Ernst Halbmayer und Elke Mader Kultur, Raum und Landschaft in Zeiten der Globalisierung.



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Ernst Halbmayer und Elke Mader Kultur, Raum und Landschaft in Zeiten der Globalisierung. Zur Einleitung. Die Bedeutung des Raumes ist keine eindeutige und dauerhafte Kategorie des menschlichen Denkens, sie ist vielmehr permanenten Veränderungen unterworfen und wird in verschiedenen kulturellen und historischen Zusammenhängen unterschiedlich gestaltet. Dies betrifft diverse Vorstellungswelten, Kosmologien und wissenschaftliche Diskurse. Der Raum in seinen verschiedenen Dimensionen stellt ein zentrales Ordnungsschema im Rahmen der Strukturierung und Interpretation von Welt dar, wird aber immer wieder anders und neu bewertet. In Zeiten der Globalisierung erfährt der Raum sowohl eine Neustrukturierung als auch eine Neubewertung. Einige WissenschafterInnen stellen sogar seine Bedeutung unter Bedingungen der Globalisierung grundsätzlich in Frage: so reflektiert eine Reihe von Theorien die Auffassung, dass Globalisierung Hand in Hand mit De-Territorialisierung gehe. Im Zuge einer derartigen Neustrukturierung bzw. der damit einhergehenden Kompression von Zeit und Raum komme es zu einer tendenziellen Auflösung des Raums (vgl. z. B. Cairncross 1997). Im Rahmen dieser theoretischen Perspektiven erscheint die Bedeutung von Räumlichkeit und damit auch von Lokalität und Örtlichkeit von zeitlichen Kategorien überlagert: statt örtlicher und lokaler Ko-präsenz steht die zeitliche Koordination in einer global vernetzten Welt im Zentrum und lokal verankerbare Systeme und ihre Akteure verlieren zunehmend an Relevanz. Klassische Örtlichkeit und Lokalität werden dabei in letzter Konsequenz zu einem theoretisch tendenziell vernachlässigbaren Survival einer präglobalen Welt. Es gibt»...dann keine Platzkämpfe mehr, die der Verteidigung des eigenen Platzes dienen, wohl aber Kämpfe um Vorankommen und Zurückbleiben... Die Raummetaphorik der festen, besetzbaren und besitzbaren Plätze wird durch eine Zeitmetaphorik ersetzt, in der die Verdrängungsgefahr durch das Risiko abgelöst wird, durch Entscheidungen auf ungünstige Positionen zu geraten.«(luhmann 1997: 1013). Uns erscheint Raum dennoch auf vielfältige und zum Teil neue Weise ein zentrales Organisationsprinzip der gegenwärtigen globalen Welt. Im sozial- und kulturanthropologischen Diskurs wurde in diesem Zusammenhang nicht nur auf die Auflösung traditioneller Raumkonzepte verwiesen, sondern insbeson- 3

dere auf neue Formen der Re-Territorialisierung und des»place makings«(gupta und Ferguson 1997) und der»production of locality«(appadurai 1996). Einen weiteren Fokus bildet die zunehmende Tragweite imaginierter Welten, virtueller Nachbarschaften und translokaler Räume, die nach Arjun Appadurai in ethnoscapes, mediascapes, financescapes und technoscapes ihren Ausdruck finden (Appadurai 1996). Marc Augé wiederum spricht von»nicht-orten«(non lieux): sie sind Schnittpunkte mehrerer Welten, die jede auf spezifische Weise zu ihrer Konstruktion beitragen. Sie werden von Worten und Bildern durchquert, verkörpern weder Identität, noch Geschichte oder Beziehungen, und stellen ein Kennzeichen der gegenwärtigen Epoche der Hypermodernität dar (Augé 1995). 1 Raum, Kultur, Natur Ein zentrales Moment in der Debatte rund um das Zurücktreten von Raum hinter Zeit ist nicht nur die Verminderung des Bezugs zu realen Orten und zum Lokalen, sondern auch die Verselbstständigung und Selbstbezüglichkeit des Sozialen. Der Bezug zur natürlichen, physischen Umwelt bleibt in diesen Debatten weitgehend ausgespart und wird theoretisch dementsprechend nur peripher reflektiert. Dennoch sind Raum, Kultur und Natur auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Zu den verschiedenen Dimensionen dieser Verflechtungen gehören Beziehungen zwischen Natur und Kultur im Sinne von kulturell geprägten Wahrnehmungsweisen des Raums, sowie die naturräumlichen, physischen, aber nur sozio-kulturell (d. h. sinnbasiert wahrnehmbaren) Voraussetzungen von Kultur, Gesellschaft und menschlichem Leben. Diese Wahrnehmungsweisen stellen eine soziale Relation zwischen dem physischen und dem symbolischen Raum, zwischen Bezeichnetem und Zeichen dar, während die physischen Austauschprozesse zwischen natürlicher Umwelt, Menschen und sozialen Systemen eine materielle Relation etablieren. So nehmen die in Weltbildern verdichteten Wahrnehmungsweisen und Interpretationsschemata großen Einfluss auf das jeweilige Verständnis von Raum und Landschaft. 2 Kultur schreibt auf diese Weise spezifische Bedeutungen in natürliche und anthropogene, etwa urbane Räume ein und stellt Konzepte zur Verfügung, welche in Folge auch den kulturspezifischen Umgang mit diesen Räumen bzw. deren Nutzung oder Ausbeutung strukturieren. Während Kultur wie Ökonomie und Technik den Umgang, die Interpretation, sowie die Aneig- 1 2 Für eine deutschsprachige Darstellung dieser Themen im Rahmen der Globalisierungsdebatte siehe Kreff (2003; in Druck). Vgl. z. B. Gingrich und Mader 2002. 4

nung, den Schutz und die Transformation von Raum und Umwelt prägt, setzt die physische Umwelt der Entwicklung von Kultur, Ökonomie und Technik dem Ausmaß und der Dauer ihrer Aneignung und Transformation Grenzen. Die Erkenntnis, dass es»grenzen des Wachstums«, der Entwicklung und des Fortschritts geben könne, ist seit den 1970er Jahren und dem Entstehen der Ökologiebewegung zum allgemein diskutierten, wenn auch bei weitem nicht gelösten Problem geworden. Diese Grenzen sind nun keine Grenzen des technisch Machbaren, oder solche einer Ökonomie, die eine stabile Grundversorgung und die zeremonielle Vernichtung von Überschüssen in Form von Festen einer expansiven Gewinnmaximierung vorzieht, vielmehr handelt es sich um die Grenzen der Umweltverträglichkeit menschlichen Handelns und um die Folgefrage nach einer nachhaltigen Entwicklung. Unter modernen Bedingungen ist das Verhältnis von Kultur, Gesellschaft, Raum und seiner Ausbeutung bzw. seines Schutzes kein naturwüchsiges, sondern ein strategisch geplantes und regelbares und deutlicher wahrnehmbar als zuvor auch ein Feld politischer Machtbeziehungen. Das Verhältnis von Raum, Kultur und Natur ist aus dieser Perspektive ein doppeltes: einerseits ist der Raum die objektive, materielle, biologisch-chemische Voraussetzung für Leben (auch für menschliches Leben); auf dieser Basis entwickelt, reproduziert und verändert sich Kultur. Der menschliche Körper und menschliche Gesellschaften stehen in physischen Austauschprozessen mit der natürlichen Umwelt. Schmerz, Hunger, Fettleibigkeit, Artensterben oder Müll sind z. B. Folgen dieses Austausches. Andererseits kann über diese Austauschprozesse immer nur sozial, d. h. kulturell spezifisch, kommuniziert werden. Die kulturellen Schemata für räumliche Vorstellungen und Konzeptionen variieren und unterliegen Wandlungen. Dies gilt nicht nur für die sogenannte Moderne und ihre Transformationen der Vorstellungen von Zeit und Raum durch erhöhte Geschwindigkeit, schnellere Erreichbarkeit, das Schrumpfen von Distanzen und virtuelle Ko-präsenz, sondern auch für das Verhältnis von Natur, Gesellschaft und Weltbild in indigenen, nicht-industriellen Lebensweisen. 3 Das Verständnis von Natur in diesen Gesellschaften macht u. a. Folgendes deutlich: das in wissenschaftlichen Debatten vielfach reproduzierte, doppelte Verhältnis von Raum, Kultur und Natur beruht selbst auf einer kulturellen Voraussetzung, nämlich auf einer Trennung von Kultur und Natur, von Materiellem und Ideellem. Eine Perspektive auf Kultur, Raum und Landschaft, die diese Konditionen mitdenkt und reflektiert, versuchen die sozialanthropologischen, soziologischen und soziolinguistischen Analysen in diesem Band zu entwickeln. Dies unter der Voraussetzung, dass der globale Charakter der modernen Weltgesellschaft die 3 Siehe Santos Granero und Chaumeil in diesem Band. 5

Transformation lange gültiger Raum- und Zeitverhältnisse bewirkt, was aber nicht automatisch zur einer Verbreitung weltweit einheitlicher Raumkonzeptionen führt. Alternative Konzeptionen existieren nicht nur weiter, sondern reagieren kreativ auf die neuen Herausforderungen. 4 Die Auflösung alter Einheiten und ihrer örtlichen Verankerung Während in der Soziologie die lange Zeit vorherrschende Einheit von Gesellschaft und Staat dekonstruiert wurde, 5 fanden in der Sozial- und Kulturanthropologie analoge theoretische Bewegungen in Bezug auf Kultur statt. Kultur war in dieser Forschungstradition meist an spezifische örtlich lokalisierte Ethnien, Stämme und Gruppen gebunden. 6 Kultur ist unter einer solchen Perspektive lokalisiert: eine regional begrenzte spezifische Ausprägung menschlicher Lebensformen und Gesellschaft wird zu»eine[r] Gruppe interagierender Individuen, welche das gleiche Territorium und die selbe Kultur teilen«(robertson 1977: 77-78, nach Wolf 2001: 329). Überregionale Kontakte und interkulturelle Verflechtungen etwa in Zusammenhang mit Handelsnetzwerken werden dabei oft ausgespart und vernachlässigt. Kulturen waren aber nie abgeschlossene Monaden, sondern unterhielten immer eine Vielzahl von Kontakten und waren in größere vernetzte soziale Zusammenhänge eingebettet, wie diffusionistische Ansätze schon lange vor der Rede von Globalisierung und Weltgesellschaft betont haben. Viele AutorInnen arbeiten in jüngerer Zeit an der Dekonstruktion des eben skizzierten Kulturbegriffs. Laut Hastrup und Fog Olwig (1997: 1-3) soll dieses Konzept lediglich Ordnung in eine ansonsten ungeordnete Welt bringen und den Rahmen für ein bestimmtes Verständnis von kultureller Differenz etablieren. Dem gegenüber steht die Forderung nach einem neuen Verständnis von Kultur, das sowohl den Verflechtungen als auch der Deterritorialisierung von Kultur Rechnung trägt: Es wird argumentiert, dass die Menschen heute nicht getrennten kulturellen und räumlichen Einheiten angehören, sondern Teil einer vernetzten globalen Ökumene bilden. Eine klare Unterscheidung von Innen und Außen ist unter diesen Gegebenheiten nicht möglich. Anstelle von Kulturen, die in bestimmten Landschaften und Räumen lokalisiert sind, tritt 4 5 6 Vgl. z. B. Santos Granero 1998 und in diesem Band. Etwa Parsons (1969, 1971), für eine Kritik an diesem Container Modell siehe Beck (1997). Diese Perspektive auf Kultur ist in vielen Monographien zu finden, sie ist oft einem funktionalistischen Ansatz verbunden oder steht in Zusammenhang mit dem amerikanischen historischen Partikularismus im Gefolge von Franz Boas und der Culture and Personality School. 6

uns heute eine transnationale Kultur von Tönen und Bildern entgegen. Im Rahmen solcher Überlegungen kommt wiederum dem Konzept der Deterritorialisierung von Kultur großer Stellenwert zu (Appadurai 1996: 27-65). In Bezug auf Lateinamerika handelt es sich bei der Fokussierung auf kulturelle und ökonomische Ströme, auf Vernetzungen und wechselseitige Beeinflussung keineswegs um eine Neuheit. Viele VertreterInnen der Kultur- und Sozialanthropologie beschäftigen sich aus verschiedenen Perspektiven seit langem intensiv mit Interaktionen und Verflechtungen in diesem Großraum. 7 Die Bewegungen von Menschen, Waren und Ideen wurden in letzter Zeit besonders intensiv im Rahmen von Migration und Globalisierung diskutiert. Ein zentrales Thema ist dabei die»location of culture«(bhabha 1994) im Rahmen transnationaler Verflechtungen und kultureller Hybridisierung oder Kreolisierung, die verschiedene Facetten der Beziehungen zwischen Lokalem und Globalem zum Ausdruck bringen. Lateinamerika und die Karibik sind seit der Neuzeit Drehscheiben für globale Transaktionen und Raum für vielfältige kulturelle Interaktionsprozesse (siehe Davis-Sulikowski in diesem Band). Kulturelle Prozesse am lateinamerikanischen Kontinent sind seit Beginn des europäischen Kontaktes durch die Auflösung und gegenseitige Durchdringung räumlicher sozialer Einheiten bestimmt: Hybridisierung, Kreolisierung und Synkretismus machen wohl einen der signifikantesten Aspekte lateinamerikanischer Kultur aus. Während diese Prozesse lange Zeit durch Sklavenhandel und den Zustrom von Weißen und Asiaten (insbesondere in den Guyana- Staaten) charakterisiert wurden, wird Latino-Kultur und Lifestyle nun verstärkt exportiert. Das erfolgt etwa durch Musik, Tanz, Film und kulinarische Angebote oder durch Emigration auf Grund politischer und verstärkt ökonomischer Verhältnisse, insbesondere in die USA aber auch nach Europa. Somit stellt Kultur nicht nur Schemata für räumliche Vorstellungen bereit, auf deren Basis Bedeutungen in Raum und Umwelt eingeschrieben werden, die wiederum die Praxis der Auseinandersetzung mit diesen strukturieren. Die Genese von Kultur in Lateinamerika war vielmehr selbst lange Zeit Produkt der Bewegungen von Menschen im Raum. Dabei kommen auch unterschiedliche Beziehungen zwischen Raum und Macht zum Ausdruck: So bedeuten diese Bewegungen für indigene Gruppen oft den Verlust des von ihnen besiedelten Landes, Genozid und Akkulturation die Frage des kulturellen Überlebens ist bis heute eng an die Frage der Landrechte geknüpft. Der Kampf um Ressourcen und der Widerstand gegen ihre Ausbeutung wird zunehmend ein Motor für soziale Bewegungen (zuletzt z. B. in Bolivien). Diese sind auch in Zusammenhang mit der Paradoxie zu verstehen, dass viele Länder Lateinamerikas zwar reich an Ressourcen sind, aber dennoch arm, da die Ausbeutung dieser Res- 7 Vgl. z. B. Herskovits 1958, Murphy 1960, Whitten 1975, Wolf 1956. 7

sourcen primär den globalisierten Zentren und einer kleinen ohnehin reichen lokalen Oberschicht zugute kommt. Moderne Technologien wie das Internet, aber auch die globale Vernetzung des Mediensystems schaffen neue Möglichkeiten für den Transfer von Kultur unabhängig von der Bewegung der Menschen im Raum. So gibt es nicht nur Weltnachrichten, sondern FernseherInnen in Europa können z. B. zwischen amerikanischen soap operas und lateinamerikanischen telenovelas wählen. Auf diese Weise entstehen neue imaginierte und virtuelle Räume und Vernetzungen. Virtuelle Vernetzungen können aber auch sehr konkrete soziale Veränderungen bewirken, etwa indem sie die Kooperation von politischen und kulturellen Akteuren ermöglichen, z. B. indem sie indigene Völker und ihre Interessenvertretungen in transnationale Kommunikations- und Aktionsplattformen einbinden (vgl. Budka 2002, 2004). Solche Websites und Netzwerke fungieren als globaler expressiver Raum im Sinne des space of expression, wie ihn Stuart Hall (1994) formuliert und werden benutzt, um politische und kulturelle Anliegen zu präsentierten. Darüber hinaus ermöglichen sie weltweit Kommunikation und Informationsaustausch zwischen VertreterInnen indigener Gemeinschaften, wodurch neue und schnellere Wege für globales politisches Handeln beschritten werden können. Nicht alles fließt Trotz der Fokussierung zentraler Bereiche der Sozial- und Kulturwissenschaften auf die zunehmende Vernetzung und Intensivierung globaler Ströme und ihrer Konsequenzen, darf nicht übersehen werden, dass die gefeierte oder bekämpfte Globalisierung in vielen Dimensionen ein Minderheitenprogramm einer privilegierten Elite ist. Denn, um auf Luhmann zurückzugreifen, die Chance des Vorankommens und das Risiko des Zurückbleibens ist nicht bloß an aktuelle Entscheidungen gebunden (ohne den historischen Rahmen und die gegenwärtige Umwelt zu berücksichtigen). Chancen des Vorankommens sind nicht nur sozial, sondern auch regional in wachsendem Ausmaß ungleich verteilt. Die Tatsache, dass Exklusion in der fortgeschrittenen Moderne nicht mehr rein regional, nach Zentrum und Peripherie in der eurozentristischen Logik einer dreigeteilten Welt, vonstatten geht, bedeutet nicht automatisch, dass Raum neben anderen Kriterien nicht weiterhin ein zentrales in der Verteilung von Chancen und günstigen Positionen ist. Im Rahmen der Auseinandersetzung der indigenen Völker Lateinamerikas mit den jeweiligen Nationalstaaten kommt zum Beispiel der Forderung nach dem physischen Raum im Sinne von territorialen Rechten besondere Bedeutung zu. Die indianistische Bewegung bzw. die verschiedenen politischen Ver- 8

bände der indigenen Völker fordern neue staatliche (Raum)Ordnungen: Der Staat soll einerseits dem kulturellen Pluralismus seiner Bevölkerung Rechnung tragen, andererseits wird die Verfügungsgewalt des Nationalstaates über alle Elemente des Raums in Frage gestellt. Diese»Platzkämpfe«,»die der Verteidigung des eigenen Platzes dienen«(luhmann 1997: 1013), sind gleichzeitig Kämpfe um das Etablieren einer bis jetzt verweigerten Basis für zukünftiges Vorankommen. Solche Bestrebungen stellen eine Konfrontation dar, in der nicht nur verschiedene ökonomische und politische Interessen, sondern darüber hinaus widersprüchliche Grundannahmen über das Verhältnis des Menschen zu Natur, Land oder Umwelt aufeinander prallen. Indigene Weltbilder und Kosmologien definieren die Beziehung des Menschen zur Natur zum Teil anders als»westliche«denkmodelle, ihre Bewirtschaftung des Landes unterscheidet sich in vielen Aspekten von den Prinzipien der Nationalökonomie, rechtliche Grundsätze über Eigentumsverhältnisse weichen oft stark voneinander ab (vgl. u. a. Gow 1997, Hurtado Guerra und Sanchez 1991: 21-28) Theorien, welche die globalisierte, dynamische Moderne bzw. die moderne Wissensgesellschaft zur Welt erheben (z. B. Willke 1999), schließen damit jene menschliche Lebenswelten tendenziell aus, in welchen die über Zeitlichkeit und Geschwindigkeit strukturierte virtuelle und mediale Globalität nicht über die räumlich strukturierten lokalen Interaktionen und Handlungsmöglichkeiten dominiert. Solche Definitionen legen bewusst oder unbewusst neue Exklusionsformen fest oder bestätigen diese. Wenn man existierenden Statistiken glaubt, die die boomende Vernetzung und rasende Globalisierung belegen, so scheint die Exklusion aus transnationalen Netzwerken, Wissen und globalen Bewegungen durchaus ein majoritäres Phänomen zu sein. Einige Beispiele dazu: Auf der Internetseite des Human Development Index von 2001 8 findet man die Frage»Do you know that?«und dort lernt man folgendes:»do you know that... the Internet has grown exponentially from 16 million users in 1995 to more than 400 million users in 2000? There are expected to be 1 billion users in 2005.«Oder»Do you know that... in two years from 1998 to 2000 Internet users increased from 1.7 million to 9.8 million in Brazil, from 3.8 million to 16.9 million in China and from 2,500 to 25,000 in Uganda?«Imposante Zahlen, ohne Zweifel. Doch ohne hier fragen zu wollen, was»user«denn wirklich bedeutet, wird nach dem neuesten Human Development Index (2003: 274 ff.) deutlich, dass gerade 7,96 % der Weltbevölkerung Internetuser waren. In Brasilien waren es 4,66 %, in China 2,57 % und in Uganda 2,5 % der Bevölkerung. Manche Länder Lateinamerikas liegen deutlich über diesen Werten. So führt Chile mit 20,14 %, vor Guyana (10,92 %) und Argentinien (10,08 %), andere wiederum zeigen extrem niedrige Werte. Das Schlusslicht der Inter- 8 http://hdr.undp.org/reports/global/2001/ 9

netuser in Lateinamerika bilden demzufolge Paraguay (1,06 %), Honduras (1,38 %), Nicaragua (1,44 %) und Guatemala (mit 1,71 %). In Island waren zum Vergleich 59,93 % der Bevölkerung Internetuser. Auch beim Telefon sieht es ähnlich aus: Während in Norwegen (2001) auf 1000 Personen 732 Festnetz- und 815 Mobilnetzanschlüsse kommen, so sind es im Weltmaßstab nur 169 Festnetz- und 159 Mobilnetzanschlüsse. Lateinamerika und die Karibik liegen dabei im Weltdurchschnitt. 9 Selbiges gilt auch für die internationale Mobilität: Von 100 Personen reisten 1998 in Lateinamerika und der Karibik 5,7 ins Ausland, in Afrika südlich der Sahara nur 1,5, während es in den USA 28 und in Europa 40 waren. Der Großteil der Weltbevölkerung ist immer noch extrem lokal verankert, auch wenn diese Lokalitäten ständigen Veränderungen unterworfen und in unterschiedlichem Ausmaß von globalen Einflüssen durchdrungen sind. In Anlehnung an die Konzeption einer örtlich verankerten und immer weiter fortschreitenden colonial frontier sowie an Überlegungen zur Nicht-Inklusion in bzw. Exklusion aus sozialen Systemen, zum Beispiel einer globalisierten Weltgesellschaft, wollen wir hier von multiplen»globalization frontiers«sprechen. Dies macht darauf aufmerksam, dass sich Weltgesellschaft auf unterschiedlichen wirtschaftlichen, medialen, wissenschaftlichen, technischen, politischen und kulturellen Ebenen gleichzeitig und mit zum Teil widersprüchlichen Folgen reproduziert. Inklusion sowie Exklusion sind deshalb zumeist partiell. Vollständige Nicht-Inklusion wird deshalb ebenso zur Ausnahme (z. B. im Fall von nicht-kontaktierten indigenen Gruppen des Amazonastieflands) wie Inklusion auf allen Ebenen. Inklusion und Exklusion folgen deshalb auch nicht mehr einer eindeutigen Zentrum-Peripherie Logik: Exklusion und Globalisierungsgrenzen finden sich in den Zentren der globalen Urbanität, ebenso gibt es Zentren der Globalität in peripheren Regionen. Die Globalisierung produziert nicht nur unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten. Sie bringt zunehmend auch Länder hervor, deren Sozial- und Wirtschaftindikatoren nicht nur langsamer wachsen, sondern deren Entwicklungsniveau abnimmt, und die Globalisierungsverlierer sind. 10 Weiters ist in vielen Ländern die interne soziale und 9 Während z. B. Chile und Argentinien deutlich über diesem Durchschnitt liegen, so finden sich z. B. Nicaragua (29/30), Honduras (47/36), Kuba (51/1), Guatemala (65/97), Bolivien (63/94), Guyana (92/87) oder Ecuador (104/67) deutlich darunter. Internationale Telefonate verteilen sich ähnlich ungleich. Die letzten uns bekannten Zahlen stammen aus dem Jahr 1997 (UNESCO, World Culture Report 2000: 366f.) und damals telefonierte weltweit jede Person 14 Minuten/Jahr ins Ausland. In Lateinamerika waren es nur die Hälfte, nämlich 7 Minuten, und in Afrika südlich der Sahara nur 2 Minuten. In Nordamerika hingegen, belief sich die Bilanz auf 91 und in Europa auf 41 Minuten im Jahr. UNDP 2003: 40. 10 10

regionale Ungleichheit extrem ausgeprägt und wächst. 11 Globalisierung konstituiert also lokale Unterschiede neu und verschärft diese zum Teil durch multiple Globalisierungsgrenzen und partielle Modernisierung. Dies gilt im Bereich der Ökonomie und Technik ebenso wie im Bereich vielfältiger kulturell unterschiedlicher Wahrnehmungsformen und Interpretationsmuster. Kultur- und Naturkonzeptionen, Landschaft und Weltbild Vor diesem Hintergrund geht es in etlichen der hier versammelten Beiträge um Landschaften, im Gegensatz zu Umwelt oder Raum und deren Transformation. Die Beispiele sind im urbanen Raum, in der Transformation sprachlicher Landschaften, der Konstruktion und dem mythischen Fundament touristischer Räume, sowie indigener Konzeptionen und Wahrnehmung von Raum und Landschaft angesiedelt. Heidi Pichler zeigt die symbolische, ökonomische und politische»landnahme«von Orten und Plätzen in Zeiten voranschreitender wirtschaftlicher und ökonomischer Globalisierung anhand der Transformation des Zentrums von Havanna. Eva Gugenberger analysiert das Wechselverhältnis von Sprache und Migration im Rahmen interner Migration von Quechua- SprecherInnen vom ländlichen andinen Raum in urbane Zentren. Die Bedeutung von Weltbildern, Imaginationen, Phantasien und Wünschen für die Konstruktion touristischer Räume in Lateinamerika wird von Elke Mader untersucht. Um die zugrunde liegenden theoretischen Bewegungen zu veranschaulichen, sollen zwei älterer Ansätze, nämlich die Thesen des culture area approach und der Kulturökologie, skizziert werden. Beide Forschungsrichtungen gehen von einer engen Vernetzung von Kultur bzw. Gesellschaft und natürlicher Umwelt bzw. geographischem Raum aus 12 : Der culture area approach verschrieb sich der Kategorisierung von Kulturen in einem geographisch-räumlichen Kontext und dem Erstellen von»kulturregionen«. Diese Fragestellungen kennzeichnen auch die Arbeiten von Julian Steward, der die Forschungsrichtung der Kulturökologie (cultural ecology) begründete, die zwischen 1960 und 1980 besonders bedeutend war und bis heute von vielen WissenschafterInnen betrieben wird (vgl. Wilson 1999). Marina Fischer-Kowalski zeigt in diesem Band, dass der enge historische Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Stoffwechsel, Raum und Landschaft in modernen Gesellschaften zunehmend aufgebrochen 11 12 UNDP 2003: 62ff. Für eine Neuformulierung dieses Verhältnisses im Zuge der Analyse des gesellschaftlichen Stoffwechsels unter globalen Bedingungen siehe Fischer-Kowalski in diesem Band. 11

wird. Moderne Gesellschaften benutzen nicht nur das Territorium, welches sie bewohnen, für ihren Stoffwechsel, sondern über den Weg des Handels auch andere Territorien. Kritik an Julian Stewards Modell konzentrierte sich primär auf folgende Fragen: Inwieweit vernachlässigt Stewards Modell die ideelle Dimension von Kultur (Denken, Weltbild, Religion etc.) und hängt einem übertriebenen Materialismus und Umweltdeterminismus an? Liegt den Thesen der Kulturökologie ein statisches Kulturkonzept zugrunde, das Bewegungen im Raum und Veränderungsprozessen zu wenig Rechnung trägt? Die anderen Naturauffassungen, die in indigenen Wirtschaftsformen und Lebensweisen zum Ausdruck kommen, bilden heute einen wichtigen Faktor in der Argumentation der indigenen Organisationen bei ihren Forderungen nach territorialen Rechten (vgl. u. a. Grünberg 1994, Sponsel 2002). Die Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors (CONAIE) definierte z. B. in einem Grundsatzpapier zu ökologischen und territorialen Fragen die Beziehung des Menschen zu Naturräumen folgendermaßen:»entsprechend ihrem Weltbild stellt für die Menschen der indigenen Kulturen die Welt ein Energiesystem dar, das den Menschen mit einschließt. Berge, Wälder, Flüsse, Erde, Felsen und Minerale sind Teil eines Systems, in dem organische und anorganische Aspekte nicht kategorisch getrennt, sondern systematisch miteinander verbunden sind.«13 Die Integration von»menschlicher Umwelt«,»natürlichen Ökosystemen«und»spirituellem Universum«wird dabei als zentrale Achse des indigenen Weltbilds dargestellt. Sie wird am Beispiel der Konzeption des Waldes als umfassende Lebenswelt ausgeführt: Der Wald gewährleistet zum einen materielles Wohlergehen, er ist eine Quelle von Ressourcen, die das Überleben der Menschen sichern. Darüber hinaus wird der Wald als sozialer Raum konzipiert, der die Reproduktion der sozialen Beziehungen garantiert, wie auch als kultureller und spiritueller Raum, als Ort der Mythen und der rituellen Praxis (CONAIE 1992: 9-10, Mader 1994). Die indigenen Organisationen bleiben dabei keineswegs bei einer Kritik bestehender Gegebenheiten stehen, sondern liefern konkrete Vorschläge für andere Entwicklungs- und Umweltschutzmodelle. Unter dem Begriff ecodesarrollo (Öko-Entwicklung) präsentieren sie ihre Vorstellungen von regionaler Entwicklung, die auf dem traditionellen Umgang mit der natürlichen Umwelt aufbaut (vgl. z. B. Schmidtkunz 2003). Neuere ethnologische Forschungen in diesem Bereich stellen also nicht nur die Frage des materiellen Austausches zwischen Kultur und Natur oder der symbolischen Ethno-Klassifikation spezifischer Bereiche der Natur (wie die ethnoscience, z. B. Brent Berlin 1992), sondern sie versuchen die Trennung zwischen Natur und Kultur selbst zu überwinden und neue Konzepte zu ent- 13 CONAIE 1992: 7. 12

wickeln (Ingold 2000, Descola 1996, Viveiros de Castro 1998). In diesem Sinne sind auch die Beiträge zu Raum und Landschaft bei indigenen Gruppen im Tiefland Südamerikas in diesem Band zu verstehen, die von der Existenz eines mehrschichtigen Weltenraumes, eines Multiversums ausgehen. Joanna Overing untersucht die Fundierung dieses Multiversums und ihre Praxisrelevanz für die indigene Soziabilität der Piaroa in mythscapes. Fernando Santos Granero geht den Aktivitäten der Kulturheroen bei den südlichen Arawak nach, die in Form von Topographen und Topogrammen in die Landschaft eingeschrieben sind, und zeigt, wie kosmologische Bedeutungen durch Einschreibungen im Zuge von Migration auf neue Räume übertragen werden. Jean-Pierre Chaumeil zeigt am Beispiel der Yagua im Dreiländereck Peru/Kolumbien/Brasilien, wie die schamanische»unterwasser-kartographie«grundlage für translokale Mobilität und Migration in der Region bildet. Und Ernst Halbmayer analysiert das Multiversum der Yukpa als aus unterschiedlichen timescapes bestehend, die die Grundlage dafür bilden, dass»natur«zu einem Kommunikationsmedium wird, Natur also nicht nur materiell oder symbolisch, sondern auch kommunikativ verstanden werden kann. Der vorliegende Band spricht verschiedene Facetten aus diesem breiten Spektrum von theoretischen Perspektiven und Fragestellungen an. Die Beiträge entstanden zum Großteil im Rahmen einer Ringvorlesung des Interdisziplinären Lehrgangs für höhere Lateinamerikastudien am Österreichischen Lateinamerika Institut in Wien im Sommersemester 2003. Unser herzlicher Dank gilt Maria Dabringer und Stefanie Reinberg für die umsichtige Organisation und Betreuung der Ringvorlesung, Ruth Lackner für das Lektorat des Beitrages von Ulrike Davis-Sulikowski und Gabriele Brandhuber für das Lektorat aller weiteren deutschsprachigen Beiträge. Bibliographie Appadurai, Arjun 1996. Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis and London, University of Minnesota Press. Augé, Marc 1995. Non-Places: Introduction to an Anthropology of Supermodernity. London, Verso. Beck, Ulrich 1997. Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus Antworten auf Globalisierung. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Berlin, Brent 1992. Ethnobiological Classification. Principles of Categorization of Plants and Animals in Traditional Societies. Princeton, NJ, Princeton University Press. 13

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