Kongress 09 SGG SSG 29./30.10.2009 Wie gehen Pflegende mit Todeswünschen und Suizidgedanken von Pflegeempfängern um? Elsbeth Kalbermatter Fachpsychologin für Psychotherapie FSP Psychiatriezentrum Oberwallis PZO SZO/GNW Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 1
Fakten: Depression im Alter Die Depression als ein Auslöser für suizidales Verhalten wird oft nicht erkannt und daher auch oft nicht behandelt. Die Depression ist die häufigste psychische Erkrankung im Alter 40 50 % der Depressionen im Alter werden nicht erkannt Nur 10 % der Depressionen im Hochbetagtenalter werden adäquat behandelt Geschätzt wird, dass ein Drittel der Heimbewohner an einer Depression leidet Mehr als 90 % der Suizidenten leiden zum Zeitpunkt des Suizids an einer psychischen Erkrankung Unbehandelte Depressionen sind eine Ursache für suizidale Gedanken Bei depressiv erkrankten älteren Menschen ist in Verbindung mit körperlicher Erkrankung mit Suizidgedanken zu rechnen Depressionen sind die Hauptursache für Suizide Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 2
Fakten: Die Suizidalität von alten Menschen Definition Suizidalität Die Summe aller Denk- und Verhaltensweisen, die durch aktives Handeln oder passives Unterlassen den eigenen Tod anstrebt bzw. im Rahmen dieser Handlungen in Kauf nimmt (Wolfersdorf, 2006). Die Suizidalität und die Depression im Alter sind schwierig zu erkennen, weil die körperlichen Beschwerden und Klagen über diese im Vordergrund stehen und die seelische Not oft nur indirekt geäussert wird. (Larvierte Depression) Verbale Äusserungen werden nicht als Hinweis auf eine versteckte Suizidalität verstanden bzw. auf ein depressives Hintergrundgeschehen zurückgeführt. Ich bin nur eine Last für die Familie oder die Gesellschaft Ich habe mein Leben gelebt, es wäre jetzt Zeit zu gehen Ich bin zufrieden, ich habe alles erledigt, meine Kinder sind selbständig, man braucht mich nicht mehr Was macht ein Leben, wie ich es habe, noch für einen Sinn? Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 3
Depressives und suizidales Verhalten ist oft sehr versteckt Sozialer Rückzug, Freudlosigkeit, Interessenverlust Klagen über Wertlosigkeit und Hoffnungslosigkeit Klagen über diffuse Schmerzen (lösen Ärger bei Pflegenden aus) Veränderungen im Verhalten (verbal aggressiv, ablehnend, schweigsam) (Versteckte) Verweigerung von Essen und Trinken, Verweigerung der Medikamente Verweigerung der Mithilfe bei der Pflege indirektes autodestruktives Verhalten Regeln persönlicher Angelegenheiten, Verschenken persönlicher Gegenstände Die Suizidgefahr bei älteren Menschen wird nicht erkannt (Lindner 2009) Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 4
Fakten: Der Suizid von alten Menschen Prozentual bringen sich mehr ältere als jüngere Menschen um. 40 % aller Suizide werden von Menschen über 60 Jahre verübt. In den letzten Jahren ist die Häufigkeit der Suizide im Alter gestiegen. Die Dunkelziffer bei Suiziden im Alter wird als sehr hoch eingestuft. Die Häufigkeit von gelungenen Suiziden ist bei älteren Menschen am höchsten. Ältere Männer wenden harte Suizidmethoden an. Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 5
Fakten: Gesellschaftliche Einstellung / Bewertung des Suizides von alten Menschen Der Suizid eines älteren Menschen wird eher toleriert als der Suizid eines jüngeren Menschen Gesellschaftliche Toleranz / Akzeptanz des Suizides von älteren Menschen insbesondere bei Pflegebedürftigkeit Suizide im Alter sind verständlicher / nachvollziehbarer (Was hatte er denn noch vom Leben...?) Der Suizid im Alter ist weiterhin ein Tabu-Thema trotz der alarmierenden Zahlen. Die Suizidalität von älteren Menschen wird kollektiv verdrängt (Lindner, 2009) Bei der Literatursuche zur Thematik wurden erstaunlich viele Artikel gefunden, in denen der Suizid und die Suizidprävention im Alter mit Abhandlungen zur Sterbehilfe verknüpft werden. Weshalb wird gerade bei der Thematik Suizidprävention im Alter diese Verknüpfung hergestellt? Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 6
Alter Depression Suizidalität Suizid : Eine bedrückende Bilanz! Die Depression im Alter und die Suizidalität werden oft (auch von Fachpersonen) nicht erkannt. Was nicht erkannt wird, wird auch nicht behandelt. Was nicht wahrgenommen wird, kann nicht verhindert werden. Wo die Not nicht gesehen wird, wird auch nicht geholfen. Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 7
Die adäquate Behandlung einer Depression im Alter ist eine interdisziplinäre Aufgabe Depressionen im Alter zu behandeln ist Suizidprävention Die Schulung von Altenpflegekräften, die Depression und die Suizidalität von alten Menschen zu erkennen und Fachpersonen einzubeziehen, muss verstärkt werden. Die Nähe und die Beziehung der Pflegenden zum depressiven alten Menschen bietet die Chance, die depressive Not zu erkennen. Depressionen zu behandeln ist gleichzeitig eine Entlastung für die Pflegenden. Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 8
Reaktionen von Pflegenden / Angehörigen auf depressive / suizidale Äusserungen: Unterstützende Reaktionen: Einfühlsames Zuhören, Mitgefühl, sich Zeit nehmen, häufigere Ansprache (Beziehungsangebot), Fachpersonen einbeziehen usw. Abgrenzende Reaktionen: Verunsicherung, Enttäuschung, Deprimierung, Beschönigung, Bagatellisierung, Tabuisierung, Kontaktvermeidung, Lähmungsgefühle, Ohnmacht, ärgerliche Ungeduld, Kritik, Angst, Schonhaltung usw. Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 9
Die schwierige Interaktion zwischen Depression und ihrem Umfeld oder die problematische Kommunikation von Depressiven mit ihrem Umfeld Hell (2009) Faktoren, die das Erkennen der Depression erschweren: Widerstand der Erkrankten gegen die Diagnose Persönlichkeitseigenschaften, Klagsamkeit, histrionisches Verhalten geben das Bild eines unechten Leidens Die negativen Gefühle, die Dysphorie, die Klagsamkeit wirken feindselig und lösen Gefühle des Abgewiesen-Werdens in der Umgebung aus (Hostilitätsaspekt) Das Rückzugsverhalten (Interesselosigkeit, Antriebsarmut) des Depressiven (Deprivationsaspekt) löst Verunsicherung, Deprimierung, Zurückhaltung aus. Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 10
Fallbeispiel: Progrediente Hinfälligkeit / larvierte Depression/versteckte Verweigerung Progrediente Hinfälligkeit: Gewichtsverlust und / oder Malnutrition Abnahme der körperlichen, psychischen (auch kognitiven) und sozialen Funktionen Depression Einschränkung in den ATL s Keine offensichtliche Erkrankung, die die Veränderung erklären kann Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 11
Antworten aus der Befragung von Pflegenden von Altersheimen und der Alterspsychiatrie: Ich kann den Todeswunsch nachvollziehen und verstehen. Jedem Tier würde man den Gnadentod ermöglichen. Ich fühlte mich so hilflos und weiss nicht was antworten. Gerade bei den gläubigen älteren Menschen versuche ich, sie auf Gott zurück zu beziehen, Gott entscheidet über Leben und Tod. Es macht mir Angst, weil ich mir dann überlege, dass es mir einmal auch so ergehen könnte. Oft wird der Wunsch Tod zu sein oder endlich sterben zu können leichtfertig geäussert bzw. ist nicht so ernst zu nehmen. Oft erlebt man, dass Bewohner, die ständig davon reden, dass sie sterben möchten, bei Erkrankung plötzlich sehr stark am Leben hängen. Oft frage ich mich dann selbst, was eigentlich der Sinn des Leidens und Lebens ist. Solche Äusserungen kann ich nach sechs Tage Pflegearbeit kaum aushalten. Todeswünsche und suizidale Äusserungen gehören zum Pflegealltag, sind emotional belastend für die Pflegenden und belasten die Beziehung. Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 12
Die Reaktionen und Antworten der Pflegenden lassen darauf schliessen, dass diese viel aushalten müssen, immer wieder auf Pflege ethische Fragen und auf die Fragen nach dem Sinn des Leidens und Lebens zurückgeworfen werden. Pflegen heisst oft auch Leiden aushalten (Frankl) Viele Pflegende in Pflegeheimen bewerten ihre Arbeit sowohl als befriedigend und erfüllend trotz der emotionalen und körperlichen Belastung. In Pflegeheimen wird viel gute Arbeit geleistet, Pflegende bleiben in Beziehung. Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 13
Wer hilft die Pflegenden die emotionalen Belastungen auszuhalten? Erhalten Pflegende die notwendige Unterstützung zum Aushalten? Haben Pflegende in den Alters- und Pflegeheimen genügend Wissen über psychiatrische Krankheitsbilder, Umgang mit Depressiven, Wissen die Suizidalität eines älteren Menschen wahr zu nehmen? Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 14
Hilfen und Unterstützung für Pflegende Schulungsprogramme für Pflegende im Altersbereich im Erkennen von Depressionen und Wahrnehmen von Suizidalität Schulung im Umgang mit depressiven alten Menschen und der Suizidalität von alten Menschen Erarbeitung von Pflegestandards Depression und Suizidalität (Bsp. Online Magazin für die Altenpflege) Verstärkte Unterstützung durch Haus- und Heimärzte, Psychiater, Psychologen, Seelsorger, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten Verstärkung der Seelsorge Fall- und Teamsupervision Diskussion und Reflexion von ethischen und pflegeethischen Fragen Unterstützung der Pflegenden in der Selbstpflege Reduktion der Arbeitsbelastung durch einen guten Pflegeschlüssel, damit den Pflegenden der Raum bleibt für Beziehungsarbeit. Aktuell beklagen sich Pflegende, dass sie zunehmend nur mehr Zeit für die somatische Pflege haben. Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 15
Die Gesellschaft hat die Verantwortung Pflegende zu unterstützen, damit diese die umfassende Pflege leisten können, die mit ihrer Pflegeethik übereinstimmt. Die Suizidprävention in den Alters- und Pflegeheimen zu verstärken, entlastet auch die Pflegenden. Gut ausgebildete und entlastete Pflegende leisten wichtige Suizidpräventionsarbeit. Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 16
Literatur Abstraktband 4. Psychiatriepflegetag, 7. und 8. April 2005: Suizid - Vom Umgang mit Todessehnsucht und Lebenssinn, Betreuung suizidaler Patienten, S 1-11 Arbeitsgruppe Alte Menschen im Nationalen Suizidprogramm für Deutschland: Wenn das Altwerden zur Last wird. Suizidprävention im Alter, www. bmfsfj. de Felber, Werner & Wolfersdorf, Manfred: Sind Suizidprophylaxe und Sterbehilfe miteinander vereinbar? in Suizidprophylaxe, 92, 1997, S 109-113 Frankl, Viktor E.: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Zehn Thesen über die Person. Wien 2005. Zitiert in: ders.: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, München, 1996, S 246 Grond, Erich: Die Pflege und Begleitung depressiver alter Menschen, Berlin 1993 Hell, Daniel: Stolpersteine und Möglichkeiten im Umgang mit depressiven Personen, http://www.depression.uzh.ch/page2/page29/page29.html (15.3.2009) Icks, Andrea, Schindler-Marlow, Sabine: Vermeidung von Depression und Suizid im Alter, in Rheinisches Ärzteblatt, 2, 2008 Lindner, Reinhard: Wenn die Seele trauert. Suizidgefährdung älterer Menschen wahrnehmen, in Pflegezeitschrift,Jg. 62, Heft 2, 2009, S 84-85 Online-Magazine für die Altenpflege www.pqsg.de Standard "Depressive Störungen und Suizidprävention, http://www.pqsg.de/seiten/openpqsg/hintergrund-standard-depression.htm (15.03.2009) Perrig-Chiello, Pasqualina, Höpflinger, François (Hrsg.): Gesundheitsbiografien. Variationen und Hintergründe, Bern, 2003 Schlecht, Constanze: Sackgasse Pflegeabhängigkeit? Zur Situation von Menschen, die von der Pflege und Fürsorge anderer abhängig sind,htttp://www.ev-diakonieverein.de/diakonieverein/text.php3?id=3e84d4c6f177f (15.03.2009) Theisen, Susanne: Die letzte aller Türen. Suizid im Alter, htttp.//www.zm-online.de/zm/3_07/pagese2/titel11.htm (22.03.2008) Wächtler, Claus: Suizidalität im Alter, Entstehungsbedingungen und therapeutische Ansätze, in Ergotherapie, Heft 10, 2002, S 11-17 Elsbeth Kalbermatter, Psychiatriezentrum Oberwallis 17