sensoren Informationen über ihren Nutzer und ihre Umgebung und richten ihr Verhalten danach aus. 1.3 IKT und AACC als Schlüsseltechnologien AACC ist aus ökonomischer Sicht höchst attraktiv, sowohl für Unternehmen, die Komponenten dafür anbieten oder die technische Infrastruktur aufbauen und betreiben werden, als auch für Unternehmen, die die Möglichkeiten von AACC für ganz neue Geschäftsfelder oder zur Erhöhung ihrer Effizienz nutzen können. Zudem stellt die Realisierung von AACC eine große technische Herausforderung mit einem Potential für erhebliche positive Nebeneffekte für andere Technikbereiche dar. Deshalb wird, unterstützt durch große Forschungsprogramme, die alle führenden Industrieländer aufgelegt haben, in den F&E-Abteilungen der großen IKT-Konzerne und in wissenschaftlichen Instituten weltweit intensiv an der für AACC notwendigen Technik geforscht und es werden immer neue Vorschläge für Anwendungen entwickelt. Die folgenden kurzen Beschreibungen ausgewählter Anwendungsfelder verdeutlichen die Potentiale von AACC. Information und Kommunikation AACC wird den jederzeitigen und allgegenwärtigen Zugang zu Informationen ermöglichen, Informationsangebote werden auf die spezifischen Merkmale einer Person und den situativen Kontext abgestimmt. Mit AACC wird eine technisch vermittelte Kommunikation an jedem Ort zu jeder Zeit möglich. Medizin und Gesundheitswesen Am Körper getragene Sensoren, die medizinische Daten erfassen und an den Arzt übertragen, werden eine umfassende Überwachung des Gesundheitszustandes von Patienten erlauben. Ein permanentes Monitoring gesundheitsrelevanter Aktivitäten (Bewegung, Ernährung, Genussmittelkonsum) wird neue Formen der Prävention und eine risikogerechte Beteiligung an den Krankheitskosten ermöglichen. 3

Unternehmen und Arbeitswelt Die Arbeitswelt wird sich durch AACC stark wandeln, weil viele Kontroll- und Überwachungsfunktionen von technischen Systemen übernommen und viele betriebliche Abläufe automatisiert werden können. Die jederzeitige und allgegenwärtige Verfügbarkeit von Daten, Informationen und Computerleistungen wird zu neuen Formen der Arbeitsorganisation ohne feste Arbeitsplätze und -zeiten führen. Handel und Dienstleistungen Durch die Kennzeichnung von Produkten mit kontaktlos elektronisch auslesbaren Etiketten (z. B. RFID-Tags) wird eine weitgehende Automatisierung in der Logistik möglich. Die Zusammenführung der Produktdaten mit allgemeinen Kundendaten, die z. B. über eine elektronische Kundenkarte oder die bargeldlose Bezahlung verfügbar sind, wird die weitgehende Erfassung von Konsumaktivitäten und damit die Erstellung umfassender Konsumentenprofile erlauben. Diese können von den Anbietern unter anderem für die Erstellung personen- oder kontextbezogener Angebote genutzt werden. Auch für andere Bereiche können Persönlichkeitsprofile erstellt werden, die eine gezielte Bewerbung von Kunden oder die Anpassung von Versicherungsprämien an das Risikoverhalten erlauben. Viele Bezahlvorgänge, insbesondere bei kleineren Beträgen, z. B. Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr und Eintrittspreise, können automatisiert werden. Sicherheit Mit AACC kann nicht nur festgestellt werden, wo sich eine Person gerade aufhält, auch ein umfassendes Monitoring von Verhaltensweisen und eine situationsbezogene Kontrolle von Aktivitäten werden möglich. Dies kann z. B. zur Verbrechensprävention und zur Fahndung genutzt werden, aber auch, um Fehlverhalten in Risikosituationen im Alltag, z. B. beim Autofahren, zu erkennen und die Betroffenen zu warnen bzw. durch technische Gegenmaßnahmen vor Schäden zu bewahren ('Elektronische Schutzengel'). Wohnen AACC-Techniken werden in Häusern und Wohnungen zur Automatisierung vieler Versorgungsfunktionen (z. B. Wärme, Lüftung) eingesetzt, aber auch um z. B. die Atmosphäre eines Raums (Beleuchtung, Musikhintergrund) an die Präferenzen des jeweiligen Nutzers anzupassen oder aus der Fülle von Fernsehprogrammen die Sendungen herauszusuchen, die mit dem Interessenprofil der Person, die vor dem Fernsehgerät Platz nimmt, übereinstimmen. Sensoren im Kühlschrank und in den Vorratsschränken werden in Verbindung mit einem Haushaltsführungscomputer automatisch erfassen, wenn Produkte des täglichen Bedarfs zur Neige gehen, und diese automatisch nachbestellen. Oder sie helfen bei der richtigen Sortierung von Abfall oder Schmutzwäsche. 4

1.4 Chancen und Risiken von IKT und AACC Bereits heute hat die Informations- und Kommunikationstechnik nicht nur eine wirtschaftliche Schlüsselfunktion, sondern sie bietet auch für den Alltag viele neue Möglichkeiten: Mobiltelefone ermöglichen (technisch vermittelte) Kommunikation an fast jedem Ort zu fast jeder Zeit. Nachrichten und andere Informationen sind via mobiles Internet jederzeit und überall verfügbar. Mit einem WLAN-fähigen Notebook oder einem Smartphone können Bank- und andere Geschäfte vom Garten aus erledigt werden. Eltern können per Mobiltelefonortung jederzeit feststellen, wo sich ihr Kind (bzw. sein Handy) gerade aufhält. Diese neuen Möglichkeiten haben, zumindest in Bevölkerungssegmenten, in denen sie stark genutzt werden, bereits zu weit reichenden Einstellungs- und Verhaltensänderungen geführt: Über das Mobiltelefon praktisch jederzeit erreichbar zu sein, ist selbstverständlich. Verabredungen erfolgen bei Jüngeren zunehmend unverbindlich, mit der Option im letzten Moment per SMS ab- oder zuzusagen. Mit Hilfe von Foto-Handy und Internet wird das persönliche Leben dokumentiert und ausgestellt. Was von den einen gerne und selbstverständlich genutzt wird, ist für andere eine Schreckensvorstellung: Für sie ist der Anspruch, jederzeit erreichbar sein zu 'müssen', eine Zumutung. Dass immer größere Informationsmengen verfügbar sind, empfinden sie eher als Last denn als Gewinn. In ihren Augen bringt die Möglichkeit, Mobiltelefone zu orten, keinen Gewinn an Sicherheit, sondern sie birgt die Gefahr, dass dies für eine umfassende Überwachung genutzt wird. In der freiwilligen Preisgabe persönlichster Informationen sehen sie vor allem das Risiko, dass diese missbräuchlich genutzt werden, und die Gefahren die darin liegen, dass 'das Netz' nichts vergisst. Zu den ethischen und moralischen Kritikpunkten kommen ökologische und gesundheitliche Einwände gegen die Vielzahl an Sendeanlagen und Geräten: Risiken für die Umwelt werden vor allem gesehen im Verbrauch knapper Ressourcen für die Herstellung von Mobiltelefonen und anderen Geräten bzw. in der Zerstörung von Lebensräumen und in dem Einsatz ökotoxischer Substanzen bei der Gewinnung der Rohstoffe. Weitere ökologische Kritikpunkte sind der enorme Energieverbrauch durch Computer und Mobilfunknetze und seine Auswirkungen auf das Klima sowie die Freisetzung von Umweltgiften bei der 'Entsorgung' von Geräten. Beeinträchtigungen der Gesundheit werden vor allem als Folge der drahtlosen Vernetzung befürchtet, da diese dazu führt, dass Nutzer, aber auch Unbeteiligte, nahezu permanent elektromagnetischen Feldern ausgesetzt sind. Die Realisierung der von Marc Weiser beschriebenen Vision, mit der Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts gerechnet wird, soll wirtschaftliche, soziale und individuelle Möglichkeiten eröffnen, die weit über das hinausgehen, was die heute verfügbare Informations- und Kommunikationstechnik bieten kann. Das Ziel ist nicht nur ein mehr an Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, sondern eine ganz neue Qualität des Verhältnisses zwischen Mensch und Technik mit wahrscheinlich weit reichenden Folgen für die individuelle Gestaltung des Alltags, die Beziehungen der Menschen untereinander und die Arbeitswelt. Hierin liegen Chancen, aber, wie der obige Blick auf die heutige Informations- und Kommunikationstechnik und ihre Anwendungen erwarten lässt, auch erhebliche Risiken. Eine Diskussion vornehmlich über die mit AACC verbundenen Chancen, weniger über die Risiken, findet bisher fast nur auf großen internationalen Tagungen oder in Beraterkreisen 5

der Regierungen und nahezu ausschließlich zwischen Wissenschaftlern, Technikern, Managern und Vertretern von Behörden statt. Angesichts der sozialen und ökologischen Implikationen von AACC ist aber eine breite öffentliche Auseinandersetzung darüber unverzichtbar, wie viel Technik bzw. welche technischen Anwendungen gesellschaftlich gewollt sind, wo aus ethischen und moralischen oder auch aus ökologischen Gründen Grenzen zu ziehen sind und wie unterschiedliche Interessen verschiedener Interessen- und Nutzergruppen in Einklang gebracht werden können. Diese Diskussion muss geführt werden, solange es noch möglich ist, Wünsche an die Technik bzw. ihre Anwendung und Bedenken von Bürgerinnen und Bürgern, gesellschaftlichen Akteuren sowie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die AACC unter anderen als rein technischen und ökonomischen Perspektiven betrachten, in den Forschungsprozess einzuspeisen. Die Diskussion muss auch rechtzeitig geführt werden, um genug Raum für politische Diskussionen über die Schaffung der notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen zu behalten. 2 Beitrag des Projekts zur SÖF und zur Bekanntmachung Die Informations- und Kommunikationstechnologien haben bereits heute nicht nur eine große wirtschaftliche Bedeutung sondern auch erhebliche Auswirkungen auf Kultur, soziale Werte und das menschliche Zusammenleben. Sie haben neue Möglichkeiten eröffnet, aber auch neue Probleme geschaffen, z. B. in Bezug auf die Datensicherheit und den Schutz der Privatsphäre, durch den Verbrauch knapper Ressourcen und die Auswirkungen auf das Klima infolge des zunehmenden Energieaufwands für IKT-Dienste. Es ist absehbar, dass die Bedeutung von IKT für die Wirtschaft und den Alltag in naher Zukunft noch einmal stark zunehmen wird und das nicht nur in quantitativer Hinsicht: Das Mensch-Technik-Verhältnis könnte durch eine weitgehend unsichtbare aber allgegenwärtige IKT-Infrastruktur und eine Vielzahl dezent im Hintergrund agierender IKT-Geräte eine neue Qualität erlangen: - Eine umfassende Abbildung des Menschen, seiner Aktivitäten und seiner Umwelt in e- lektronisch verarbeitbaren Daten wird nicht nur möglich sondern notwendig, um das Versprechen überall und jederzeit verfügbarer personen- und kontextspezifischer Informationsangebote und automatisierter Dienstleistungen einlösen zu können. - Auswahl- und Entscheidungsprozesse werden in hohem Maße an technische Systeme delegiert. - Objekte werden Daten austauschen und direkt miteinander interagieren, ohne dass der Mensch mitwirkt oder dies überhaupt bemerkt. - Die IKT-Infrastruktur wird das Kontroll- und Steuerungsrückgrat nahezu aller Funktionssysteme bilden, von denen das Alltagsleben und die Wirtschaft abhängen. In dieser Entwicklung liegen Chancen, denn sie verspricht eine umfassende Entlastung des Menschen von Routineaufgaben, die Beschleunigung von Wirtschaftsprozessen, neue Möglichkeiten sozialer Vernetzung und politischer Partizipation, einen verminderten Ressourcenverbrauch durch effektive Kontrolle und Steuerung. Sie könnte aber auch grundlegende Werte, wie die Autonomie des Individuums und den Schutz der Privatsphäre, in Frage stellen. Der Aufbau und der Betrieb dieser Infrastruktur könnten erhebliche ökologische Risiken mit sich bringen und zu hoher wirtschaftlicher Abhängigkeit führen. Zudem stellt sich die Frage nach der Beherrschbarkeit solch hochkomplexer technischer Systeme. In einer wertepluralistischen Gesellschaft kann es nicht allein wissenschaftlich-technischen 6

Experten, politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern überlassen werden, über die Chancen und Risiken technikbasierter Innovationen zu befinden und die Weichen für die Zukunft zu stellen. Stattdessen sind Bürgerinnen und Bürger zu einem frühen Zeitpunkt in die Bewertungs- und Entscheidungsprozesse einzubinden, es müssen Lern- und Reflexionsprozesse angestoßen werden und es muss ein breiter gesellschaftlicher Dialog darüber stattfinden, wie viel und welche Art Technik wünschenswert ist, welche Risiken akzeptiert werden können und wo Schranken zu setzen sind. Hierzu sollte das Vorhaben des Forschungsverbundes 'AACCrisk' durch einen transdisziplinären Forschungs- und Entwicklungsansatz sowie durch eine breit angelegte Risiko- und Wissenschaftskommunikation einen Beitrag leisten. Mit AACC würde ein hochkomplexes technikgestütztes System entstehen, das Überwachungs-, Kontroll- und Steuerungsfunktionen in ihrerseits wieder komplexen Versorgungs-, Verkehrs-, Kommunikations- usw. Systemen übernehmen würde. Ihr Funktionieren und Zusammenwirken ist die Voraussetzung für die Lebensfähigkeit arbeitsteilig organisierter, von der Zufuhr global verteilter Ressourcen abhängiger Gesellschaften. Daher stellt sich die Frage, welche Risiken für AACC als System bestehen, die gleichzeitig Risiken für die von AACC abhängigen Funktionssysteme darstellen, und, noch weiter gehender, ob durch AACC neue weit reichende gesellschaftliche oder ökologische Risiken entstehen. Im Rahmen des Vorhabens ging es nicht nur darum, Risiken für AACC als System oder für andere Funktionssysteme durch AACC zu identifizieren, sondern darüber hinaus das Konzept der systemischen Risiken weiter zu entwickeln. 3 Zielsetzung Das Projekt sollte dazu beitragen, a) die mit AACC möglicherweise verbundenen ökologischen, sozialen und ökonomischen Risiken sowie insbesondere mögliche systemische Risiken zu identifizieren und aus verschiedenen Akteurssichten zu bewerten, b) eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der technologischen Entwicklung im Bereich IKT und ihren Risiken anzuregen und zu unterstützen und c) Anregungen zur Vermeidung und Verminderung von Risiken in die Prozesse der Entwicklung der AACC-Technik und der Realisierung von AACC-Anwendungen einzuspeisen. Die aus den allgemeinen Zielen abgeleiteten operativen Ziele des Projekts waren in der Phase I (10/2005 09/2008): die Analyse der ökologischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Risiken von AACC bzw. konkreter Anwendungen ubiquitärer IKT und ihre Bewertung unter Beteiligung von Experten, gesellschaftlichen Akteuren und Laien, die Untersuchung der Wahrnehmung von Risiken im Zusammenhang mit IKT und AACC in der Bevölkerung und der daraus folgenden Handlungsintentionen differenziert nach sozialen Milieus, die Erarbeitung der Grundlagen für eine zielgruppengerechte Risikokommunikation im Zusammenhang mit AACC, die Identifizierung und systemwissenschaftlich eingebettete Klassifizierung systemischer 7

Risiken von AACC. Die wichtigsten operativen Ziele für die Phase II (11/2008 03/2010) des Projekts waren: die Vertiefung der Risikoanalysen und die kooperative Erarbeitung von Empfehlungen für Vorsorgestrategien im Zusammenhang mit AACC in ausgewählten Anwendungsbereichen und ihre Vermittlung an Politik, Wissenschaft und IKT-Wirtschaft, die Entwicklung eines Konzepts für eine zielgruppengerechte Risikokommunikation im Zusammenhang mit AACC, die Initiierung eines öffentlichen Dialogs über die Perspektiven von AACC und die damit verbundenen Risiken. 4 Stand der Forschung 4.1 Risiken von AACC Es wurden bereits einige Anstrengungen unternommen, Risiken des Pervasive Computing zu identifizieren und zu bewerten. Im Folgenden werden einige neuere Arbeiten vorgestellt, in denen Risiken von AACC als Gesamtsystem bzw. des Pervasive Computing behandelt werden. Hilty et al. (2003) haben die Auswirkungen von AACC auf Gesundheit und Umwelt untersucht. Schwerpunkte der Untersuchung waren - gesundheitliche Risiken durch den direkten Kontakt mit elektronischen Komponenten - gesundheitliche Risiken durch hochfrequente elektromagnetische Felder - Umweltbelastungen durch die Produktion der Komponenten - Umweltbelastungen durch den Energieverbrauch beim Betrieb - Umweltbelastungen durch Elektronikabfälle - Auswirkungen auf Entsorgungsprozesse durch Integration elektronischer Komponenten in Produkte bzw. Verpackungen Die Risiken wurden durch die Autoren bewertet, ergänzend wurden einzelne Experten befragt und zwei Workshops mit Experten durchgeführt. Die wesentlichen Befunde sind: - Eine Zunahme der Exposition der Bevölkerung gegenüber nicht-ionisierender Strahlung ist wahrscheinlich, die damit möglicherweise einhergehenden Gesundheitsrisiken sind ungeklärt. - AACC wird sowohl zusätzliche Belastungen (Material- und Energieverbrauch) als auch Entlastungen (Dematerialisierung, Verkehrsvermeidung) für die Umwelt mit sich bringen. Ob in der Summe die positiven oder die negativen Auswirkungen überwiegen, hängt hauptsächlich von den energie- und abfallpolitischen Rahmenbedingungen ab, unter denen sich Infrastrukturen und Anwendungen entwickeln. Außerdem werden als Risiken genannt: - Stress, z. B. aufgrund des Gefühls überwacht zu werden oder wegen der steigenden Anforderungen an die Produktivität des Einzelnen, und seine Auswirkungen auf die Gesundheit, - der durch die Entwicklung in Richtung AACC steigende Zwang, diese Technologie zu nutzen, z. B. weil es keine Alternativen mehr gibt, - die Aushöhlung des Verursacherprinzips durch die hohe technische Komplexität, die es unmöglich machen kann, die Ursache und den Verursacher von Schäden zu identifizie- 8

ren. (s. a. Koehler & Som 2005; zur elektromagnetischen Exposition: Würtenberger & Behrendt 2004, zur Abfallproblematik: Kräuchi et al. 2005, Wäger et al. 2005) Die künftigen Umweltauswirkungen von IKT wurden auch in einem europäischen Verbundprojekt analysiert (Erdmann et al. 2004). Anhand von drei Szenarien mit unterschiedlichen Annahmen bezüglich der Art der technischen Regulierung, der Einstellungen gegenüber IKT, der Kooperation bzw. Konkurrenz der Unternehmen auf dem IKT-Markt und der Umwelteinstellungen wurden mit Unterstützung durch externe Experten die Umweltwirkungen über die folgenden Indikatoren abgeschätzt: - Gesamter Gütertransport - Gesamter Personentransport - Privater Autoverkehr - Gesamter Energieverbrauch - Anteil erneuerbarer Energieträger an der Stromerzeugung - Gesamte Treibhausgasemissionen - Nicht-recycelte Abfälle Bohn et al. (2004) diskutieren die sozialen, ökonomischen und ethischen Implikationen der Integration kleiner mikroelektronischer Prozessoren und Sensoren in Objekte des Alltags. Diese 'smarten' Objekte können ihre Umgebung erfassen, miteinander und mit dem Menschen 'kommunizieren'. Auf die folgenden Risikoaspekte gehen die Autoren (vor allem im Zusammenhang mit neuen Geschäftsmodellen) ausführlicher ein: - die Bedrohung der Privatsphäre durch allgegenwärtige Erfassung und Zusammenführung persönlicher Daten - die Schwierigkeit, die entstehenden hochkomplexen technischen Systeme zu kontrollieren und deren Funktion zu steuern - die zunehmende Abhängigkeit von technischen Systemen und deren steigende Vulnerabilität - der Verlust an Kontroll- und Entscheidungskompetenz bzw. -macht durch Delegation von Überwachungs- und Entscheidungsfunktionen an 'smarte' Objekte und damit zusammenhängend die zunehmende Schwierigkeit, die Verantwortung für einen Schaden einem Verursacher zuzuschreiben - die fehlende Transparenz, wenn viele Alltagsvorgänge automatisch 'im Hintergrund' abgewickelt werden (diskutiert am Beispiel automatischer Abbuchungen kleiner Beträge z. B. für Fahr- oder Eintrittskarten) - die zunehmende Unbeständigkeit von Informationen und die Entwertung von Erfahrungen infolge immer schnellerer Aktualisierungen und damit einher gehend der Verlust von Orientierungswissen als Grundlage von Entscheidungen - die automatische Sortierung von Kunden aufgrund vorliegender personenbezogener Daten und die Benachteiligung von Kundengruppen mit unattraktiven Profilen (z. B. durch höhere Preise oder das Vorenthalten von Informationen) - die Schwierigkeit, die Verlässlichkeit von Informationen zu überprüfen Aus Sicht der Autoren zeichnen sich die folgenden Trends und Risiken ab: - Es werden neue profitable Geschäftsmodelle entstehen, möglicherweise zu Lasten (persönlicher) Sicherheit. - Das Gleichgewicht zwischen Politik und ökonomischer Macht kann sich deutlich ver- 9

schieben. - Die ökonomischen Entwicklungen werden sich beschleunigen und zu langfristigen Veränderungen sozialer Werte und Motive führen. - Das Vertrauen in die (technische und soziale) Umwelt kann verloren gehen, was grundlegende und nachteilige Veränderungen der Einstellungen zur Mitwelt mit sich bringen kann. Neben der Arbeit von Bohn et al. (2004) liegen zahlreiche weitere Arbeiten zu den Auswirkungen von AACC auf die Privatsphäre vor, von denen hier nur einige ausgewählte inhaltlich skizziert werden. Die neue Dimension der Bedrohung der Privatsphäre und des Schutzes privater Daten durch AACC im Vergleich mit herkömmlichen IKT-Anwendungen wird in einem Report des European Parliamentary Technology Assessment Network (EPTA 2006) hervorgehoben. Das durch AACC mögliche Ausmaß an Sammlungen und Verknüpfungen von personenbezogenen Daten und Informationen steht dem Report zufolge in klarem Widerspruch zu grundlegenden Prinzipien des Datenschutzes: - Allgegenwärtige Informationstechnologien, die ihren versprochenen Zweck nur erfüllen können, wenn sie unbeschränkt Daten in einem permanenten Lernprozess sammeln und auswerten können, sind nicht kompatibel mit dem Prinzip der Zweckbestimmung, wonach personenbezogene Daten nur für einen zuvor festgelegten Zweck gesammelt und verarbeitet werden dürfen. - Das, lediglich in bestimmten Ausnahmefällen rechtlich außer Kraft gesetzte, Prinzip, dass persönliche Daten nur mit expliziter und freiwilliger Zustimmung der betroffenen Person gesammelt werden dürfen, ist nicht aufrecht zu halten in AACC-Umgebungen, in denen es praktisch ausgeschlossen ist, nicht von unsichtbaren Kameras und Sensoren erfasst zu werden. In dem Report wird der Schluss gezogen, dass AACC offensichtlich eine Bedrohung für die Privatsphäre darstellt. Es wird in Zweifel gezogen, dass Kompatibilität zwischen den AACC- Visionen und den Anforderungen des Persönlichkeits- und Datenschutzes herzustellen ist. Auch für Cas (2005) stellen AACC-Umgebungen eine geradezu perfekte Überwachungsinfrastruktur dar (die Möglichkeiten, über AACC eine umfassende Überwachung von Personen zu realisieren, werden auch von Shenk 2006 und Weber 2006 behandelt). Cas diskutiert einige mögliche Entwicklungen und Auswirkungen von AACC, die heutige Vorstellungen von Privatsphäre grundlegend in Frage stellen: - Mit AACC wird nicht nur die Menge der erfassten Daten zunehmen, sondern es werden auch qualitativ ganz andere Informationen, z. B. über verschiedenste Sensoren, zugänglich. - Personenbezogene Daten werden permanent erfasst und für lange Zeiträume gespeichert. - Die bereits existierende Informationsasymmetrie zwischen Datensubjekt und Datensammler/-nutzer wird stark zunehmen. - Die Möglichkeit permanenter Überwachung kann zu strikter Disziplin und gesellschaftlicher Uniformität führen. Friedewald et al. (2006) diskutieren Verletzungen der Grenzen der Privatsphäre durch 10

- die zunehmende Vernetzung zwischen Menschen und den sie umgebenden Räumen, die Wände und Türen als physikalische Grenzen der Beobachtbarkeit überwindet, - physiologische Sensoren, die es unmöglich machen, nicht nur den eigenen körperlichen Zustand, sondern auch den emotionalen Zustand, der sich in Änderungen physiologischer Parameter äußert, zu verbergen, - die Sammlung und Speicherung vieler Arten von Informationen sowie deren Verknüpfung, die dazu führen, dass persönliche Erwartungen hinsichtlich die Privatspäre schützender räumlicher und zeitlicher Grenzen sowie der Kurzlebigkeit und Vergänglichkeit von Ereignissen verletzt werden. Im Rahmen einer im Auftrag des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik durchgeführten Studie (BSI 2006), wurden auch Experteneinschätzungen zu den Auswirkungen des Pervasive Computing in den Bereichen Datenschutz, Wirtschaft und Gesellschaft abgefragt. Risiken für den Datenschutz werden aber nur implizit angesprochen, indem gefragt wird, unter welchen Voraussetzungen AACC gesellschaftlich akzeptiert würde. Von den Experten wird ein datenschutzkonformer Systementwurf (design for privacy) für notwendig gehalten, der anderen Arbeiten zufolge aber kaum zu realisieren sein wird (s. o. Cas 2005, EPTA 2006). Die Risiken, dass - als Konsequenz aus der allgegenwärtigen Verfügbarkeit die prinzipielle Steigerung der Effizienz dadurch (über-) kompensiert wird, weil aufgrund der personalisierten und daher stets adäquaten Informationen der Zeitkonsum ansteigt, - durch AACC die Abhängigkeit der Menschen von der Technologie eine neue Qualität erreicht und sie zunehmend den Kontakt zur physischen Realität und zur natürlichen Umwelt verlieren, - der Gesamtnutzen von AACC gegenüber dem Verbrauch an Ressourcen, die zur Herstellung und zum Betrieb von Komponenten nötig sind, in den Hintergrund, tritt, werden von den für die Befragung ausgewählten Experten als eher gering eingeschätzt. Kelly & Erickson (2006) fassen in ihrer Arbeit den Stand der Diskussion und die Ergebnisse verschiedener Studien zu den Auswirkungen kommerziell eingesetzter RFID-Tags auf Persönlichkeitsrechte zusammen. Sie gehen insbesondere ein auf neue Möglichkeiten der Sammlung von Daten mit Personen zuordenbaren RFID-Tags, z. B. in der Kleidung, die nicht nur kommerziell, sondern auch von Seiten des Staates, z. B. zur Personenüberwachung o- der zur Strafverfolgung genutzt werden können. Risiken im Zusammenhang mit der RFID- Technik werden auch in einem Bericht des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI 2004) und im Abschlussbericht zu dem im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung durchgeführten TAUCIS-Projekts (Bizer et al. 2006) behandelt. Von Punie et al. (2005) wurden vier 'dunkle' Szenarien zur Verdeutlichung der sozioökonomischen, rechtlichen, technischen und ethischen Risiken von Ambient Intelligence entwickelt mit Schwerpunkt auf Risiken für Identität, Privatsphäre und Sicherheit. Während in den zuvor genannten Arbeiten im Zusammenhang mit AACC die Überwachung von Personen durch staatliche oder anderweitig privilegierte Institutionen behandelt wird, thematisieren Dodge & Kitchin (2007) die potentiellen sozialen, politischen und ethischen Implikationen einer Überwachung höhergestellter Einrichtungen durch Bürger und Aktivisten, die auch als 'Sousveillance' bezeichnet wird. 11

Den bisher vorgestellten Untersuchungen zu den Risiken künftiger IKT ist gemein, dass nur ausgewählte Risikofelder betrachtet wurden und die Risikoanalysen überwiegend durch vergleichsweise kleine Expertengruppen mit einem engen fachlichen Hintergrund erfolgten. Einen breiteren Ansatz hat die schweizerische Stiftung Risiko-Dialog mit ihrem Stakeholder- Dialog zum Pervasive Computing gewählt, der 2005/2006 stattfand (Stiftung Risiko-Dialog 2006). Beteiligt waren 45 Personen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Behörden, Patienten-, Konsumenten, Datenschutz- und Umweltorganisationen. Für drei Anwendungsbereiche, Gesundheitswesen, Einzelhandel und öffentlicher Verkehr, wurden Zukunftsbilder entwickelt, Chancen und Risiken gegeneinander abgewogen und Handlungsoptionen identifiziert. 4.2 Systemische Risiken: Ursprünge und Ansätze zur Definition des Begriffs Der Begriff 'Systemisches Risiko' wurde ursprünglich im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch von Finanzsystemen geprägt. Er fand dann auch Eingang in die Diskussion über mögliche Risiken im Versicherungswesen (Swiss Re 2003). Von der OECD wurde der Begriff 'Systemisches Risiko' erstmals auf ein breiteres Risikofeld angewandt (OECD 2003). Dieser Ansatz wurde von Renn aufgegriffen und in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt (Renn & Klinke 2004, Renn 2005). Im Global Risk Report 2006 für das Weltwirtschaftsforum (Global Risk Network 2006) wurde eine formale Definition eines systemischen Risikos versucht, die über die bis dahin vorliegenden Definitionen hinausgeht. Die Stationen der 'Karriere' des Begriffs 'Systemische Risiken' werden im Folgenden skizziert. Systemische Risiken der Finanzmärkte Das klassische Beispiel für ein systemisches Risiko der Finanzmärkte ist der 'Bank Run': - Bankkunden verlieren das Vertrauen in eine Bank und ziehen ihr Geld ab; - über eine Kettenreaktion werden auch andere Banken in den Konkurs getrieben; - das Bankensystem bricht zusammen mit stark negativen Folgen für die gesamte Volkswirtschaft. Eine ähnliche Ereignis-Reaktions-Kette lässt sich für viele Börsen-Crashs nachzeichnen: - Aktienhändler erwarten aufgrund entsprechender Informationen einen Rückgang der Aktienkurse in bestimmten Branchen oder generell; - um höhere Verluste zu vermeiden, verkaufen sie Aktien der betroffenen Unternehmen; - die Verkäufe führen zu einem Rückgang der Aktienkurse, was weitere Verkäufe auslöst; - das Ergebnis kann ein Kurssturz mit möglicherweise ebenfalls stark negativen Folgen für die gesamte Volkswirtschaft sein. Konkrete Beispiele für die zuvor skizzierten systemischen Risiken von Finanzsystemen sind die 'Asienkrise' 1997/1998 und der Börsen-Crash am 19. Oktober 1987. Ein systemisches Risiko stellte auch die maßlose Überzeichnung von Internet-Aktien Ende der 1990er Jahre dar, die im Jahr 2000 zum Platzen der 'Dotcom-Blase' führte. Die Folge waren Insolvenzen vieler junger Firmen, erhebliche Kursverluste nicht nur bei Internet-Aktien und Vermögensverluste gerade auch bei vielen Kleinanlegern. Die beschriebenen Risikoszenarien haben drei Merkmale gemeinsam: 1. Der auslösende Faktor war in jedem Fall relativ 'harmlos'; es war kein Krieg, keine verheerende Naturkatastrophe oder ein ähnlich gravierendes Ereignis. 12

2. Die Reaktion auf das auslösende Ereignis 'schaukelte sich auf'. 3. Die Schäden waren nach Art und Ausmaß nur aufgrund der Struktur der Finanzmärkte bzw. des Börsensystems mit engen Verflechtungen der Banken bzw. der Broker und der Börsen möglich. Ein vierter Aspekt ist ebenfalls bemerkenswert, wenn auch für die Ableitung der Charakteristika systemischer Risiken nicht unmittelbar bedeutsam. Er macht die soziale Komponente der sich aufschaukelnden Reaktionsdynamik deutlich: 4. Die auslösenden Faktoren waren in jedem Fall Informationen, die bei den Akteuren zu Verunsicherungen führten. Diese Verunsicherungen lösten Reaktionen aus, die als einzelne Handlungen rational waren, im Gesamtergebnis aller Handlungen aber zu einer Überreaktion führten. In der finanzwirtschaftlichen Fachliteratur wird sehr oft die von Davis (2003) eingeführte Definition des Begriffs 'Systemisches Risiko' zitiert, in der er allein auf das Ausmaß des potentiellen Schadens abhebt. Ein systemisches Risiko birgt danach die Gefahr eines größeren Zusammenbruchs des Finanzsystems, sodass Zahlungsverpflichtungen nicht erfüllt werden können und keine Kredite für produktive Anlagemöglichkeiten zur Verfügung stehen. Rochet und Tirole (1996) hatten dagegen bereits die Interaktion der finanzwirtschaftlichen Akteure, die eine fortschreitende 'Ansteckung' ermöglicht, als wesentliches Merkmal eines systemischen Risikos identifiziert. Nach Rochet und Tirole ist ein systemisches Risiko gegeben, wenn sich die ökonomische Notlage eines Akteurs auf andere Akteure ausbreitet, die mit dem ersten Akteur durch finanzielle Transaktionen verbunden sind. Der Aspekt der 'Ansteckung' findet sich auch in der Definition von De Bandt und Hartmann (2000). Sie definieren in einer Bestandsaufnahme der Diskussion über systemische Risiken der Finanzmärkte für die Europäische Zentralbank ein systemisches Risiko als das Risiko für den Eintritt eines starken systemischen Ereignisses. Ein Ereignis ist ihrer Definition zufolge systemisch, wenn schlechte Nachrichten über eine finanzielle Institution bzw. ihr Versagen oder der Zusammenbruch eines Finanzmarktes in der Folge zu erheblichen negativen Effekten bei einer oder mehreren anderen Finanzinstitutionen oder Märkten führen, z. B. zu ihrem Versagen oder Zusammenbruch. Sie bezeichnen ein systemisches Ereignis als stark, wenn als Folge des auslösenden systemischen Ereignisses Unternehmen angesteckt und in Mitleidenschaft gezogen werden, die gesund waren und ohne das Ereignis nicht gefährdet gewesen wären. In einem Bericht für die G10-Nationen weisen Ferguson et al. (2001, s. a. De Nicolo & Kwast 2001) in ihrer Charakterisierung systemischer Risiken darauf hin, dass systemische Ereignisse plötzlich und unerwartet eintreten können und dass die Wahrscheinlichkeit für ihr Eintreten mit der Zeit wachsen kann. In der neueren Diskussion über systemische Risiken der Finanzmärkte wird zunehmend erkannt, dass die bisherigen Definitionen des Begriffs vornehmlich über die Auswirkungen eines (systemischen) Ereignisses nicht hinreichend sind (s. z. B. Hendricks et al. 2006). Die Schlüsselcharakteristik systemischer Risiken sei ein Phasenübergang, wie er in komplexen dynamischen (nichtlinearen) Systemen auftritt. 13

Systemische Risiken in der Versicherungsbranche Als im Zuge der Diskussion über systemische Risiken der Finanzmärkte auch die Frage aufkam, ob die Rückversicherer ein systemisches Risiko für Erstversicherer, das Finanzsystem und die Volkswirtschaft darstellen (s. z. B. Krenn & Oschischnig 2003), wurde für die Schweizerische Rückversicherung (Swiss Re) eine entsprechende Studie durchgeführt (Swiss Re 2003). Als systemisches Risiko wurde dabei die Gefahr definiert, dass ein Ereignis einen Verlust an ökonomischen Werten und/oder von Vertrauen in das Finanzsystem auslöst, der erhebliche negative wirtschaftliche Auswirkungen hat. Untersucht wurde die Frage, ob ähnliche Ansteckungseffekte wie beim zuvor beschriebenen Beispiel des Zusammenbruchs eines Bankensystems über Rückversicherungsverpflichtungen oder andere Finanzbeziehungen bestehen. Dazu wurden Störungen des Versicherungsmarktes aus der Vergangenheit analysiert, in welche Rückversicherer involviert waren. Es wurden Übertragungskanäle auf die Realwirtschaft identifiziert und die Auswirkungen auf den Versicherungs- und den Finanzsektor abgeschätzt. Dabei ging es insbesondere um die Rolle der Rückversicherungen bei der Verknappung des Erstversicherungsangebots, die Auswirkungen möglicher Konkurse von Rückversicherern auf die Erstversicherer und die Möglichkeit der Destabilisierung der Finanzmärkte durch die Rückversicherer in ihrer Funktion als Anleger oder als Versicherer von Kreditrisiken. Die Autoren der Studie kommen insgesamt zu dem Schluss, dass es im Rückversicherungsbereich wenig Anhaltspunkte für systemische Risiken gibt bzw. dass der Schaden bei Eintritt eines Ereignisses mit im Prinzip systemischem Schadenspotential aufgrund verschiedener Sicherungsmechanismen gering sei. Selbst im Falle von Extremereignissen sei kaum zu erwarten, dass das Versicherungssystem infolge von Angebotseinschränkungen oder Konkursen im Rückversicherungssektor seine Funktion nicht mehr erfüllen könne. Angesichts der besonderen Anfälligkeit des Bankensektors für systemische Risiken seien größere Ansteckungseffekte am ehesten in der Beziehung zwischen Rückversicherer und Bank zu vermuten. Verbindungen zum Bankensektor bestehen auf Grund von Beteiligungen oder der Übernahme von Bankkreditrisiken durch Rückversicherer. Durch das aufsichtsrechtliche Verbot einer Mehrfachnutzung des Eigenkapitals in Finanzkonglomeraten würde die Ansteckungsgefahr bei Beteiligungen aber deutlich reduziert. Die wesentlichen Merkmale eines systemischen Risikos sind der Swiss Re-Studie zufolge: - der Eintritt eines Ereignisses mit weitreichenden Folgen, - ein Ansteckungseffekt, der zahlreiche (finanz-) wirtschaftliche Akteure in Mitleidenschaft zieht, - ein erhebliches Ausmaß des volkswirtschaftlichen Schadens. Systemische Risiken in einem breiteren Kontext In einem viel zitierten Bericht der OECD aus dem Jahr 2003 (OECD 2003) wird zu Recht kritisiert, dass in vielen Risikomodellen davon ausgegangen wird, dass ein Schaden aufgrund eines mehr oder weniger linearen Zusammenhang zwischen einem eindeutig identifizierbaren auslösenden Ereignis und einem einzelnen Endpunkt eintritt. Solche Modelle seien nicht adäquat, wenn es darum gehe, komplexe Phänomene zu erklären und vorherzusagen. Nur wenn die Verknüpfung verschiedener Faktoren berücksichtigt werde, sei es möglich, potentielle Risiken für Systeme zu erkennen. Ein Erdbeben führe nicht nur zu menschlichen 14