Andreas Boes, Tobias Kämpf, Kira Marrs Auf dem Weg in eine Zukunftsforum 2 Neue Formen der Industrialisierung Frankfurt am Main, 22. Februar 2013
Neue Phase der Globalisierung neuer Typ der Industrialisierung Rückblick: Offshoring avanciert 2002 zum Schlüsselbegriff für einen fundamentalen Umbruch in der Globalisierungsdebatte Standardisierung und Prozesssteuerung bilden die zweite Seite der Medaille These (2004): Neue Phase der Globalisierung geht mit einem neuen Typ der Industrialisierung einher Aufschaukelungseffekt Heute: Entwicklung übertrifft Prognose Neue Ansätze der Industrialisierung haben einen deutlichen Aufschwung erfahren Reformulierung: Industrie 4.0 Industrielle Fertigung erfindet sich neu Ausweitung: Factory-Konzept für unterschiedlichste Dienstleistungen Kreditfabrik, Shared Services, Software Factory Vertiefung: Lean-Konzept für hochqualifizierte Kreativarbeit Lean Management, Lean Development, Lean Engineering, Ganzheitliche Produktionssysteme Wir ziehen nach fast 10 Jahren Forschung zur eine Zwischenbilanz und fragen: Was zeichnet den neuen Typ der Industrialisierung aus? Wie verändert sich Arbeit und wie erleben die Menschen die Veränderung? 2
Agenda Industrialisierung Was ist es und was ist es nicht? Informatisierung und ein neuer Typ der Industrialisierung Wandel der Arbeit das Beispiel Lean Development Zukunft der Arbeit in der Industriegesellschaft 3
Industrialisierung Definition Gängige Definitionsversuche setzen an einzelnen Erscheinungen an Arbeitsteilung Maschinerie Industrialisierung bedeutet also, Fremdbestimmte und inhumane Arbeit einen Produktionsprozess vom Geschick Systematischer Definitionsversuch setzt am Wesen an Marx Begriff reflektiert Übergang von und der vom Manufaktur Willen zur einzelner großen Individuen Industrie loszulösen, Manufaktur hocharbeitsteilige ihn mit wissenschaftlichen Organisation handwerklich Methoden qualifizierter Arbeitskräfte Maschinerie erzwingt die systematische Vorausplanung des Arbeitsprozesses in einen objektiven Prozess zu verwandeln Maschinensysteme verwandeln große Produktionsabschnitte in objektiven Prozess und diesem in der Praxis der Arbeitsprozesse Begriff Industrialisierung: Verwandlung eines subjektiven in einen objektiven Prozess Wirkmächtigkeit zu verleihen. Industrialisierung bedeutet (Boes, also, Kämpf einen Produktionsprozess 2012) vom Geschick und vom Willen einzelner Individuen loszulösen, ihn mit wissenschaftlichen Methoden in einen objektiven Prozess zu verwandeln und diesem in der Praxis der Arbeitsprozesse Wirkmächtigkeit zu verleihen. (Boes, Kämpf 2012) 4
Taylors wissenschaftliche Betriebsführung Zu Unrecht Inbegriff der Industrialisierung Taylors wissenschaftliche Betriebsführung begründet unser heutiges Verständnis von Industrialisierung auch wenn er die Idee im Grunde nur halb verstanden hat Im Mittelpunkt steht die Rationalisierung der Handarbeit Grundsätze Loslösung des Arbeitsprozesses von den Fertigkeiten des Arbeiters Trennung von Vorstellung und Ausführung Verwendung des Wissensmonopols, um jeden Schritt des Arbeitsprozesses zu kontrollieren Was macht Taylor genau? Betriebsingenieure dringen von außen in die Handarbeit vor Machen aus Zeitstudien Vorgaben zum Wie Organisatorische Vorgaben oder Maschinen erzwingen bestimmte Handlungsfolgen Ersetzbarkeit der Handarbeiter als zentrale Folge Taylor als Webfehler der Industrialisierung Verobjektivierung setzt nicht am übergeordneten Prozess, sondern an einzelner Tätigkeit an Abkehr vom Prozessgedanken als fundamentaler Webfehler der Geschichte der Industrialisierung mündet im Autismus der Abteilungen in der fordistischen Fabrik 5
Gescheiterte Versuche der Taylorisierung der Kopfarbeit Taylors Grundsätze werden immer wieder auf verschiedene Tätigkeitsbereiche im Angestelltenbereich übertragen Sie münden in bürokratische Kontrollstrategien und scheitern in der Praxis Warum Taylor bei Kopfarbeit gescheitert ist Gedankliche Prozesse selbst sind nicht von außen beobachtbar Kopf als black box Wesentliche Momente der gedanklichen Lösungsfindung nicht vollständig planbar Prozesse der Leistungserstellung schwieriger vorausplanbar Geistige Tätigkeiten, die taylorisierbar sind, sind automatisierbar Das Scheitern Taylors nährte die Illusion der Rationalisierungsresistenz von Kopfarbeit und bildet die Grundlage für vielfältige Mythen über den Widerspruch von Kreativität und Industrie 6
Agenda Industrialisierung Was ist es und was ist es nicht? Informatisierung und ein neuer Typ der Industrialisierung Wandel der Arbeit das Beispiel Lean Development Zukunft der Arbeit in der Industriegesellschaft 7
Informatisierung als Unterseite der großen Industrie Stoffwechsel mit der Natur Produktionsprozess = stofflich-materielle Ebene + Informationsebene Konsequente Trennung von Hand- und Kopfarbeit Objektive Informationen als Voraussetzung und Treiber der Industrialisierung der Handarbeit Ausweitung der Kopfarbeit Ingenieure, kaufm. Angestellte, Bürofachkräfte, etc. Maschinen steigern Produktivität der Handarbeit Informatisierung die der Kopfarbeit Informatisierung als Unterseite der Steigerung der Produktivkräfte und verdecktes Fundament der klassischen Industrie 8
Globaler Informationsraum als Produktivkraftsprung in der Wirtschaft Globaler Informationsraum als neuer sozialer Handlungsraum Arbeit: Informationsraum wird zum neuen Raum der Produktion und zum dominanten Bezugssystem der Steuerung der Produktion Systemische Integration: Unternehmen agieren aus einem Guss IT-gestützte Prozesse als Rückgrat Vernetzung und Globalisierung: Unternehmen als Teil global verteilter Wertschöpfungsketten, neue Durchgängigkeit bis zum Kunden und zum einzelnen Freelancer Produktivkraftsprung: Neues Potenzial der Nutzung geistiger Produktivkraft 9
Die Maschinensysteme der großen Industrie begründeten die Industrialisierung alten Typs der Informationsraum bildet die Basis für die Informatisierung als Basis der Neufassung der Prinzipien der Industrie auf der Basis der Informatisierung Zentrale Prinzipien des neuen Typs der Industrialisierung Dominanz der Informationsebene Industrialisierung setzt an informationsverarbeitetenden Prozessen an und revolutioniert Hand- wie Kopfarbeit gleichermaßen Prozessorientierung IT-gestützte Prozesse als Rückgrat von Organisation und Arbeit Kollektivierung von Wissen Verbindung von Kommunikation nach dem Modus der Öffentlichkeit mit Informationssystemen Objektiver Prozess Einbindung von Kopfarbeit in objektive Prozesse, Wiederholbarkeit und Planbarkeit von Subjektleistungen, Trennung von Subjektivität und Individualität 10
Neue Formen der Industrialisierung Industrie 4.0 Reformulierung traditioneller Industrialisierungsansätze Verkopplung komplexer Informationssysteme mit intelligenten Werkstücken Fluide Automatisierung Factory-Konzepte und Shared Services Neuindustrialisierung von Dienstleistungs- und Angestelltentätigkeiten Beschreibung komplexer Arbeitsprozesse als durchgängige wiederholbare Prozesse (ITIL, CMMI, etc.) Prozesssteuerung über IT-gestützte Prozesse Lean-Ansatz Neuindustrialisierung von Angestelltentätigkeiten mit hohen kreativen Anteilen 11
Agenda Industrialisierung Was ist es und was ist es nicht? Informatisierung und ein neuer Typ der Industrialisierung Wandel der Arbeit das Beispiel Lean Development Zukunft der Arbeit in der Industriegesellschaft 12
Lean in der Software-Entwicklung: Vom agilen Manifest zu einem neuen Produktionsmodell Ausgangspunkt: Lange Tradition bürokratischer Konzepte in der Software- Entwicklung ( Wasserfall-Projekte ) Scheitern in der Praxis Agile Methoden als Gegenbewegung Software-Entwicklung selbst wird wieder in das Zentrum gerückt ( agile manifesto ) Innovative Ansätze für den Umgang mit Unwägbarkeiten und Nicht-Planbarkeit (z.b. Scrum) Mit der Einbindung der agilen Methoden in Lean erfolgt der Durchbruch in den Unternehmen Lean stammt aus der japanischen Automobilindustrie und steht für die Überwindung des tayloristisch-fordistischen Produktionsmodells Lean + Agil: Neues Produktionsmodell für Software-Entwicklung Software-Entwicklung als systemisch integrierte Wertschöpfungskette Kundennutzen Prozessorientierung: Intelligente Prozesse und kontinuierliche Verbesserung Kollektivierung von Wissen Grundlegende Abkehr vom Wasserfall und bürokratischen Konzepten und gleichzeitig Öffnung in Richtung neuer Formen der Industrialisierung 13
Software-Entwicklung im neuen Produktionsmodell Arbeit in einer synchronisierten und getakteten Wertschöpfungskette Kurzzyklische Entwicklungsintervalle statt langer Projektzyklen: Entwicklung in 2-4 wöchigen Sprints Neue Qualität systemischer Integration: Entwicklungsabteilungen mit mehreren tausend Entwicklern schwingen im selben Takt Usable Software als neuer Integrationsmodus Zerlegung komplexer Software auf Basis von Backlogs Transparenz Iterative Organisation der Arbeitsteilung Einerseits Basis für kollektive Lernprozesse der Teams andererseits Grundlage für effizientes Reporting und Kontrolle Empowertes Team als Nukleus des neuen Produktionsmodells Selbstorganisation & commitment als zentrale Prinzipien Paradigmenwechsel: Von der individuellen Expertise zu kollektiven Wissensdomänen 14
Der Wandel von Arbeit und die Perspektive der Beschäftigten Perspektive Beschäftigte: Schritt in die richtige Richtung und gleichzeitig fundamentaler Wandel der Arbeitssituation IT-Arbeit wird öffentlich (Bultemeier 2012) Transparenz als Basis für Zusammenarbeit und kollektive Lernprozesse Neue Anforderungen an Entwickler: Wissen teilen und weitergeben kommunikative Fachlichkeit Ohne Vertrauen: Transparenz als Bedrohung und Grundlage für Kontrolle und Überwachung Wandel des Expertenmodus Vom Einzelkämpfer zum kollektiven Team-of-Ten Kollektivierung von Wissen: Während jüngere Beschäftigte dies als Chance erleben, erleben erfahrene Beschäftigte dies oft als Entwertung Kollektive Wissensdomänen als Basis größerer Austauschbarkeit Neue Belastungen Herausforderungen für die Kompetenzentwicklung Einerseits: Neue salutogene Potentiale & Chance Arbeitsmenge selbstständig zu bestimmen Andererseits: Steigende Belastungen durch Taktung, mangelndes Empowerment und zu wenig Entschleunigung 15
Software-Entwicklung am Scheideweg Widersprüchliche Entwicklungstendenz Lean-Development am Scheideweg Szenario I Produktivkraftsprung und neue Qualität der Nutzung geistiger Produktivkraft Szenario II Software vom Fließband und neue Formen der Kontrolle austauschbarer IT-Arbeit Gestaltung notwendig Spannungsfelder & Herausforderungen Echtes Empowerment der Teams vs. Gruppenarbeit am Fließband Transparenz durch Vertrauen vs. Transparenz als Kontrolle Fokus auf Innovation & Kreativität vs. Abarbeitung des Backlogs Nachhaltiges Tempo vs. Arbeit unter permanenten Zeitdruck Nutzung und Kultivierung von Slack vs. einseitige Eliminierung von Waste 16
Agenda Industrialisierung Was ist es und was ist es nicht? Informatisierung und ein neuer Typ der Industrialisierung Wandel der Arbeit das Beispiel Lean Development Zukunft der Arbeit in der Industriegesellschaft 17
Zukunft der Arbeit in der Industriegesellschaft Historische gesellschaftliche Zäsur: Durchsetzung der großen Industrie brachte Industriegesellschaft hervor globaler Informationsraum schafft die Grundlage für eine zweite Industriegesellschaft Umbruch der Arbeit: Mit der Durchsetzung eines neuen Typs der Industrialisierung zeichnet sich ein grundlegender Wandel der Arbeit ab Industrialisierung der Kopfarbeit zeichnet sich ab Verhältnis zwischen Hand- und Kopfarbeitsbereichen verändert sich Vogel Strauß hilft nicht Herausforderungen annehmen Ängste, Ressentiments, Widerstände ernst nehmen! Wie lässt sich die für die Menschen gestalten? 18
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Weitere Informationen: PD Dr. Andreas Boes ISF München Jakob-Klar-Str. 9, 80796 München +49 (0) 89 272921-0 http://www.globepro.de http://www.isf-muenchen.de andreas.boes@isf-muenchen.de twitter: @AndreasBoes