Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten



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Transkript:

Zur Ahndung von Tötungsdelikten an Mauer und Stacheldraht Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten Karl Wilhelm Fricke Der erste Flüchtling, der am antifaschistischen Schutzwall so hieß die SED die Berliner Mauer erschossen wurde, starb zwölf Tage nach dem 13. August 1961. Als sich der 24-jährige Günter Litfin gegen 16.15 Uhr über das Bahngelände zwischen Friedrichstraße und Lehrter Bahnhof nach Westberlin durchschlagen wollte, wurde er von einer zur Grenzsicherung abkommandierten Doppelstreife der Transportpolizei entdeckt. Nach Anruf und Warnschüssen suchte er sich durch einen Sprung in den Humboldt-Hafen der Festnahme zu entziehen, woraufhin der Grenzverletzer, im Wasser schwimmend, durch zwei gezielte Feuerstöße aus einer Maschinenpistole tödlich getroffen wurde. Drei Stunden später wurde seine Leiche aus der Spree geborgen. Laut einem Stasi-Bericht war das Opfer durch einen Einschuss am Genick und Austritt am Kinn tödlich verletzt worden. Als letztes Opfer des mörderischen Schießbefehls starb in der Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989 der zwanzigjährige Chris Gueffroy. Im Schutze der Dunkelheit wollte er gemeinsam mit einem Freund im Abschnitt Britzer Allee/Straße 16 in Berlin-Treptow die Grenzsperren überwinden. Nachdem beide die so genannte Hinterlandmauer von dreieinhalb Meter Höhe bereits überklettert hatten, lösten sie durch Berühren des elektrischen Grenzsignalzauns optisch und akustisch Alarm aus. Zwei Doppelstreifen der Grenztruppen, die binnen kurzem erschienen, gaben nach Anruf Warn- schüsse auf die Flüchtenden ab, die nicht reagierten. Sie hatten inzwischen den drei Meter hohen Metallgitterzaun unmittelbar an der Sektorengrenze erreicht, als sie aus Maschinenpistolen beschossen wurden. Nach Einzelfeuer wurden im Dauerfeuer drei, vier Feuerstöße abgegeben. Chris Gueffroy, durch Herzschuss tödlich getroffen, starb gegen 23.40 Uhr. Sein Freund, am Fuß verwundet, kam mit dem Leben davon. Er wurde vom Stadtbezirksgericht Pankow wegen versuchten Grenzdurchbruchs im schweren Fall zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Zwei Schicksale unter mehreren Hundert. Allein an der Berliner Mauer fanden amtlich nachgewiesen mindestens 108 Menschen den Tod. Mindestens weitere 128 starben an der Demarkationslinie zwischen beiden deutschen Staaten oder an der nassen Grenze in der Elbe oder vor der Ostseeküste. Sie wurden erschossen, stürzten sich zu Tode, wurden von Minen zerfetzt oder ertranken, weil sie in der DDR nicht leben wollten. Die Dunkelziffer ist wesentlich höher. Selbst Kinder fielen gnadenlosen Mauerschützen zum Opfer. Wer kennt die Namen? Der achtzehnjährige Maurer Peter Fechter, der am frühen Nachmittag des 17. August 1962 in der Zimmer-/Ecke Charlottenstraße in Berlin-Mitte zusammengeschossen wurde und hilflos verblutete, ist unvergessen. Aber die Namenlosen auch sie dürfen nicht vergessen werden. Die Grenzsoldaten, die an Mauer und Stacheldraht zum Postendienst eingeteilt wurden, hatten vor Dienstantritt eine Nr. 381 August 2001 Seite 11

Karl Wilhelm Fricke Vergatterung durch ihren Kompaniechef über sich ergehen zu lassen. Ausdrücklich wurden sie darauf verpflichtet, Grenzverletzer aufzuspüren, festzunehmen oder zu vernichten. Erst in der Endzeit der DDR wurde das Wort vernichten aus der Vergatterungsformel getilgt. Mauerschützen vor Gericht Der Todesschütze, der Chris Gueffroy auf dem Gewissen hat, wurde 1992 vom Landgericht Berlin in erster Instanz zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt, ein zweiter Tatbeteiligter erhielt zwei Jahre auf Bewährung, zwei wurden freigesprochen. Im Revisionsverfahren hob der 5. (Leipziger) Senat des Bundesgerichtshofes das Urteil auf. In zweiter und letzter Instanz wurden 1994 nur mehr Bewährungsstrafen ausgeworfen und die Freisprüche bestätigt. Auch die für den Tod Peter Fechters verantwortlichen ehemaligen Grenzer wurden zu Freiheitsstrafen von 21 und zwanzig Monaten auf Bewährung verurteilt. Ebenso konnten die im Fall Günter Litfin schuldigen Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Das Landgericht Berlin verurteilte den Hauptschuldigen, der im Prozess keine Reue bekundete, 1997 zu einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe, seinen Postenführer zu einem Jahr. Auch die Vollstreckung dieser Strafen wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die Beispiele sind für die Ahndung von Tötungsdelikten an Mauer und Stacheldraht insoweit typisch, als die gegen ehemalige DDR-Grenzsoldaten wegen Totschlags verhängten Strafen in der übergroßen Mehrzahl zur Bewährung ausgesetzt wurden. In Berlin, wo naturgemäß die meisten Mauerschützen-Prozesse stattfanden, trugen nach Auskunft von Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz von 76 rechtskräftig verurteilten ehemaligen DDR-Grenzern 74 Bewährungsstrafen davon, nur zwei kamen wegen Exzesstaten im Grenzdienst hinter Gitter. 59 wurden freigesprochen. Zu rund neunzig Prozent waren die Ermittlungen gegen tatverdächtige Posten an der Mauer ergebnislos eingestellt worden. Die Bilanz der Strafverfolgung der ehemaligen Mauerschützen ist mithin durch Rechtsstaatlichkeit und durch Milde charakterisiert. Von Siegerjustiz spricht nur der politisch bornierte Unverstand. Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mauerschützen wurde schon frühzeitig entschieden. Mehrere Grundsatzurteile des Bundesgerichtshofes bekräftigten die Rechtmäßigkeit der Verurteilungen. Todesschüsse an Mauer und Stacheldraht wurden als strafbares Unrecht qualifiziert. Wie aber stellte sich die Schuldfrage bei den Tätern hinter den Tätern? Die Hauptverantwortlichen unter Anklage Am 12. November 1992 begann vor der 27. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin jener spektakuläre Prozess, dessen Hauptangeklagter Erich Honecker hieß, weiland Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR. Er hatte sich als ehemaliger Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates zu verantworten. In seiner Anklageschrift fand sich auch der Name Chris Gueffroy. Sein Fall gehörte zu jenen zwölf, die als exemplarisch ausgesucht worden waren, um Anklage wegen Gewaltverbrechen und Tötungsdelikten an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze auch gegen die politischen Schlüsselfiguren erheben zu können juristisch als Totschlag definiert. Mit Honecker kamen weitere fünf ehemalige Mitglieder des Verteidigungsrates, des wichtigsten militär- und sicherheitspolitischen Entscheidungsgremiums der DDR, zur Anklage: Willi Stoph, der frühere Vorsitzende des Mi- Seite 12

Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten Zimmer-/Ecke Charlottenstraße Peter Fechter wurde am 17. August 1962 bei seinem Fluchtversuch nach West-Berlin von Vopos erschossen und verblutete qualvoll. Foto: VFWD Seite 13

Karl Wilhelm Fricke nisterrates, und Erich Mielke, der ehemalige Minister für Staatssicherheit, gegen die allerdings wie gegen Honecker selbst das Verfahren aus Gesundheitsgründen alsbald abgetrennt und eingestellt wurde; alle drei sind inzwischen verstorben. So blieben im Honecker-Prozess zuletzt nur Heinz Keßler, der ehemalige Verteidigungsminister der DDR, ferner Fritz Streletz, einst Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee, und Hans Albrecht, der frühere erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Suhl, auf der Anklagebank in Moabit übrig. Sie wurden am 16. September 1993 in erster Instanz zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Der fünfte Senat des Bundesgerichtshofes hat dieses Urteil im Revisionsverfahren am 26. Juli 1994 im Wesentlichen bestätigt, jedoch insoweit verschärft, als er nicht mehr wie die Berliner Richter auf Anstiftung zum Totschlag, sondern auf Totschlag in mittelbarer Täterschaft erkannte. Für Keßler blieb es bei einer Freiheitsstrafe von siebeneinhalb Jahren, für Streletz von fünfeinhalb Jahren, während der BGH die ursprüngliche Strafe für Albrecht auf fünf Jahre und einen Monat erhöhte. Alle drei wurden vorzeitig aus dem Strafvollzug entlassen. Ihrem Versuch, im Wege einer Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf das Rückwirkungsverbot ihre Strafverfolgung anzufechten, blieb ein Erfolg versagt. Ihr hatte sich auch ein ehemaliger Grenzsoldat angeschlossen, der 1993 vom Landgericht Berlin wegen Totschlags, begangen durch Todesschüsse an der Mauer, zu einem Jahr und zehn Monaten Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt worden war. Die Politbüro-Prozesse Dem Honecker-Prozess folgten die beiden so genannten Politbüro-Prozesse. Der erste, ebenfalls vor der 27. Großen Strafkammer des Landgerichts geführt, richtete sich gegen Egon Krenz, Nachfolger Honeckers als letzter Generalsekretär der SED, sowie gegen die früheren Politbüro-Mitglieder Horst Dohlus, Kurt Hager, Günther Kleiber, Erich Mückenberger, Günter Schabowski und Harry Tisch. Gegen Dohlus, Hager, Mückenberger und Tisch wurde das Verfahren aus Alters- und Krankheitsgründen eingestellt. Bis auf Dohlus sind auch sie übrigens verstorben. Unter diesen Umständen konnten am 25. August 1997 nur noch Krenz, Kleiber und Schabowski verurteilt werden, und zwar zu sechseinhalb, fünfeinhalb und fünf Jahren für Krenz, Schabowski und Kleiber. Das Urteil wurde durch Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 8. November 1999 rechtskräftig. Krenz bezeichnete das Urteil als rechtswidrig, räsonierte über Kalten Krieg im Gerichtssaal, erdreistete sich gar zu der Drohung, die Richter eines Tages zur Verantwortung ziehen zu wollen. Schabowski dagegen hat das Urteil angenommen, ebenso Kleiber. Fraglos haben alle drei Mitverantwortung für die Schüsse an der Mauer getragen, Krenz zumal, der entgegen allen Unschuldsbeteuerungen die Möglichkeit gehabt hätte, Einfluss auf das Grenzregime zu nehmen, wenn er denn nur gewollt hätte. Der Abbau von Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenzlinie als Gegenleistung für den Milliarden-Kredit für die DDR zu Anfang der achtziger Jahre und die zeitweilige Aussetzung des Schießbefehls in bestimmten politischen Situationen haben das eindeutig erwiesen. Der zweite, ebenfalls bei der 27. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin anhängige Politbüro-Prozess, der sich gegen die Angeklagten Herbert Häber, Siegfried Lorenz und Hans-Joachim Böhme richtete auch sie waren mehr oder weniger lange Zeit Mitglieder des Politbüros, endete dagegen mit einer unerwarteten Entscheidung. Das Urteil Seite 14

Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten vom 7. Juli 2000 lautete in allen drei Fällen auf Freispruch. Nach dem Revisionsantrag der Staatsanwaltschaft, dessen Entscheidung aussteht, ist es allerdings noch nicht rechtskräftig. Die Strafprozesse gegen die erste Garnitur der Nomenklaturkader gingen mit dem zweiten Politbüro-Prozess zu Ende. Militärs auf der Anklagebank Ins Visier der Staatsanwaltschaft gerieten zwangsläufig auch ranghohe Militärs, denen ebenfalls Mitverantwortung für Tötungsdelikte im Mauer- und Grenzbereich zum Vorwurf gemacht wurde. In ein und demselben Verfahren angeklagt waren neun ehemalige Generäle der Nationalen Volksarmee und ein Admiral der Volksmarine in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des früheren Kollegiums des Ministeriums für Nationale Verteidigung. Der Prozess wurde am 18. August 1995 vor der 35. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin eröffnet. Nachdem schon zuvor zwei der Angeklagten altersund krankheitsbedingt ausgeschieden waren, erwirkten weitere vier Angeklagte mithilfe ärztlicher Atteste für sich ebenfalls Verfahrenseinstellung. Das Urteil vom 30. Mai 1997 betraf letztlich nur noch Generaloberst a. D. Joachim Goldbach, einst Stellvertreter des Verteidigungsministers und Chef für Bewaffnung/Technik, Generalleutnant a. D. Heinz Handke, einst Hauptinspekteur der NVA, Generalleutnant a. D. Harald Ludwig, ehedem Chef der Verwaltung Kader, und Generaloberst a. D. Erich Peter, zuletzt Chef der Zivilverteidigung. Sie wurden des Totschlags für schuldig befunden und zu im Grunde moderaten Freiheitsstrafen verurteilt: drei Jahre und drei Monate jeweils für Goldbach und Ludwig, zwei Jahre und zehn Monate für Handke. Alle erfreuen sich längst wieder ihrer Freiheit. Mit einem Jahr und zehn Monaten Freiheitsstrafe erhielt Peter ohnehin Bewährung. Flankiert wurde der erste Generalsprozess von einem Strafverfahren gegen sechs ehemalige Generäle der DDR- Grenztruppen. Als Angeklagte fanden sich am 27. Oktober 1995 vor Gericht gestellt: Generaloberst a. D. Klaus-Dieter Baumgarten, vormals Stellvertreter des Verteidigungsministers und Chef der Grenztruppen, sowie seine Stellvertreter Günter Gabriel, Karl Leonhardt, Gerhard Lorenz, Dieter Teichmann und Heinz-Ottomar Thieme, auch sie einst sämtlich im Generalsrang. Das Urteil wurde am 10. September 1996 verkündet. Die höchste Strafe erhielt mit sechseinhalb Jahren Baumgarten, die übrigen Freiheitsstrafen beliefen sich auf drei Jahre und neun Monate bis drei Jahre und drei Monate. Auch sie sind sämtlich wieder frei nach Begnadigung. Hätte die Staatsanwaltschaft in allen diesen Fällen um eines juristischen Schlussstrichs willen auf eine Anklage von vornherein verzichten sollen? Wie hätten die Strafgerichte die ehemaligen Mauerschützen verurteilen können, ohne ihre Befehlsgeber und Kommandeure, ihre Generäle und Offiziere zur Rechenschaft zu ziehen? Die Frage stellen heißt sie beantworten. Vielleicht waren die Entscheidungen der Gerichte nicht immer befriedigend, aber der Versuch, Unrecht zu sühnen, ohne den Rechtsstaat zu beschädigen, muss gleichwohl als gelungen bezeichnet werden. Der Straßburger Richterspruch Zweifel daran, die Juristen und Politiker durchaus geäußert haben, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg durch seine beiden Urteile vom 22. März 2001 ausgeräumt. Denn einstimmig (!) verwarfen die siebzehn Richter der Großen Kammer unter Vorsitz des aus der Schweiz stammenden Gerichtspräsidenten Luzius Wildhaber die Beschwerde, die Krenz, Keßler und Streletz gegen ihre Verurteilung erhoben hat- Seite 15

Karl Wilhelm Fricke ten. Scheitern sollte auch die analoge Beschwerde des erwähnten Grenzsoldaten, die jedoch nicht einstimmig, sondern mit drei Gegenstimmen abgewiesen wurde. Obwohl von ihnen nur noch Krenz seine Strafe in Berlin verbüßt, und zwar im offenen Vollzug, zogen sie nach Straßburg, um hier ihr Recht zu suchen. Ihre Handlungen, dies war im Wesentlichen ihre Argumentation, wären zu dem Zeitpunkt, als sie begangen wurden, weder nach DDR-Recht noch nach Völkerrecht strafbar gewesen. Ihre nachträgliche Verurteilung durch die Strafjustiz im wiedervereinigten Deutschland verstieße daher gegen das in Artikel 7 Absatz 1 der Europäischen Konvention für Menschenrechte niedergelegte strafrechtliche Rückwirkungsverbot. Ferner beriefen sie sich auf Artikel 1 (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) und auf Artikel 2 Absatz 2 (Einschränkung des Rechtes auf Leben bei unbedingt erforderlicher Gewaltanwendung) der Konvention. Schuldig auch nach DDR-Recht In ihren Entscheidungen haben die Straßburger Richter diese Argumentation mit einer juristisch überzeugenden Beweisführung zurückgewiesen, indem sie feststellten, dass ihre Verurteilung sehr wohl ihre gesetzliche Grundlage in dem zur Tatzeit anwendbaren Strafrecht der DDR hatte und dass die Strafen im Prinzip denen entsprachen, die in den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen der DDR vorgesehen waren. Zudem konstatierten sie auch die Übereinstimmung mit dem Völkerrecht. Das Grenzregime der DDR konnte nicht unter seinen Schutz fallen, weil es selbst völkerrechtswidrig war, weil eine Staatspraxis, wie sie in der DDR bezüglich des Grenzregimes gehandhabt wurde und die krass gegen die Grundrechte und vor allem gegen das Recht auf Leben verstieß, nicht unter dem Schutz von Artikel 7 der Konvention steht. Der Gerichtshof widerlegte Krenz und seine Mitstreiter mit dem Recht der DDR selbst. Wenn es das Ziel der Staatspraxis der DDR war, die Grenzen zwischen den beiden deutschen Staaten um jeden Preis zu schützen, um die Existenz der DDR zu gewährleisten, die durch die massive Auswanderung der eigenen Bevölkerung gefährdet war, musste diese Staatsräson ihre Grenzen in den in der Verfassung und den gesetzlichen Bestimmungen der DDR verankerten Grundsätzen finden. Das Gebot, das menschliche Leben zu schützen, sei sowohl in der Verfassung als auch im Volkspolizeigesetz und im Grenzgesetz der DDR niedergelegt gewesen. Daher könnten sich die Beschwerdeführer nicht auf eine damit im Widerspruch befindliche Praxis der DDR- Behörden berufen, zumal ihnen bewusst gewesen sein muss, dass diese Praxis völkerrechtswidrig war. Neben der staatlichen Verantwortlichkeit, die sie der DDR zuwiesen, erkannten die Richter am Rhein auch auf eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit von Krenz und Genossen, die mit Blick auf den auch von der DDR ratifizierten Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie auf Artikel 95 des DDR-Strafgesetzbuches hinlänglich erkennbar und vorhersehbar war, und sie hielten ihnen auch den Widerspruch zwischen der DDR-Gesetzgebung und der Staatspraxis vor Augen, der ihnen weitgehend selbst zuzuschreiben war. Schließlich hätten sie das Grenzregime selbst gestaltet und weitergeführt, indem sie die offiziellen gesetzlichen Bestimmungen, die im Gesetzblatt der DDR veröffentlicht waren, mit geheimen Befehlen und Dienstvorschriften zur Sicherung und Verbesserung der Grenzanlagen und zum Schusswaffengebrauch überlagerten. Von daher sah das Gericht die unmittelbare individuelle Verantwortlichkeit als gegeben an, ohne dass deshalb strafrechtliche Bestimmungen Seite 16

Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten rückwirkend angewandt worden wären. Im Übrigen waren Krenz und Co von Schuld nun wirklich nicht freizusprechen, wenn sich wohlgemerkt nach Auffassung des Gerichtes selbst ein einfacher DDR-Grenzsoldat nicht blind auf Befehle berufen konnte, die nicht nur krass gegen gesetzliche Grundsätze der DDR, sondern auch gegen international geschützte Menschenrechte, vor allem gegen das Recht auf Leben, verstoßen haben. Der Straßburger Richterspruch, gegen den es kein Rechtsmittel gibt, ist sowohl juristisch wie politisch von erheblichem Belang. Mit ihm wurde nicht nur die Ahndung von Tötungsdelikten an Mauer und Stacheldraht als rechtmäßig bekräftigt und die Legende von der Siegerjustiz zerstört. In seiner Kernaussage bestätigte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof dem Rechtsstaat auch die Legitimität, gegen Personen, die sich eines Verbrechens unter einem früheren Regime schuldig gemacht haben, strafrechtliche Verfolgungen einzuleiten. Auch aus der Anwendung und Auslegung der zur Tatzeit geltenden gesetzlichen Bestimmungen nach rechtsstaatlichen Prinzipien wäre den Gerichten des demokratischen Nachfolgestaates kein Vorwurf zu machen. Künftig kann sich in Europa niemand mehr auf staatlich sanktioniertes Unrecht als Recht berufen und sich aus seiner Verantwortung stehlen. Die PDS zur Berliner Mauer Während sich die meisten der Angeklagten, die wegen Tötungsdelikten an Mauer und Stacheldraht vor Gericht gestellt wurden, ohne Schuldeinsicht und Reue zeigten, hat der Parteivorstand der Partei des Demokratischen Sozialismus durch eine am 2. Juli mit einer Gegenstimme beschlossene Erklärung zum vierzigsten Jahrestag der Berliner Mauer ungewöhnlich eindeutig und scharf formuliert Stellung genommen. Immerhin ist darin von dem inhumanen Grenzregime zu lesen, von Menschenrechtsverletzungen und Toten an der Mauer, von dem Unrecht, das von der SED als der dafür verantwortlichen politischen Kraft ausgegangen sei. Die Errichtung der Berliner Mauer war keine Lösung, um die Existenz der DDR zu retten. Schließlich spricht auch dieses Verdikt wider die DDR: Ein Staat, der sein Volk einsperrt, ist weder demokratisch noch sozialistisch. Für viele der 88 000 Genossinnen und Genossen, die heute die PDS in sich vereint, sind das ohne Frage erstaunliche Eingeständnisse, irritierend geradezu für jene rund achtzig Prozent, die einst in der SED organisiert waren. Die Mehrheit dürfte heute noch genauso über die Mauer denken wie der bisherige Vize- Vorsitzende Peter Porsch, der noch vierzig Jahre danach ihren Bau als friedenssichernde Maßnahme verklärte wie ehedem Walter Ulbricht und Honecker. Selbst Stolz auf den antifaschistischen Schutzwall bekunden manche Alt-Genossen noch heutzutage. Zu einer Entschuldigung mochte sich der Parteivorstand der PDS indes nicht durchringen. Er beschränkte sich aufs Bedauern über die Opfer der Mauer. Helmut Holter, Vize-Ministerpräsident in Schwerin, hatte sich vergeblich darum bemüht. Seine Formulierung Wir bitten die Leidtragenden in Ost und West um Vergebung war im Parteivorstand mehrheitlich verworfen worden. Zu einer solchen rein menschlichen Geste fand sich die Führung der PDS mit Rücksicht auf ihre politische Klientel nicht bereit. In welchem Kalkül sich die Erklärung der PDS zur Berliner Mauer auch immer motiviert haben mag, ob glaubwürdig oder nicht, in künftigen Auseinandersetzungen mit der SED-Nachfolgepartei wird sie jedenfalls von politischem Nutzen sein: ein parteioffizieller Text zum Argumentieren und Zitieren gegen realsozialistische Nostalgie. Seite 17