Forschungsverständnis im Kontext anwendungsorientierter Wissenschaften (F&E)



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Transkript:

Forschungsverständnis im Kontext anwendungsorientierter Wissenschaften (F&E) Prof. Dr. Arie Hans Verkuil, Dr. Pascal Dey Institut für Unternehmensführung (IfU) Brugg-Windisch, Juni 2010

Inhalt 1. Was heisst Anwendungsorientierung aus wissenschaftstheoretischer Sicht? 1.1 Einleitung 1.2 Definition anwendungsorientierter Wissenschaft 1.3 Wissenschaftstheoretische Aufgliederung der Forschungsgegenstände 1.4 Handelt es sich bei anwendungsorientierter Wissenschaft um eine eigenständige Konzeption innerhalb der Wissenschaft? Zwei Grundsatzpositionen 1.5 Vier Thesen H. Ulrichs zur eigenständigen Stellung der anwendungsorientierten Wissenschaften 1.6 Wissenschaftstheoretische Aufgliederung des Forschungsprozesses als weiteres Argument für die eigenständige Stellung der anwendungsorientierten Wissenschaften 2. Was heisst Anwendungsorientierung aus spezifisch betriebswirtschaftlicher Perspektive? 2.1 Die Betriebswirtschaftslehre als anwendungsorientierte Wissenschaft 2.2 Beispiele typischer Fragestellungen aus dem Anwendungszusammenhang anwendungsorientierter betriebswirtschaftlicher Forschung 2.3 Interdisziplinarität anwendungsorientierter betriebswirtschaftlicher Forschung 3. Schlussbemerkung Forschungsverständnis im Kontext anwendungsorientierter Wissenschaften (F&E) 2/8

1. Was heisst Anwendungsorientierung aus wissenschaftstheoretischer Sicht? 1.1 Einleitung Forschung und Entwicklung (F&E) bildet einen der vier Leistungsbereiche der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Um den Begriff F&E inhaltlich greifbar und für die einzelnen Institute und Kompetenzschwerpunkte praktisch nutzbar zu machen, wird im vorliegenden Beitrag das Forschungsverständnis des Instituts für Unternehmensführung (IfU) an der Hochschule für Wirtschaft (HSW) definiert. Es geht dabei zum einen darum, das Profil und die Bedeutung anwendungsorientierter Wissenschaft im Allgemeinen zu erläutern. Zum anderen wird im zweiten Teil auf die spezifische Bedeutung der Anwendungsorientierung im Zusammenhang mit der betriebswirtschaftlichen Forschung des IfU eingegangen. Der Beitrag schliesst mit Perspektiven für die interdisziplinäre anwendungsorientierte F&E an der Hochschule für Wirtschaft sowie für die transdisziplinäre F&E mit anderen Hochschulen der FHNW. Der Beitrag zielt somit über die Klärung des Forschungsbegriffs darauf ab, 1. die externe Kommunikation mit Wirtschafts- und Wissenschaftspartnern im In- und Ausland zu erleichtern. 2. die HSW-interne Kommunikation über aktuelle und geplante Forschungsaktivitäten innerhalb und zwischen einzelnen Instituten und Kompetenzschwerpunkten zu fördern. 3. den Institutsleitenden der HSW bei der Bewilligung neuer F&E-Projekte eine Entscheidungsgrundlage zur Hand zu geben, welche die vorgegebenen Deckungsgrade für die Forschung, die strategischen Initiativen der FHNW sowie die definierten Forschungsschwerpunkte der Institute und Kompetenzschwerpunkte um inhaltliche Überlegungen zur Anwendungsorientierung von F&E ergänzt. 1.2 Definition anwendungsorientierter Wissenschaft In den folgenden Kapiteln wird der Begriff 'anwendungsorientierte Wissenschaft' hinsichtlich seiner Bedeutung ausgelotet. Dazu wird gleich anschliessend eine Arbeitsdefinition eingeführt. Diese wird dann über den Einbezug einiger Thesen dahingehend reflektiert, ob sich die anwendungsorientierten Wissenschaften als eigenständiges Tätigkeitsfeld verstehen lassen. Die Elaboration führt zu der Feststellung, dass sich die anwendungsorientierten Wissenschaften in einigen wesentlichen Aspekten von den Grundlagenwissenschaften unterscheiden. Diese Prämisse bildet die Grundlage des zweiten Kapitels, in welchem es um die Erarbeitung eines Verständnisrahmens anwendungsorientierter betriebswirtschaftlicher Wissenschaft geht. Den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit den Kernelementen der anwendungsorientierten Wissenschaften bildet folgende Arbeitsdefinition: Anwendungsorientierte Wissenschaft bezeichnet eine Tätigkeit, die darauf ausgerichtet ist, mit Hilfe von Erkenntnissen der theoretischen und/oder der Grundlagenwissenschaften Regeln, Modelle und Verfahren für praktisches Reflektieren und Handeln zu entwickeln. Sie kann daher auch als wissenschaftsgeleitete Praxis bezeichnet werden. 1.3 Wissenschaftstheoretische Aufgliederung der Forschungsgegenstände Ein fundiertes Verständnis der anwendungsorientierten Wissenschaften setzt voraus, dass diese im Rahmen eines umfassenden Wissenschaftsverständnisses verortet werden. Um also die anwen- Forschungsverständnis im Kontext anwendungsorientierter Wissenschaften (F&E) 3/8

dungsorientierten Wissenschaften in ihrer Eigenständigkeit zu beleuchten, beziehen wir uns auf ein gängiges Typenraster, welches die anwendungsorientierten Wissenschaften als eine Subkategorie der Realwissenschaften erfasst. Wie in der unten stehenden Aufgliederung erkennbar ist, unterscheiden sich die anwendungsorientierten Wissenschaften von den Formalwissenschaften insofern, als letztere dezidiert und ausschliesslich auf die logische Prüfung von Sprach- und Zeichensystemen ausgerichtet ist. Als Teil der Realwissenschaften unterscheiden sich die anwendungsorientierten Wissenschaften ferner von den grundlagenorientierten Realwissenschaften, welche die im Fokus stehenden Forschungsgegenstände vor allem über den Einbezug theoretischer Modelle zu erklären versuchen. Formalwissenschaften wie analytische Philosophie, Logik oder Mathematik beschäftigen sich ausschliesslich mit der logisch überprüfbaren Konstruktion von Sprachen bzw. Zeichensystemen. Realwissenschaften streben nach der faktisch überprüfbaren Beschreibung, Erklärung und Gestaltung empirisch wahrnehmbarer Ausschnitte der Wirklichkeit. o Bei den Grundlagenwissenschaften innerhalb der Realwissenschaften steht dabei die Erklärung von Wirklichkeitsausschnitten mit Hilfe von Theorien und Modellen im Mittelpunkt. o Die anwendungsorientierten Wissenschaften innerhalb der Realwissenschaften (wie den Ingenieur- oder angewandten Sozialwissenschaften) beschäftigen sich demgegenüber schwergewichtig mit der Analyse menschlicher Handlungsalternativen zur wissenschaftsgeleiteten Gestaltung sozialer und technischer Systeme. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass obiges Schema in erster Linie eine heuristische Funktion hat, indem es die Charakterisierung und Grobkategorisierung einzelner Forschungsdisziplinen und - traditionen unterstützt. Während vor allem die im Schema implizierten Grenzen zwischen den anwendungsorientierten und den grundlagenorientierten Realwissenschaften im praktischen Forschungsvollzug oft weniger deutlich zum Tragen kommen, verwenden wir die dichotome Unterscheidung der Realwissenschaften (d.h. grundlagen- und anwendungsorientierte Wissenschaften) im nächsten Kapitel, um die Frage weiter auszuführen, ob es sich bei den anwendungsorientierten (Real-) Wissenschaften tatsächlich um ein eigenständiges Forschungsfeld handelt. 1.4 Handelt es sich bei anwendungsorientierter Wissenschaft um eine eigenständige Konzeption innerhalb der Wissenschaft? Zwei Grundsatzpositionen Was die eigenständige Position der anwendungsorientierten Wissenschaften betrifft, so lassen sich zwei Grundpositionen einnehmen: 1) die anwendungsorientierte Wissenschaft ist kein eigenständiges Konzept innerhalb der Wissenschaft und 2) die anwendungsorientierte Wissenschaft lässt sich in Abgrenzung von den grundlagenorientierten (Real-) Wissenschaften als eigenständige Kategorie erfassen. Konkret lauten die Positionen wie folgt: Position 1a: Nein Für beide Bereiche, sowohl die grundlagen- wie auch die anwendungsorientierten Wissenschaften innerhalb der Realwissenschaften gilt dieselbe Forschungslogik. Es macht deshalb keinen Sinn zwischen grundlagen- und anwendungsorientierten Wissenschaften zu unterscheiden. Position 1b: Nein Anwendungsorientierte Wissenschaften sind gar nicht mehr der Wissenschaft zuzurechnen, sondern gehören der Praxis an. Position 2: Ja Grundlagen- und anwendungsorientierte Wissenschaften unterscheiden sich im Hinblick auf wesent- Forschungsverständnis im Kontext anwendungsorientierter Wissenschaften (F&E) 4/8

liche, wissenschaftstheoretisch und forschungsmethodologisch relevante Merkmale signifikant. Unser eigenes Wissenschaftsverständnis am IfU orientiert sich an der Position 2 (d.h. die grundlagen- und anwendungsorientierten Wissenschaften unterscheiden sich in wesentlichen Aspekten). Um die Unterscheidungsaspekte zwischen den grundlagen- und anwendungsorientieren (Real-) Wissenschaften zu konkretisieren, und um die eigenständige Rolle der anwendungsorientierten Wissenschaften zu betonen, beziehen wir uns im nächsten Kapitel auf vier Thesen von Hans Ulrich. 1.5 Vier Thesen H. Ulrichs zur eigenständigen Stellung der anwendungsorientierten Wissenschaften These 1 Die Forschungsprobleme der Grundlagenwissenschaften entstehen im Theoriezusammenhang der Wissenschaft, während diejenigen der anwendungsorientierten Wissenschaften in der Praxis entstehen. Die anwendungsorientierten Wissenschaften setzen bei einer realen Problemstellung, bei einem in der Praxis bestehenden, relevanten Problem an. Forschungstätigkeiten zielen auf die Lösung dieses wahrgenommenen Problems ab. In dieser Hinsicht ist der Praxisbezug für die anwendungsorientierten Wissenschaften konstitutiv, während er für die Grundlagenwissenschaften akzessorisch ist. Dabei bedingt die Vielschichtigkeit der Probleme der Praxis, dass disziplinäres Wissen verschiedener Grundlagenwissenschaften verarbeitet wird, womit anwendungsorientierte Wissenschaft meist einen interdisziplinären Charakter aufweist. These 2 Das Forschungsziel der Grundlagenwissenschaften ist die theoretische Erklärung bestehender Wirklichkeiten, während das der anwendungsorientierten Wissenschaften der Entwurf bzw. die Gestaltung möglicher zukünftiger Wirklichkeiten anhand von Regeln und Modellen ist. Daraus folgt, dass die Aussagen der anwendungsorientierten Wissenschaften nicht wie die der Grundlagenwissenschaften beschreibend und wertfrei, sondern normativ und wertend sind. These 3 Das Forschungsregulativ der Grundlagenwissenschaften ist die objektive Wahrheit, während das der anwendungsorientierten Wissenschaften die Nützlichkeit der Aussagen ist. Vor diesem Hintergrund dient die empirische Forschung in den Grundlagenwissenschaften der Überprüfung von Hypothesen, während sie in den anwendungsorientierten Wissenschaften neben der Erfassung praxisrelevanter Probleme vor allem der Prüfung der entwickelten Gestaltungsmodelle im Zusammenhang der Anwendung, d.h. der Praxis, dient. These 4 Die Fortschrittskriterien der Grundlagenwissenschaften sind die allgemeine Gültigkeit sowie die Erklärungs- und Prognosekraft von Theorien, während die der anwendungsorientierten Wissenschaften die praktische Problemlösungskraft von Gestaltungsmodellen und Entscheidungs- und Handlungsregeln ist. Die normativ-funktionalistische Differenzierung von H. Ulrich erlaubt Aussagen über kritische Unterschiede zwischen den grundlagen- und anwendungsorientierten Wissenschaften. Wir vertreten am IfU in Abgrenzung dazu die Meinung, dass diese kategorische Differenzierung in unserer aktuellen Wissenschaftspraxis nicht vollumfänglich haltbar ist. Beispielsweise gehen wir davon aus, dass in der Wissenschaftspraxis oft ein rekursives Verhältnis zwischen den beiden Wissenschaftsformen entsteht, was sich unter anderem darin zeigt, dass die anwendungsorientierten Wissenschaften ihr Vorgehen auf die Erkenntnisse aus den Grundlagenwissenschaften abstützen oder aber darin, dass die Grundlagenwissenschaften Einsichten aus anwendungsorientierten Forschungsprojekten zur Grundlage theoretischer Abstraktionen und Erklärungsmodelle machen. Ferner betrachten wir positi- Forschungsverständnis im Kontext anwendungsorientierter Wissenschaften (F&E) 5/8

vistische Kriterien wie Wertefreiheit und Objektivität nicht als endemische Charakteristika der Grundlagenwissenschaften, einerseits deshalb, weil diese Kriterien zu einem gewissen Grad auch in den anwendungsorientierten Wissenschaften zur Anwendung kommen und anderseits, weil die Grundlagenwissenschaften Forschungstraditionen beherbergen, welche sich an alternativen (z.b. post- oder anti-positivistischen) Forschungsparadigmen orientieren, welche die Qualität von Wissenschaft an Kriterien wie beispielsweise Plausibilität, Nützlichkeit oder Anschlussfähigkeit bemessen. Wir stimmen indes mit der Annahme von Ulrich überein, dass sich die grundlagen- und anwendungsorientierten Wissenschaften in der Frage des Praxisbezugs wesentlich unterscheiden. Die Grenzziehung zwischen den grundlagen- und den anwendungsorientierten Wissenschaften erfolgt somit insbesondere im Zusammenhang mit der Frage, wie unmittelbar die jeweiligen Erkenntnisse einen praktischen (sozio-ökonomischen) Nutzen zu stiften versuchen. Das Unterscheidungskriterium Praxisbezug soll im Folgenden ausgeführt und konkretisiert werden. 1.6 Wissenschaftstheoretische Aufgliederung des Forschungsprozesses als weiteres Argument für die eigenständige Stellung der anwendungsorientierten Wissenschaften Die Unterscheidung von grundlagen- und anwendungsorientierten Wissenschaften anhand ihres Praxisbezugs lässt sich mit Hilfe der folgenden drei Kritierien verdeutlichen. Entdeckungszusammenhang In welchem Zusammenhang werden die leitenden Fragestellungen entdeckt (d.h. Theorie- oder Praxiszusammenhang)? Begründungszusammenhang In welchem Zusammenhang werden Thesen, Regeln, Modelle, Theorien, Verfahren zur Beantwortung der leitenden Fragestellungen begründet (d.h. Begründung wissenschaftlicher Erkenntnisse anhand ihres theoretischen Erklärungs- oder Prognosegehalts oder anhand ihres praktischen Reflexions- oder Problemlösevermögens)? Anwendungszusammenhang Mit welchem (interessengebundenen) Zweck werden wissenschaftliche Aussagen ange- und verwendet (d.h. Beitrag an die wissenschaftliche Gemeinschaft oder an die Praxis)? Während der explizite Praxisbezug für die Grundlagenwissenschaften oft von geringer Bedeutung ist, da sie sich auf die theoretische Erklärung von bestehenden Wirklichkeiten beschränken und aus dieser Sicht Aspekte der Anwendung dieses Wissens als ein Thema der Praxis betrachtet werden, besitzt er für anwendungsorientierte Wissenschaften aufgrund ihrer konzeptionellen Ausrichtung auf die Praxis eine hohe Bedeutung. Das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen grundlagen- und anwendungsorientierten Wissenschaften besteht somit darin, dass letztere dezidiert auf die Stiftung eines unmittelbaren Nutzens für die Praxis abzielt. Die Frage des Nutzens kann sich dabei sowohl auf die Mikro- (z.b. involvierte Praxispartner) wie auch auf die Meso- (z.b. Gemeinde) oder Makro-Ebene (z.b. Gesellschaft, Nationalökonomie) beziehen. Forschungsverständnis im Kontext anwendungsorientierter Wissenschaften (F&E) 6/8

2. Was heisst Anwendungsorientierung aus spezifisch betriebswirtschaftlicher Perspektive? 2.1 Die Betriebswirtschaftslehre als anwendungsorientierte Wissenschaft Während im ersten Kapitel die Grundlage geschaffen wurde, um die anwendungs- von den grundlagenorientieren Wissenschaften zu unterscheiden, geht es nun darum, die Anwendungsorientierung der Betriebswirtschaftslehre zu verdeutlichen. Zu diesem Zweck ist festzuhalten, dass die Betriebswirtschaftslehre am IfU als anwendungsorientierte, praktisch-normative Sozialwissenschaft verstanden wird, die sich insbesondere mit den Problemen der Gestaltung zweckgerichteter sozialer Systeme befasst. Die Betriebswirtschaftslehre soll somit den Handelnden an theoretischen Grundlagen orientierendes nützliches Wissen für deren Lösung bereitstellen. An der Hochschule für Wirtschaft beziehen wir uns in diesem Zusammenhang auf H. Ulrich, dessen um kybernetische und evolutorische Erkenntnisse erweiterter Systemansatz die Gestaltung, Lenkung und Entwicklung zweckgerichteter Institutionen der menschlichen Gesellschaft ermöglicht und dabei simultan der komplexen Verflechtung verschiedener Organisationsbereiche sowie den vielfältigen organisationalen Umweltbeziehungen Rechnung trägt. Dieser Theoriebezug impliziert nun für den Bereich F&E am IfU, dass die Betriebswirtschaftslehre (verstanden im Sinne einer anwendungsorientierten Sozialwissenschaft) bei einem in der Praxis bestehenden, relevanten Problem ansetzt. Betriebswirtschaftliche Forschungstätigkeiten zielen somit auf die Lösung von Problemen im Zusammenhang mit der Gestaltung, Lenkung und Entwicklung zweckgerichteter sozialer Systeme ab. Ihr Forschungregulativ ist die Nützlichkeit im Sinne der Erhöhung des Reflexionsgrads sozialer Systeme sowie der Problemlösungskraft ihrer Gestaltungs-, Entscheidungs- und Handlungsregeln im Anwendungszusammenhang ihrer Erkenntnisse und Lösungsvorschläge. Die Klärung des Anwendungszusammenhangs und der expliziten Praxisorientierung der Betriebwirtschaftlehre dient als Basis, um im Folgenden die daraus sich ableitenden typischen Fragestellungen der anwendungsorientierten betriebswirtschaftlichen Forschung zu erläutern. 2.2 Beispiele typischer Fragestellungen aus dem Anwendungszusammenhang anwendungsorientierter betriebswirtschaftlicher Forschung Die besondere Berücksichtigung des Anwendungszusammenhangs betriebswirtschaftlicher Forschung bedeutet zugleich eine erweiterte Betrachtung der Wirkungen (wirtschafts-) wissenschaftlicher Gestaltungsmodelle bzw. Technologien. Dies hat in jüngerer Vergangenheit zu einer zunehmenden Bedeutung ökologischer, gesellschaftspolitischer sowie ethischer Kriterien bei der Beurteilung des Anwendungszusammenhangs geführt. Das Ziel anwendungsorientierter betriebswirtschaftlicher Forschung lässt sich nun anhand der Merkmale der Art der Problemstellung (inhaltlich/methodisch) und der Merkmale der Art des Praxisbezugs (Einzelfall/soziales System) in vier Typen unterscheiden: Typ 1 Inhaltliche Lösung für ein konkretes Praxisproblem (inhaltlich/einzelfall) Beispiel: Marketingplan für eine Neuprodukteinführung Typ 2 Lösungsverfahren für ein konkretes Praxisproblem (methodisch/einzelfall) Beispiel: Controllingkonzept für den Unternehmensbereich Forschung und Entwicklung Typ 3 Gestaltungsmodell für die Veränderung der sozialen Wirklichkeit (inhaltlich/soziales System) Beispiel: Mitarbeiter-Empowermentprogramm Forschungsverständnis im Kontext anwendungsorientierter Wissenschaften (F&E) 7/8

Typ 4 Regeln für die Entwicklung eines Gestaltungsmodells in der Praxis (methodisch/soziales System) Beispiel: Stakeholderansatz im Zusammenhang mit Unternehmensfusionen 2.3 Interdisziplinarität anwendungsorientierter betriebswirtschaftlicher Forschung Die Vielschichtigkeit der Probleme der betriebswirtschaftlichen Praxis sowie insbesondere die Komplexität des Anwendungszusammenhangs betriebswirtschaftlicher Gestaltungs-, Entscheidungs- und Handlungsvorschläge bedingt in vielen Fällen den Einbezug von disziplinärem Wissen verschiedener Grundlagenwissenschaften sowie von Erkenntnissen und Methoden unterschiedlicher komplementärer Fachbereiche. Anwendungsorientierte betriebswirtschaftliche Forschung weist deshalb einen interdisziplinären Charakter auf, der die Erhöhung des Informationsgehalts sowie des Problemlösepotentials wissenschaftlicher Aussagen ermöglicht. 3. Schlussbemerkung Unserer Auffassung nach weisen sowohl die Ingenieurwissenschaften als auch die Betriebswirtschaftslehre als anwendungsorientierte Wissenschaften wichtige Gemeinsamkeiten auf. Die Nähe zwischen den beiden Disziplinen ergibt sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass sich beide mit der Analyse menschlicher Handlungsalternativen zur wissenschaftsgeleiteten Gestaltung technischer und sozialer Systeme befassen. Für beide Disziplinen ist zudem der Anwendungszusammenhang ihrer Forschung von wesentlicher Bedeutung. Für das IfU bedeutet die besondere Berücksichtung des Anwendungszusammenhangs betriebswirtschaftlicher Forschung jedoch zugleich eine erweiterte Betrachtung der Wirkungen (wirtschafts-) wissenschaftlicher Gestaltungsmodelle bzw. Technologien in Form des Nachhaltigkeitsprinzips, des Stakeholder- bzw. Interessengruppenansatzes oder in Modellen zur Technologiefolgenabschätzung. Dieses um ökologische, gesellschaftspolitische sowie ethische Kriterien erweiterte Forschungsverständnis des IfU ist prinzipiell offen für interdisiziplinäre Forschungsprojekte mit anderen Instituten der Hochschule für Wirtschaft ebenso wie für die transdisziplinäre Zusammenarbeit nicht nur mit Instituten der Hochschule für Technik, sondern mit den Instituten weiterer Hochschulen innerhalb der FHNW, wie insbesondere der Hochschule für Angewandte Psychologie und der Hochschule für Soziale Arbeit. Quellen Ulrich, H.: Die Betriebswirtschaftslehre als anwendungsorientierte Sozialwissenschaft und Zum Theorie- und Praxisbezug der Betriebswirtschaftslehre als anwendungsorientierte Wissenschaft, in ders.: Gesammelte Schriften, Band 5, Bern/Stuttgart/Wien: Haupt, 2001, S.17-51. Ulrich, P./ Hill, W.: Wissenschaftstheoretische Aspekte ausgewählter betriebswirtschaftlicher Konzeptionen, in Raffée, H./ Abel, B. (Hrsg.): Wissenschaftstheoretische Grundfragen der Wirtschaftswissenschaften, München: Valen, 1979. Chmielewicz, K.: Forschungskonzeptionen der Wirtschaftswissenschaften, Sammlung Poeschel, 3. unveränderte Auflage, Stuttgart: Schäfer-Poeschel, 1994. Forschungsverständnis im Kontext anwendungsorientierter Wissenschaften (F&E) 8/8