Aktuelle Probleme bei Obliegenheitsverletzungen und subjektiven Risikoausschlüssen



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Transkript:

Aktuelle Probleme bei Obliegenheitsverletzungen und subjektiven Risikoausschlüssen Prof. Dr. Dirk Looschelders Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

1/23 Vertragliche Obliegenheiten: Quotenprinzip bei grober Fahrlässigkeit des VN ( 28 II VVG) (zuvor: Alles-oder-Nichts-Prinzip) Kausalitätsgegenbeweis auch bei Vorsatz des VN ( 28 III VVG) Nichtanpassung der AVB für Altverträge (Art. 1 III EGVVG) Gesetzliche Obliegenheiten: Problemschwerpunkte nach der VVG-Reform 2008 Insbes.: Neuregelung der vorvertraglichen Anzeigepflicht ( 19 ff. VVG) Subjektiver Risikoausschluss ( 81 VVG): Deutliche Parallelen zu den Obliegenheiten Begrenzung des Risikos des VR Unterschied: vorsätzliche / grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalles von vornherein nicht oder nur eingeschränkt versichert Parallelität der Probleme bei Quotelung wg. grober Fahrlässigkeit des VN

2/23 Grundsätze und Maßstab der Quotelung Bei grober Fahrlässigkeit des VN entfällt Leistungspflicht des VR nicht mehr vollständig (Quotenprinzip) Berechtigung des VR zur anteiligen Leistungskürzung Grundsätze der Quotelung sind umstritten: Heranziehung des 254 BGB hilft nicht weiter (allg. Ansicht) Quotenbildung erfordert Einordnung in Schwereskala (einfache Fahrlässigkeit Vorsatz) Maßstab der Quotelung: Schwere des Verschuldens des VN als alleiniger Maßstab Keine Billigkeitserwägungen oder strafrechtlichen Argumente

3/23 Kürzung auf Null bei grober Fahrlässigkeit H.M.: Kürzung auf Null ist in schweren Fällen zulässig M.M.: Kürzung setzt voraus, dass Restanspruch bleibt (Prölss) Bsp: Alkoholbedingte Verkehrsunfälle Führen des Kfz im Zustand der (absoluten) Fahruntüchtigkeit begründet regelmäßig grobe Fahrlässigkeit des VN Kaskoversicherung: 81 II VVG einschlägig KH-Versicherung: Verstoß gegen sog. Trunkenheitsklausel (z.b. D.2.1 AKB 2008) begründet Anwen- dung des 28 II VVG. 5 III KfzPflVV be- grenzt Regress des VR auf max. 5000. H.M: Bei absoluter Fahruntüchtigkeit idr Kürzung auf Null.

4/23 BGH v. 22. 6. 2011 IV ZR 225/10 (VersR 2011, 1037) Kürzung der Leistung auf Null ist im Grundsatz zulässig. Kein Widerspruch zur Intention des Gesetzgebers, der nur das Alles-oder-Nichts-Prinzip abschaffen, nicht aber die vollständige Leistungsfreiheit auf Vorsatz beschränken wollte. Kürzung auf Null ist auch bei absoluter Fahruntüchtigkeit kein Regelfall, sondern kann sich nur aufgrund einer Abwägung der Umstände des Einzelfalles ergeben. Keine formale Handhabung von Musterquoten Umstände des Einzelfalles können umgekehrt jede Leistungskürzung entfallen lassen. Abgrenzung von einfacher und grober Fahrlässigkeit ist dann in der Praxis entbehrlich.

5/23 Kürzungsmodelle ittelwertmodell (z.b. Felsch, Knappmann, Langheid) Ausgangsvermutung für eine Kürzungsquote von 50 %; abweichende Umstände sind vom VN bzw. vom VR zu beweisen Kritik: Gesetz sieht für die Quotelung keine Beweislastverlagerung auf VN vor (vgl. 28 Abs. 2 S. 2 HS 2 VVG) Ausgangsvermutung ist in vielen Fällen unangemessen rei- oder Fünfbereichsmodell Einstieg: Liegt die grobe Fahrlässigkeit näher zum bedingten Vorsatz oder zur einfachen Fahrlässigkeit oder im mittleren Bereich? Kürzungsstufen: 0%, 25%, 50%, 75%, 100% (z.b. LG Münster) Kritik: Abstufung in 25%-Schritten ist zu grob und zu

6/23 Mehrheit von Kürzungsgründen I. Fallgruppen Mehrere Obliegenheitsverletzungen (z.b. LG Dortmund zfs 2010, 515) Obliegenheitsverletzungen und Herbeiführung des Versicherungsfalles II. Lösungsansätze: Mathematische Modelle: insb. Quotenaddition, Quotenmultiplikation Kritik: Erwägungen Vermischung von mathematischen und rechtlich-wertenden Quotenkonsumtion (Hk-VVG/Felsch, 1. Aufl. 2009, 28 Rn 189) Nur das schwerste Fehlverhalten des VN ist in Ansatz zu bringen Kritik: Mehrere Verstöße begründen höheres Maß an Verschulden Wertende Gesamtabwägung (vgl. Hk-Felsch, 2. Aufl. 2011, 28 Rn 204)

7/23 Kausalitätsgegenbeweis Rechtslage vor der Reform: 6 Abs. 3 S. 2 VVG a. F.: Kausalitätsgegenbeweis nur bei grober Fahrlässigkeit zulässig Grund: Generalprävention Sog. Relevanzrechtsprechung: 242 BGB erfordert restriktive Handhabung der Leistungsfreiheit im Falle nicht kausaler vorsätzlicher Obliegenheitsverletzungen Verstoß muss generell geeignet sein, die Interessen des VR ernsthaft zu gefährden; subjektiv: erhebliches Verschulden des VN (aus neuerer Zeit BGH v. 22.6.2011 IV ZR 174/09, VersR 2011, 1121)

8/23 Grundzüge der Neuregelung Erstreckung des Kausalitätsgegenbeweises auf Vorsatzfälle Insbesondere 28 Abs. 3 VVG: VR bleibt auch bei vorsätzlicher, aber nicht kausaler Obliegenheitsverletzung in vollem Umfang leistungspflichtig. Ausnahme: Arglist des VN ( 28 Abs. 3 S. 2 VVG) Erforderlich ist ein konkreter wirtschaftlicher Nachteil des VR Kriterien der Relevanzrechtsprechung sind obsolet (KG r+s 2011, 15; a.a. im Anschluss an die Gesetzesbegründung noch u.a. Langheid; Günther/Spielmann) Belehrung nach 28 Abs. 4 VVG muss neue Rechtslage richtig wiedergeben; sonst Leistungsfreiheit nur bei Arglist (LG Fürth VersR 2011, 1177) Rechtspolitische Kritik: Belohnung des unredlichen VN Aber: Leistungsfreiheit bei Arglist genügt zur Generalprävention

9/23 Praktische Handhabung 28 Abs. 3 VVG statuiert echte Beweislastumkehr (kein bloßer Gegenbeweis im prozessualen Sinn) Beweiserleichterung nach allgemeinen Grundsätzen VN muss zunächst mögliche Kausalzusammenhänge ausräumen, die sich aus dem Sachverhalt von selbst ergeben (= Erkennbarkeit für VN nach allgemeiner Lebenserfahrung) VR trifft dann sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der weiteren konkreten Kausalverläufe, die bei Erfüllung der Obliegenheit zur Vermeidung des Nachteils geführt hätten VN muss die vom VR dargelegten Kausalverläufe widerlegen

10/23 Auswirkungen bei Aufklärungspflichtverletzungen Beispiel: Kaskoversichertes Kfz (Wert: 10.000 ) wird entwendet. VN gibt gegenüber VR zu geringe Laufleistung an, so dass das Kfz 12.000 Wert wäre. Lösung nach altem Recht: In der Regel vollständige Leistungsfreiheit des VR (Vorsatzvermutung + Relevanzrechtsprechung)

11/23 Fallgruppen nach geltendem Recht Bei rechtzeitiger Sachverhaltsaufklärung keine Kausalität der Obliegenheitsverletzung für Feststellung überhöhter Leistungspflicht (vgl. aber KG r+s 2011, 15: event. andere nachteilige Folgen für VR) grundsätzlich keine Kürzung der Leistung, VR hat aber nach dem Vertrag nur den wirklichen Wert des Kfz (10.000 ) zu ersetzen Bei Arglist des VN nach 28 Abs. 2, 3 VVG vollständige Leistungsfreiheit des VR Bei Kausalität der Obliegenheitsverletzung für die Feststellung überhöhter Leistungspflicht und nachträglicher Aufklärung des SV Anspruch des VR aus 812 BGB auf Rückzahlung des ersetzten Mehrschadens ; vollständige Leistungsfreiheit auch hier nur bei Arglist. Bei fehlender Feststellbarkeit der relevanten Umstände auf Grund der Obliegenheitsverletzung Bei Beweispflicht des VN und Scheitern des Beweises - kein Anspruch des VN. Bei Beweispflicht des VR und Scheitern des Beweises - Leistungsfreiheit des VR nach 28 II VVG denkbar. Aber: Notwendigkeit der Belehrung nach 28 IV VVG!

12/23 Nichtanpassung alter AVB - Problemstellung Zahlreiche Versicherer haben von der nach Art. 1 Abs. 3 EGVVG eröffneten Änderungsmöglichkeit keinen Gebrauch gemacht. Fraglich, ob die alten AVB ab dem 1.1.2009 noch wirksam sind. Problematisch bei vertraglichen Obliegenheiten, die nach 28 VVG wirksam vereinbart werden müssen. Bei Unwirksamkeit kein Ersatz durch gesetzliche Regelungen Ausgangspunkt: Anordnung vollständiger Leistungsfreiheit bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit widerspricht 28 VVG und ist daher nach 32 VVG bzw. 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam. Das Gleiche gilt bei Verweis auf die Rechtsfolgen des 6 VVG a.f. Entfällt damit die Obliegenheitsvereinbarung im Ganzen?

13/23 Meinungsstand (I) Theorie der Gesamtunwirksamkeit (OLG Köln VersR 2010, 1592) Unzulässige Rechtsfolgenanordnung führt zur Unwirksamkeit der gesamten Klausel Verbot der geltungserhaltenden Reduktion Art. 1 Abs. 3 EGVVG regelt den Schutz des VR abschließend Spaltungslösung (LG Erfurt VersR 2011, 335; L/W/Looschelders) Unwirksamkeit beschränkt sich auf die Rechtsfolgenanordnung, Obliegenheit bleibt bestehen, 28 Abs. 2 VVG findet Anwendung Verbot der geltungserhaltenden Reduktion gilt nicht (ursprüngliche Wirksamkeit der Klauseln; Lückenfüllung durch Gesetz möglich) Art. 1 Abs. 3 EGVVG regelt keine Pflicht des VR zur Anpassung

14/23 Meinungsstand (II) Ergänzende Vertragsauslegung (L/P/Brand) Gesamtnichtigkeit der betreffenden Klauseln Lücke ist im Wege der ergänzenden Auslegung durch Tatbestand der (unwirksamen) Alt-AVB und Rechtsfolgenanordnung des 28 Abs. 2 VVG zu schließen (Ergebnis entspricht der Spaltungslösung) Stellungnahme des BGH steht aus. Die Entscheidung über die Rev. zu OLG Köln wird für Oktober 2011 erwartet.

15/23 Würdigung Spaltungslösung führt zu angemessenem Interessenausgleich Bloße Nichtumstellung der AVB rechtfertigt nicht die Sanktion der Gesamtnichtigkeit VN hat kein schutzwürdiges Interesse, bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung die volle Versicherungsleistung zu erhalten Keine eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers für Gesamtnichtigkeit; Gründe für Verzicht auf vorgeschlagene weitergehende Regelung zugunsten der VR sind unklar.

16/23 Konsequenzen der Gesamtunwirksamkeit Obliegenheiten vor Eintritt des Versicherungsfalles: 81 VVG häufig erfüllt (Problem für VR: ungünstigere Beweislast) Auch Leistungsfreiheit wegen subjektiver Gefahrerhöhung denkbar (Problem für VR: Erfordernis eines Dauerzustands ) Obliegenheiten nach Eintritt des Versicherungsfalles: Anwendung des 82 VVG ist im Einzelfall denkbar. Bei Verletzung von Aufklärungsobliegenheiten gelingt dem VN häufig der Kausalitätsgegenbeweis, weshalb Gesamtunwirksamkeit nur bei Arglist des VN zur Schlechterstellung des VR führt. Bei Arglist ist Abhilfe über die Verwirkungsklauseln in den alten AVB (z.b. 21 Nr. 1 VGB 88) oder 242 BGB möglich.

17/23 Vorvertragliche Anzeigepflicht Abschaffung der spontanen Anzeigepflicht des VN Ratio: Gesetzgeber wollte dem VN das Irrtumsrisiko hins. Gefahrrelevanz eines Umstandes abnehmen Frage des VR in Textform erforderlich - Textform : Verwendung von Notebooks - des VR : Fragen des Maklers OLG Hamm VersR 2011, 469: VN muss erkennen können, dass VR sich die Fragen zu Eigen gemacht hat und seine Antwort daher eine rechtserhebliche Erklärung darstellt. Nichtangabe von Schwangerschaftskomplikationen (OLG Hamm VersR 2011, 514: Rücktritt verstößt gegen AGG).

18/23 Rechtsfolgen der Anzeigepflichtverletzung Kein Verschulden Einfache Fahrlässigkeit Grobe Fahrlässigkeit Vorsatz Arglist Vertragsmodifizierende Umstände Vertragshindernde Umstände Vertragsmodifizierende Umstände Vertragshindernde Umstände Vertragsanpassung rückwirkend ab Vertragsschluss Vertragsanpassung ab laufender Versicherungsperiode Kündigung Rücktritt 19 II VVG Anfechtung 123 BGB Leistungspflicht des VR bleibt grds. bestehen. Mögliche Ausnahme: Rückwirkender Risikoausschluss Leistungsfreiheit Bei Arglist kein Kausalitätsgegenbeweis

19/23 Rückwirkende Einbeziehung von Risikoausschlüssen Nach 19 Abs. 4 VVG ist rückwirkende Einbeziehung des Risikoausschlusses auch bei einfacher Fahrlässigkeit und ohne Verschulden des VN zulässig. Wertungswidersprüche drohen, wenn Risikoausschluss in diesen Fällen zur Leistungsfreiheit des VR führt. Literatur: Leistungsfreiheit des VR bei einfacher Fahrlässigkeit und fehlendem Verschulden verstößt gegen Grundwertungen des Obliegenheitsrechts teleologische Reduktion geboten (L/P/Looschelders 19 Rn 63; VersHb/Knappmann 14 Rn 112). Gegenansicht (LG Dortmund VersR 2010, 465,467; P/M/Prölss 19 Rn 56): stehen u.u. den Kündigung führt VN darf nicht besser als bei ordnungsgemäßer Anzeige Kritik: VN hätte bei ordnungsgemäßer Anzeige Vertrag so nie geschlossen VN darf daher nicht schlechter als bei stehen, die nicht zur Leistungsfreiheit

20/23 Die Belehrungspflicht des VR ( 19 Abs. 5 S. 1 VVG) Belehrung muss vor der Beantwortung der Fragen erfolgen; aa: L/W/Langheid: Belehrung vor Annahmeerklärung ausreichend Gesonderte Mitteilung erfordert kein vom Antragsformular verschiedenes Schriftstück; die Belehrung muss aber deutlich hervorgehoben und von den Antragsfragen klar abgesetzt sein (OLG Hamm VersR 2011, 469; LG Hagen r+s 2010, 276) Belehrung muss dem VN deutlich machen, dass er bei Feststellung einer Aufklärungspflichtverletzung den Versicherungsschutz auch für bereits eingetretene Versicherungsfälle verlieren kann. VR darf nicht den Eindruck erwecken, dass Leistungsfreiheit nur bei Rücktritt eintreten kann (LG Dortmund VersR 2010, 465) und leichte Fahrlässigkeit folgenlos ist (OLG Brandenburg VersR 2010, 1301).

21/23 Anfechtung wegen arglistiger Täuschung (P) Verschweigen eines gefahrerheblichen Umstandes bei Fehlen einer ordnungsgemäßen Frage des VR Spontane Anzeigepflicht des VN aus vorvertraglichem Schuldverhältnis ( 311 II, 241 II BGB) und 242 BGB Bei Arglist Anfechtung nach 22 VVG, 123 BGB zulässig Kritik: Aber: Abschließender Charakter der 19 ff. VVG (z.b. VersHb/Knappmann 14 Rn 126) 22 VVG erlaubt gerade den Rückgriff auf die allgemeinen Regeln der Anfechtung und schränkt die Sperrwirkung der 19 ff. VVG ein

22/23 Praktische Bedeutung der spontanen Anzeigepflicht Personenversicherungen: Fragenkataloge decken die wesentlichen Risiken ab; spontane Nachmeldeobliegenheit ist auch bei offensichtlich gefahrerheblichen Umständen (z.b. Krebs) i.d.r. zu verneinen (Schutzzweck des 19 I 2 VVG) Sach- und Vermögensschadensversicherungen: Unvermeidbare Lücken bei atypischen Umständen (z.b. Bedrohung mit Schutzgelderpressung) und Umständen, bei denen eine Frage nach der Verkehrsanschauung nicht zu erwarten ist (z.b. unentdeckte eigene Straftaten des VN) Stark individualisierte Verträge (z.b. Industrieversicherung): Besondere Relevanz atypischer Umstände

23/23 Vorvertragliche Anzeigepflicht Übergangsprobleme I. Anwendbarkeit der 19 ff. VVG auf alle Neuverträge. II. Für Altverträge blieben bis zum 31.12.2008 die 16 ff. VVG a.f. maßgeblich. Seitdem unterliegen die Rechtsfolgen den 19 ff. VVG n.f. ( Spaltungsmodell ) 2010,199) Bei einfacher Fahrlässigkeit ist auch bei Altverträgen kein Rücktritt mehr möglich (OLG Köln VersR (P): Weitergeltung der 16 ff. VVG a.f. nach Art. 1 II EGVVG bei Eintritt des Versicherungsfalles bis 31.12.2008 und Rücktritt wg. Anzeigepflichtverletzung nach dem Stichtag Die 16 ff. VVG a.f. bleiben uneingeschränkt anwendbar (LG Dortmund VersR 2010, 515; str.). Rücktritt ist auch bei einfacher Fahrlässigkeit möglich.

Aktuelle Probleme bei Obliegenheitsverletzungen und subjektiven Risikoausschlüssen Prof. Dr. Dirk Looschelders Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf