Web 2.0 & Social Media: Die Perspektive der Medizinethik Prof. Dr. Dr. Daniel Strech Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie CELLS Centre for Ethics and Law in the Life Sciences afgis e.v., Hannover, 5.12.2011 Gliederung Anwendungsbereiche in der Medizin Selbstverständnis der Ethik Ethik von Web 2.0 und Social Media in der Medizin Fallanalyse: Arztbewertungsportale Fazit 1
Web 2.0 & Social Media in der Medizin Gesundheits-Information (Web 2.0?) Wikipedia/Youtube Facebook/Twitter/Blogs Arztbewertungs- und Zweitmeinungs-Portale Arztbewertungsportale 2
Zweitmeinungsportale Web 2.0 & Social Media in der Medizin Gesundheits-Information (Web 2.0?) Wikipedia/Youtube Facebook/Twitter/Blogs Arztbewertungs- und Zweitmeinungs-Portale Online Communities & Personal Health Record 3
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Gliederung Anwendungsbereiche in der Medizin Selbstverständnis der Ethik Ethik von Web 2.0 und Social Media in der Medizin Fallanalyse: Arztbewertungsportale Fazit Der Unterschied zwischen Moral und Ethik Alles dasselbe? Sitte, Gewohnheit, Üblichkeit, Ethos Moral = Komplexes System von Regeln, Normen, Wertmaßstäben Moral ist einfach da bzw. wird vorgefunden In Individuen, Gesellschaften, Subkulturen Ethik = Theorie/Analyse der Moral (Moralphilosophie) Steht den moralischen Selbstverständlichkeiten distanziertreflektiert gegenüber Orientiert sich an methodischen Idealen (Rationalität, Konsistenz, Kohärenz) 5
Ethik versus Moral im Web 2.0 Z.B. Projekt: Web 2.0 und Medienethik* Prof. S. Trepte, Hamburger Stiftung für Wirtschaftsethik Im Internet treffen Kulturen mit ganz unterschiedlichen Verständnissen von Medienethik aufeinander Dieses Forschungsprogramm soll helfen, die Frage zu beantworten, ob man tatsächlich von einer Ausblendung von Ethik im Internet sprechen kann, oder ob das Internet nur seine eigenen, viel globaleren ethischen Maßstäbe hat, mit denen wir uns vertraut machen müssen *www.uni-hamburg.de/fachbereiche-einrichtungen/medienpsychologie/web2_0_medienethik.html Das Expertenproblem Es gibt keine Moralexperten Worin kann/sollte dann die Ethikexpertise bestehen? 6
1. Mediation Die eine Seite für die Sichtweise der anderen Seite sensibilisieren Vorurteile, Fehlwahrnehmungen und Mythenbildung korrigieren 2. Analyse Kognitive Qualitätsstandards Einhalten von: Expliziter, konsistenter Argumentation Aufdecken von: Widersprüchen, Fehlschlüssen, vorschnelle Polarisierung, Emotionalisierung Klärung mehrdeutiger Begriffe (welche die Hauptlast der Argumentation tragen) Menschenwürde, Eigenverantwortung u.a. Nutzen, Schaden, Kosten Evidenz, Qualität, Validität 7
3. Entwicklung ethischer Rahmengerüste zur Bewertung/Lösung ethischer Konflikte Inhalte Prinzipien Nicht-Schadens Gebot, Respekt der Autonomie, Gerechtigkeit u.a. Verfahrens Prinzipien Transparenz, Begründung, Partizipation u.a. Gliederung Anwendungsbereiche in der Medizin Selbstverständnis der Ethik Ethik von Web 2.0 und Social Media in der Medizin Fallanalyse: Arztbewertungsportale Fazit 8
Ethik von Web 2.0 und Social Media in der Medizin Grundsätzlich andere/neue Ethik? NEIN: Keine neuen ethischen Grundprinzipien Neue ethische Konflikte und Herausforderungen? JA Spektrum an ethischen Herausforderungen/Konflikten Ethische Probleme entstehen, wenn ethische Grundprinzipien nicht angemessen berücksichtigt werden Z.B.: Schaden durch verzerrte Informationen Z.B.: Verletzung der Schweigepflicht in Blogs Ethische Konflikte entstehen, wenn ethische Grundprinzipien (teilweise) unvereinbar sind Z.B.: Arztbewertungsportale: Freie Meinungsäußerung und Wunsch nach Transparenz zu ärztlicher Qualität versus Schadenspotentiale für Ärzte u.a. 9
Beispiele Gesundheits-Information Validität, Verständlichkeit, Zugangsbarrieren Wikipedia/Youtube Angemessene Zitation? Plagiatsgefahr (und Plagiatsaufdeckungsgefahr!) Facebook/Twitter/Blogs Konsequente Einhaltung der ärztlichen Schweigepflicht? Einfluss (negativ oder positiv) auf die Arzt-Patienten Beziehung Arztbewertungs- und Zweitmeinungs-Portale Siehe folgende Folien Online Communities & Personal Health Record Einhaltung (angepasster) Standards in der Forschung mit Patientencommunities (Informierte Einwilligung, Nutzen-Schaden Abwägung, Datenschutz etc.) Ethik von Arztbewertungsportalen (ABP) 10
Öffentliche ABP Kritik 1 R. Stahl, Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung(KBV): Digitaler Ärztepranger F. U. Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK): Plattform für Denunzianten L. Buckman, British Medical Association (BMA), Chairman General Practitioners Committee "A website on which people can slander or praise irresponsibly is the wrong approach. Patients should be able to choose a doctor, but I don't think this is the way to do it. 1. Strech, D. (2010). "Arztbewertungsportale aus ethischer Perspektive. Eine orientierende Analyse." Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes (ZEFQ) Öffentliche ABP Befürwortung Jochen Graalmann, Vize-Präsident der AOK Patienten sind in der Lage Servicequalität, Praxisorganisation, Wartezeiten und Einbindung in ärztliche Entscheidung zu beurteilen Ben Bradshaw (GB, Gesundheitsminister 2007-2009) I wouldn t think of going on holiday without cross referencing at least two guide books and using Trip Advisor. We need to do something similar for the modern generation in health care. 11
Ärztebewertungen in Thüringen und Hamburg (Zufallsstichprobe: n=298) 1 Identifizierbare Ärzte (absolut; %) Bewertete Ärzte (absolute; %) Max. Anzahl Bewertungen pro Arzt Durchschnittl. Anzahl an Bewertungen Durchschnittliche Bewertung: 1=positiv, 2=neutral, 3=negativ Imedo Jameda Docinsider Esando Medführer Topmedic 267; 90 293; 98 258; 87 254; 85 223; 76 271; 91 83; 28 80; 27 73; 25 36; 12 10; 3 19; 6 7 18 27 4 3 6 1,4 3,9 2,8 1,1 1,3 1,5 1,1 1,1 1,4 1,2 1,5 1,4 1. Strech, D. und S. Reimann (im Druck). "Deutschsprachige Arztbewertungsportale. Der Status quo ihrer Bewertungskriterien, Bewertungstendenzen und Nutzung." Gesundheitswesen Ärztebewertungen in Thüringen und Hamburg (298 Ärztinnen und Ärzte) 1 Identifizierbare Ärzte (absolut; %) Bewertete Ärzte (absolut; %) Max. Anzahl Bewertungen pro Arzt Durchschnittl. Anzahl an Bewertungen Durchschnittliche Bewertungen: 1=positiv, 2=neutral, 3=negativ Imedo Jameda Docinsider Esando Medführer Topmedic 267; 90 293; 98 258; 87 254; 85 223; 76 271; 91 83; 28 80; 27 73; 25 36; 12 10; 3,4 19; 6,4 7 18 27 4 3 6 1,4 3,9 2,8 1,1 1,3 1,5 1,1 1,1 1,4 1,2 1,5 1,4 Quality scores look like the results of an East European election under the Soviet regime Ben Bradshaw (GB, Gesundheitsminister, 2007-2009) 1. Strech, D. und S. Reimann (im Druck). "Deutschsprachige Arztbewertungsportale. Der Status quo ihrer Bewertungskriterien, Bewertungstendenzen und Nutzung." Gesundheitswesen 12
Ethische Kernprinzipien (in dieser Debatte) * 1. Patienten-Wohl 2. Patienten-Autonomie 3. Ärzte-Wohl 4. Gerechtigkeit 5. Faires Verfahren * Strech, D. (2010). "Arztbewertungsportale aus ethischer Perspektive" ZEFQ ABP & Patienten-Wohl Ziel von ABP kann u.a. die Verbesserung von Gesundheit sein Erfolgsbedingungen 1. Ärzte werden durch Bewertungen in ABP auf Verbesserungspotentiale in ihrer eigenen Arbeit hingewiesen UND setzen diese anschließend in die Praxis um 2. Es gibt gesundheitsrelevante Qualitätsunterschiede bei Ärzten (Versorgungsqualität) Diese können durch ABP in einem gewissen Maße aufgedeckt werden Durch ABP informierte Patienten suchen sich mit höherer Wahrscheinlichkeit einen qualitativ besseren Arzt aus 13
Parallelen zum public reporting von Qualitätsindikatoren? Hinweise, dass public reporting auch zu geringerer Versorgungsqualität führen kann 1,2 weil Ärzte gezielt Patienten mit zum Indikator passenden Risiko-Profilen aussuchen Übertragbar auf ABP? 1. Werner RM (2005) The unintended consequences of publicly reporting quality information, JAMA 2. Leatherman ST et al. (2003) A research agenda to advance quality measurement and improvement. Med Care ABP & Patienten Autonomie Interventionsziel: Gesundheitskompetenz (health literacy 1,2 ) Funktionale Ebene: Einen Facharzt finden Interaktive Ebene: Förderung interaktiver Kompetenzen und Strukturen ABP kann Patienten-Kommunikation und den Austausch von Wissen verbessern (peer-to-peer) 1. Nutbeam D (2008) The evolving concept of health literacy, Soc Sci Med 2. Kickbusch I (2009) Health literacy: engaging in a political debate, Int J Public Health 14
Health Literacy: Drei Ebenen Kritische Ebene: Die Fähigkeit, Gesundheits- Informationen und Standards zu hinterfragen und kritisch zu bewerten. Amazon: Helfen Sie anderen Kunden bei der Suche nach den hilfreichsten Rezensionen ABP & Ärzte-Wohl Emotionale und psychische Schadenspotentiale Durch öffentliche Diskussion über professionelle Fähigkeiten? Jain, S. "Googling ourselves--what physicians can learn from online rating sites." NEJM 2010 Finanzieller Schaden/Gewinn (für Einzelne) ABP als Anreizsystem, Pay-for-Performance? 15
ABP & Ärzte-Wohl Gegenmaßnahmen Mindestanzahl an Bewertungen (z.b. 5-10) Review zum Ausschluss von Diffamierung Zu strikte Gegenmaßnahmen können wiederum Nutzenpotentiale minimieren Ethische Herausforderung Differenzierung zwischen Diffamierung und angemessener Kritik Gerechtigkeit/Chancengleichheit Wirken sich ABP auf Chancen-Gleichheit aus? Internet ist relativ zugänglich im Gegensatz zu frag einen guten Freund, der Arzt ist. Finanzielle und nicht-finanzielle Zugangsbarrieren Effektiver Gebrauch von ABP abhängig von kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten des Nutzers 16
Parallelen zum public reporting von Qualitätsindikatoren? Patientenzufriedenheit kann mit Herkunft oder sozioökonomischem Status korrelieren 1-3 Gefahr einer z.t. selektiven Auswahl an Patienten aus Angst negativ bewertet zu werden? 1. Werner RM (2005) The unintended consequences of publicly reporting quality information, JAMA 2. Harpole LH et al. (1996) Patient satisfaction in the ambulatory setting, J Gen Intern Med 3. van Ryn M (2000) The effect of patient race and socio-economic status on physicians' perceptions of patients, Soc Sci Med Legitimität: Bedingungen für ein faires Vorgehen Implementierung/Regulierung von ABP = Komplexe Abwägungen Es gibt kein ethisches Superprinzip Legitimität stärken durch faires Vorgehen 1,2 1. Daniels N (2008) Just health: meeting health needs fairly. New York, Cambridge University Press. 2. Marckmann G & Strech D (2010) Konzeptionelle Grundlagen einer Public Health Ethik. In: Public Health Ethik. Strech D & Marckmann G (Eds.) Münster, LIT Verlag: 43-65 17
Grundbedingungen für faire Verfahren/Prozesse Transparenz Argumente und empirische Daten Begründung Gründe, die explizit und nachvollziehbar die ethischen Kernprinzipien reflektieren Partizipation Cave: Keine Gold-Standards Minimierung von Interessenkonflikten Cave: Keine Gold-Standards Offenheit für Revision Z.B. im Falle neuer Evidenz zu Effekten von ABP Schlussfolgerungen/Offene Fragen I Der potentielle Schaden für Ärzte sollte eingedämmt werden,.. aber Maßnahmen in diesem Sinne sollten ihre Einschränkung der Nutzenpotentiale von ABP rechtfertigen können Beispiel: Arztnavi aktuell ohne Freitextfelder Explizites Ziel: Die Vermeidung von Diffamierung 18
Schlussfolgerungen/Offene Fragen II ABP könnten Diskrepanzen in der Gesundheitskompetenz (health literacy) weiter verschärfen Öffentliche ABP sollten speziell auf die Bedürfnisse der vulnerablen Gruppen zugeschnitten sein Zugang und Klarheit von Informationen bedürfen der Evaluation und Verbesserung Gliederung Anwendungsbereiche in der Medizin Selbstverständnis der Ethik Ethik von Web 2.0 und Social Media in der Medizin Fallanalyse: Arztbewertungsportale Fazit 19
Fazit: Web 2.0 und Social Media Es geht nicht um das ob sondern um das wie! Medizinethische Grundprinzipien sind weiterhin bedeutsam müssen aber fallspezifisch konkretisiert und in fairen Prozessen gegeneinander abgewogen werden (siehe Beispiel zu ABP). Aufgaben der Ethik Unterstützung bei der Konkretisierung und Abwägung Entwicklung von ethischen Kriterienkatalogen für verschiedene Social Media Anwendungen American Medical Association: Professionalism in the Use of Social Media (2010) Die Medizin ist nicht die einzige Profession, die sich den Herausforderungen durch Social Media und Web 2.0 stellen muss! 20
Stand: Juni 2011 (54 Bewertungen) Stand: Dezember 2011 3,47 (363 Bewertungen) 21
Stand: Juni 2011 (70 Bewertungen) Stand: Dezember 2011 3,81 (510 Bewertungen) Web 2.0 & Social Media: Die Perspektive der Medizinethik Prof. Dr. Dr. Daniel Strech Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie CELLS Centre for Ethics and Law in the Life Sciences AFGIS, Hannover, 5.12.2011 22