Vortrag zu dem Thema Inklusion Vision oder Illusion? Anmerkungen aus der Sicht des Vaters eines Sprachbehinderten sowie des Vorsitzenden des Landesverbandes der Eltern und Förderer Sprachbehinderter Sehr geehrte Damen und Herren, die heutige Diskussion über die Inklusion basiert im wesentlichen auf der von Deutschland und den Bundesländern ratifizierten UNO-Charta mit der die Situation der Behinderten weltweit, also auch in Deutschland, verbessert werden soll. Dabei wird nach meiner Auffassung meist übersehen, dass sich die UNO-Charta in der Hauptsache an die Entwicklungsländer richtet und gerade nicht an die wenigen Staaten, zu denen auch Deutschland gehört, in denen bereits ein hochentwickeltes System der Förderung Behinderter seit Jahrzehnten vorhanden ist. Die grundlegende Vision, dass der inklusive Unterricht von Behinderten und Nichtbehinderten langfristig die Einbindung der Behinderten in die Gesellschaft verbessert, ist sicherlich richtig und wünschenswert. Jedoch darf die Einführung der inklusiven Schule hier in Deutschland und speziell in Nordrhein-Westfalen nicht zu einer Verringerung der Intensität der Förderung Behinderter führen. Der Maßstab ist hierbei der jetzige Standard der Förderung unterschiedlicher Behinderter in den jeweiligen Förderschulen. Der Untertitel dieses Vortrages lautet Anmerkungen aus der Sicht des Vaters eines Sprachbehinderten sowie des Vorsitzenden des Landesverbandes der Eltern und Förderer Sprachbehinderter. Als betroffener Vater unseres sprachbehinderten Sohnes Matthias möchte ich Ihnen nun die Erfahrungen mit dem jetzigen Förderschulsystem am Beispiel der Sprachförderschule darlegen. Bei Matthias hat aus nicht erklärbaren Gründen die natürliche Sprachentwicklung nicht eingesetzt. Obwohl Kinderärzte und Logopäden, als Matthias 2 3 Jahre war,
2 immer der Auffassung waren, die Sprachentwicklung würde noch automatisch einsetzen, ist dies nicht erfolgt. Matthias konnte mit dreieinhalb Jahren gerade mal 10 wortähnliche Gebilde aussprechen und verständigte sich in seinem Umfeld über eine sehr differenzierte Mimik, Gestik und durch bestimmte Laute. Nach einer Überprüfung des nonverbalen Intelligenzquotienten, der erstaunlich normal war im Vergleich zu seiner nahezu nicht vorhandenen Sprache, wurde eine Sprachanbahnung über eine sehr spezielle Logopädie, der Taktkin-Methode erreicht, und wir standen, als Matthias im Alter von 6 Jahren war, vor der Frage, wie der schulische Werdegang von Matthias ablaufen soll. Zu diesem Zeitpunkt waren wir froh, dass Matthias einigermaßen verständlich seinen vollen Namen sprechen konnte. In unserer Heimatstadt Wuppertal bestand einerseits die Möglichkeit, ihn in die integrative Grundschule einzuschulen und andererseits gibt es eine Sprach- Förderschule. Der integrative Ansatz klang zunächst sehr positiv, bei näherem Hinsehen fiel uns jedoch auf, dass die Förderung nicht sehr ausgeprägt war und dass unabhängig von der Erbringung der notwendigen Leistung die Kinder von Klasse zu Klasse weitergeschleppt wurden, so dass sie wenn sie die Leistung nicht erbrachten letztendlich zwar versetzt wurden, jedoch bei weitem nicht den Leistungsstand einer Klasse 4 der Grundschule erreichten. Dies hielten wir für unseren Sohn Matthias nicht für vorteilhaft, da die Chance auf das Erreichen eines Schulabschlusses, mit dem eine ganz normale Berufsausbildung möglich ist, gering war. Vor diesem Hintergrund haben wir Matthias in die Sprach-Förderschule eingeschult. Die Primarstufe der Sprach-Förderschule zeichnet sich durch - eine zusätzliche Eingangsklasse - also insgesamt 5 Schuljahre -, - - sehr kleine Klassen von 10 12 Kindern und - - darüber hinaus bis zu 2 Lehrern pro Klasse aus, wobei die Lehrer nahezu alle Sprachheilpädagogen sind. In dieser schulischen Umgebung ist eine intensive, individuelle Förderung der oft sehr unterschiedlichen Sprachbehinderungen möglich. Dies ist nicht nur aufgrund der individuellen Sprachstörungen notwendig, sondern auch sehr vorteilhaft, weil die
3 Zusammensetzung der Kinder der Sprachförderschule so ist, dass dort auch zahlreiche Kinder aus sozial benachteiligten Schichten bzw. mit einem Migrationshintergrund beschult werden. Nur in einem solchen schulischen Umfeld haben auch diese Kinder, die nicht über entsprechende schulische Unterstützung seitens ihrer Eltern verfügen, eine hervorragende Chance, die Sprachbehinderungen zu überwinden bzw. deutlich zu vermindern. Dies zeigen auch die allgemein bekannten, statistisch erfassten Ergebnisse der Sprachförderschulen. Demnach werden in den fünf Schuljahren an einer Primarstufe der Förderschule 2/3 bis 3/4 aller Kinder wieder in die Regelschule zurückgeschult und nur der verbleibende Teil der sprachbehinderten Kinder mit einer stärkeren Sprachbehinderung wird dann in den Förderschulen Sprache der Sekundarstufe 1 weiterbeschult. Dort jedoch absolvieren 97% der sprachbehinderten Jugendlichen den Hauptschulabschluss und haben damit eine große Chance, in den Arbeitsmarkt und damit in die Gesellschaft integriert zu werden. Unter Bezugnahme auf den vorhin gehörten Vortrag von Herrn Prof. Ahrbeck möchte ich darauf hinweisen, dass somit die Sprachförderschulen eine schulische Einrichtung im Sinne des Artikels 5 der UNO-Charta darstellen. Zusammenfassend werden aus den obigen Ausführungen die hohe Intensität der Sprachförderung einerseits sowie andererseits die großen Erfolge der Sprachförderschulen deutlich. Unser Sohn Matthias hat in diesem geschilderten schulischen Umfeld enorme, eigentlich nicht für möglich gehalten Fortschritte gemacht, so dass man sich heute mit ihm völlig normal unterhalten kann und man lediglich einen Migrationshintergrund vermuten würde. Jedoch ist der weitere Verbleib in einer Förderschule Sekundarstufe 1 für ihn sinnvoll, da mit einer starken Sprachbehinderung auch Legasthenie und auditive Störungen verbunden sind. Ohne ein derartiges System der intensiven Förderung in der Förderschule Sprache hätte nach meiner festen Auffassung Matthias keine Chance, eine derartige Entwicklung durchzumachen und später über eine Berufsausbildung vollständig in die Gesellschaft integriert zu werden.
4 An dieser Stelle möchte ich auf eine von Frau Prof. Ritterfeld im Jahre 2010 durchgeführte Umfrage bei Eltern von in Sprachförderschulen beschulten Kindern hinweisen, aus der hervorgeht, dass dieser Schultyp eine sehr große Unterstützung bei den Eltern genießt. Dies ist auch mein Antrieb dafür, als Vorsitzender des Landesverbandes der Eltern und Förderer Sprachbehinderter, nicht gegen die Inklusion, sondern für den Erhalt der Förderschulen so lange zu kämpfen, bis dass sichergestellt ist, dass in einer inklusiven Regelschule die Intensität der Förderung Sprachbehinderter, aber selbstverständlich auch beispielsweise der Lernbehinderten und der geistig Behinderten garantiert ist. Leider erreichen uns als Landesverband trotz der Beteuerungen der Landesregierung, dass der Elternwille entscheidet, immer mehr Informationen, die erkennen lassen, dass die Sprachförderschulen in ihrem Bestand bereits jetzt gefährdet sind. Zum einen gibt es Berichte, dass lokale Schulbehörden Schulleiter auffordern, möglichst keine Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs zu stellen bzw. Eltern von sprachauffälligen Kindern nicht auf diesen Rechtsanspruch hingewiesen werden. Andererseits werden Informationen beispielsweise an Schulärzte weitergegeben, dass angeblich die Sprachförderschulen keine Kinder mehr aufnehmen bzw. im Bestand gefährdet sind. Dies hat lokal bereits zu einer deutlichen Verringerung der Anmeldungen bei einer Sprachförderschule geführt. An diesem Punkt kommen wir zu der Fragestellung: Inklusion, Vision oder Illusion? Bei durchschnittlichen Klassenstärken von 25 30 Kindern in Nordrhein-Westfalen klagen schon heute Lehrer in allen Regelschulen darüber, dass aufgrund der großen Heterogenität der Schüler ein erfolgreicher, leistungsbezogener Unterricht immer schwieriger wird. Auch haben es die meisten Lehrer in ihren Klassenverbänden mit verhaltensauffälligen Kindern zu tun und große Probleme, einen individuellen und leistungsorientierten Unterricht durchzuziehen. Was soll erst geschehen, wenn nach Plänen der Landesregierung in diese großen Klassen noch Lernbehinderte, geistig Behinderte, Sprachbehinderte und Behinderte mit anderen Problemen eingeschult werden? Aufgrund eines vorläufigen Rechtsanspruches der Eltern auf Einschulung behinderter Kinder in die Regelschule sind - wie auf einer Anhörung des
5 Schulministeriums von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) dargelegt - bereits im letzten Jahr einige behinderte Kinder in die Regelschule eingeschult worden. In dieser Anhörung hat der Gewerkschaftsvertreter dargelegt, dass trotz dieser geringen Anzahl von Einschulungen Behinderter in die Regelschule für jedes behinderte Kind lediglich 3 4 sonderpädagogische Stunden / pro Woche organisatorisch machbar waren. Bei so geringer sonderpädagogischer Unterstützung sind die Klagen der Regelschullehrer nachvollziehbar. Sollte die Landesregierung tatsächlich den Rechtsanspruch auf Einschulung Behinderter in die Regelschule im Gesetz verankern, wird insbesondere aus den Bereichen der Lernbehinderung und der geistigen Behinderung eine große Anzahl von Kindern in die Regelschule eingeschult. Dieses Schulsystem mit großen Klassen und meist nicht speziell ausgebildeten Lehrern ist jedoch in keiner Weise in der Lage, einerseits eine intensive Förderung der Behinderten und andererseits eine individuelle, leistungsorientierte Beschulung der Nichtbehinderten zu garantieren. Die einzige theoretische Lösung wäre die Herabsetzung der durchschnittlichen Klassenstärken in der Regelschule auf einen ähnliches Niveau wie beispielsweise in der Förderschule Sprache also 10 bis 12 Kinder- sowie die zusätzliche Ausbildung von sehr vielen Sonderpädagogen. Eine sich daraus ergebende Verdoppelung der Lehrerstellen ist jedoch aufgrund der finanziellen Situation des Landes Nordrhein-Westfalen absolut unrealistisch. Vor diesem Hintergrund halte ich die allgemeine und flächendeckende Einführung der inklusiven Regelschule tatsächlich für eine Illusion! Sollte die jetzige Landesregierung jedoch diese Einführung weiterverfolgen, sage ich voraus, dass in spätestens 2 3 Jahren selbst die Eltern von Behinderten, die momentan die inklusive Schule befürworten, sich aufgrund der nicht zu realisierenden, gleich intensiven Förderung in der Regelschule zu Gegnern der Inklusion wandeln werden. Hinzu kommt, dass die Eltern der Nichtbehinderten, die sich heute kaum zu Wort melden, weil sie Sorge haben, in die behindertenfeindliche Ecke gestellt zu werden, sich wehren werden, wenn das Leistungsniveau der Regelschule sich aufgrund der inklusiven Entwicklung der Regelschule verschlechtern wird.
6 Und dies sage ich ganz bewusst auch als Vater zweier älterer Kinder, die sich zurzeit in der Oberstufe eines Gymnasiums befinden, denn die Vorstellung, dass in diese ebenfalls 25 30 Kinder umfassenden Klassen zusätzlich behinderte Kinder aufgenommen werden, kann für mich als Vater von diesen Kindern auch nur eine Verschlechterung der schulischen Situation für unsere nicht behinderten Kinder bedeuten. Letztlich werden auch die Lehrer nach meiner Auffassung auf die Barrikaden gehen, weil aufgrund ihrer meist nicht vorhandenen sonderpädagogischen Ausbildung sich eine Überforderung ergeben wird. Im Ergebnis ist für mich eigentlich nur ein Modell denkbar, bei dem man den Gedanken der gemeinsamen, inklusiven Beschulung von Behinderten und Nichtbehinderten mit unserer nachvollziehbaren Forderung auf gleichbleibende Intensität der Förderung verbinden kann und dies ist die inklusive Förderschule! Nach diesem Modell sollte man die Förderschulen nicht nur erhalten, sondern man sollte sie dahingehend ausbauen, dass Förderschulen auch Nichtbehinderte aufnehmen, wobei dann in diesen Schulen inklusiver Unterricht dort vorgenommen werden kann, wo es möglich ist. So bekommt man einerseits sehr früh einen intensiveren Kontakt zwischen Nichtbehinderten und Behinderten und andererseits können der Erfahrungsschatz der Förderschule und auch die Intensität der Förderung der behinderten Kinder erhalten bleiben. Grundvoraussetzung ist natürlich, dass der Stellenschlüssel der Förderschulen nicht gekürzt wird, d.h. dass die zusätzliche Eingangsklasse, die kleinen Klassen und die Beschulung ausschließlich mit Sonderpädagogen bzw. Sprachheilpädagogen in den Sprachförderschulen erhalten bleiben. Die Antwort auf die oben gestellte Frage lautet also: Die allgemeine Einführung der inklusiven Regelschule ist auf lange Sicht eine Illusion. Abschließend möchte ich die Gelegenheit noch für eine persönliche Bemerkung nutzen. Ich hoffe, dass trotz der Entwicklung der inklusiven Schule auch noch in vielen Jahren sprachbehinderte Kinder eine so gute Sprachförderung genießen können, wie unser Sohn Matthias sie erhalten hat. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.