Gebrauch oder Herstellung?



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Transkript:

Tobias Henschen Gebrauch oder Herstellung? Heidegger über Eigentlichkeit, Wahrheit und phänomenologische Methode mentis PADERBORN

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. Einbandabbildung: Bearbeitung der ca. 1960 entstandenen Reproduktion eines Fotos von Martin Heidegger, das im Heimatmuseum der Stadt Messkirch hängt (mit freundlicher Genehmigung von Herrn Franz King, Messkirch). Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ISO 9706 2010 mentis, Verlag GmbH Schulze-Delitzsch-Straße 19, D-33100 Paderborn) Internet: www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart,Tübingen Satz und Druck: Druckhaus Plöger, Borchen ISBN 978-3-89785-724-7

0. Einleitung 0.1. Gebrauch oder Herstellung? Im zehnten Buch der Politeia lässt Platon Sokrates die Frage stellen, wer eigentlich versteht, was ein bestimmtes Artefakt wie z.b. ein Tisch oder ein Bett ist: derjenige, der das Artefakt gebrauchen; derjenige, der es herstellen; oder derjenige, der das ideale Urbild dieses Artefakts herstellen kann. 1 Und im Phaidros lässt Platon Sokrates die Frage stellen, wer eigentlich versteht, was Sprache ist: derjenige, der die Sprache herstellen, oder derjenige, der sie gebrauchen kann. 2 Auch wenn die Rede von der Herstellung oder dem Gebrauch von Sprache suggeriert, dass es sich bei der Sprache um ein Artefakt wie jedes andere handelt, ist klar, dass sich die Sprache unter anderem dadurch auszeichnet, dass Herstellung und Gebrauch von Sprache nicht ohne weiteres zu trennen sind: die Herstellung von Sprache im Sinne einer Erzeugung von Sprachlauten oder Schriftzeichen ist zugleich der Gebrauch von Sprache. Hinzukommt, dass die Herstellung von Sprache im Sinne einer Erzeugung von Sprachlauten oder Schriftzeichen nur Ausdruck einer Bedeutung ist, die auch durch Erzeugung anderer Sprachlaute oder Schrift- 1 Anstelle desjenigen, der das Artefakt gebraucht, wird eigentlich der Maler des Artefakts genannt (vgl. Rep. 596 e). Der Aspekt des Gebrauchs kommt jedoch in einem Nachtrag ins Spiel und wird am Beispiel des Zaumzeugs erörtert (vgl. Rep. 601c f.). Ferner kommt für Platon derjenige, der das ideale Urbild eines Artefakts herstellt, nicht als derjenige in Betracht, der eigentlich versteht, was ein Artefakt ist. Denn die sokratische Frage danach, wer eigentlich versteht, was ein Artefakt ist, ist auf den Menschen beschränkt, und der Mensch ist nach Platon der Herstellung des idealen Urbilds eines Artefakts gar nicht fähig (vgl. Rep. 597b f.). Wenn im folgenden Heideggers und nicht Platons Antwort auf die sokratische Frage ermittelt werden soll, ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese Antwort eine philosophische Antwort ist, dass Philosophie nach Heidegger atheistisch zu sein hat (vgl. GA 62: 363; GA 20: 109-10), und dass die metaphysische Annahme einer Herstellung idealer Urbilder von Artefakten durch Gott fallen gelassen werden muss. In Heideggers atheistischer Philosophie tritt an die Stelle des ideale Urbilder herstellenden Gottes der Bedeutung erfindende Mensch. 2 Genau genommen, geht es Platon um ein eigentliches Verstehen dessen, was die Schrift ist (vgl. Phdr. 274 c ff.). Wenn die Schrift eine Spezies der Sprache ist und der Sprache der Instrumentcharakter zukommt, den ihr z.b. Wittgenstein zuspricht (vgl. PU 23, 360, 421, 569), wird man aber auch im Hinblick auf Sprache Herstellung und Gebrauch sowie eigentliches und uneigentliches Verstehen unterscheiden können.

12 0. Einleitung zeichen zum Ausdruck gebracht werden kann. Es empfiehlt sich daher, die Rede von einer Herstellung von Sprache für eine Erzeugung von Sprachlauten oder Schriftzeichen zu reservieren, die die Bedeutung dieser Laute bzw. Zeichen erfindet, und im Falle der restlichen Erzeugung von Sprachlauten oder Schriftzeichen von einem Gebrauch von Sprache zu sprechen. Wenn die Herstellung und der Gebrauch von Sprache derart unterschieden werden, lautet die Frage, die Platon Sokrates stellen lässt: Wer versteht eigentlich, was Sprache ist: derjenige, der Sprache herstellen kann, d.h. die Bedeutung sprachlicher Laute oder Zeichen erfinden kann, oder derjenige, der Sprache gebrauchen kann? Ganz unabhängig davon, wie Platon die sokratischen Fragen beantwortet 3, soll in der vorliegenden Arbeit überlegt werden, welche Antwort Heidegger auf diese Fragen gibt. Aus zwei Thesen, die Heidegger bisweilen zugeschrieben werden, lässt sich eine Antwort ableiten, der zufolge derjenige eigentlich versteht, was ein Artefakt oder Sprache ist, der dieses Artefakt oder Sprache gebrauchen kann. Diese zwei Thesen lassen sich allerdings nur formulieren, wenn zuvor kurz auf drei für Heidegger zentrale Begriffe eingegangen wird, die für die Formulierung dieser Thesen eine wichtige Rolle spielen: Heideggers Begriffe des Seienden, des Seins und der Auslegung. Seiendes ist für Heidegger»alles, wovon wir reden, was wir meinen, wozu wir uns so und so verhalten, seiend ist auch, was und wie wir selbst sind«(sz 6-7). Seiendes ist für Heidegger also z.b.»was und wie wir selbst sind«, und dieses Seiende bezeichnet er als»dasein«:»dieses Seiende, das wir je selbst sind [ ], fassen wir terminologisch als Dasein«(SZ 7). Vom Dasein unterscheidet er Seiendes, das wir nicht selbst sind, und dieses Seiende ist für ihn entweder»zuhandenes«oder»vorhandenes«. Dasein 3 Platon beantwortet die sokratischen Fragen offensichtlich, indem er demjenigen, der Artefakte wie Tische oder Sprache zu gebrauchen versteht, ein eigentliches Verstehen zuschreibt. Im Hinblick auf diese Antwort ist jedoch zweierlei zu beachten. Zum einen wird Gott als der Hersteller des idealen Urbilds eines Artefakts ausgeklammert, wenn diese Frage beantwortet wird. Und zum anderen ist Platons Begründung seiner Antwort eine, die sich bei Heidegger nicht findet. Nach Platon ist das Verstehen desjenigen, der Artefakte wie Tische oder Sprache zu gebrauchen weiß, eigentlich, weil dieses Verstehen höherrangig ist als das Verstehen desjenigen, der diese Artefakte lediglich herstellen kann. Es ist in dem Sinne höherrangig, dass sich das, was ein Artefakt ist, lediglich dann zeigt, wenn man seinen Gebrauch betrachtet und den Schaden und Nutzen abschätzt, den dieser Gebrauch zur Folge hat. Zwar kann auch der Hersteller eines Artefakts Meinungen über den Nutzen eines Artefakts entwickeln; diese Meinungen bedürfen in der Regel aber der Korrektur. Zum Verhältnis von Gebrauchs- und Herstellungswissen bei Platon vgl. Wieland [1982]: 17, 146-7.

0.1. Herstellung oder Gebrauch? 13 zeichnet sich Heidegger zufolge dadurch aus, dass es sich verhält: es verhält sich zu seinem Sein (vgl. SZ 12) und zum Zu- und Vorhandenen. Sein Verhalten zu seinem Sein sei allerdings nicht in demselben Sinne Verhalten wie sein Verhalten zum Zu- und Vorhandenen: während sein Verhalten zu Zuund Vorhandenem Verhalten im Sinne von»benehmen«sei, sei sein Verhalten zu seinem Sein Verhalten im Sinne von»beziehung«(ga 61: 52). Nur sein Verhalten zum Zu- und Vorhandenen könne so etwas wie Verhaltung sein, und»verhaltung«sei gleichbedeutend mit»intention«:»die Intentionalität ist als Struktur der Verhaltungen selbst eine Struktur des sich verhaltenden Subjekts. Sie [ ] gehört zum Wesen der Verhaltungen, so daß die Rede von der intentionalen Verhaltung schon ein Pleonasmus ist und etwa gleichkommt dem, daß ich sage: ein räumliches Dreieck«(GA 24: 85). Sein Verhalten zu seinem Sein dagegen sei lediglich eine spezielle Beziehung zwischen Dasein und seinem Sein: das Haben dieses Seins. Seiendes ist für Heidegger also entweder Seiendes, das sich (zu seinem Sein und Zu- und Vorhandenem) verhält, d.h. Seiendes, das eine Beziehung zu seinem Sein hat und Zu- und Vorhandenes intendiert (Dasein), oder Seiendes, das vom Dasein intendiert wird: Zu- oder Vorhandenes. Sein wird von Heidegger in Sein und Zeit definiert als»das, was Seiendes als Seiendes bestimmt, das woraufhin Seiendes, mag es wie immer erörtert werden, je schon verstanden ist«(sz 6). 4 Sein oder das, was Seiendes als Seiendes bestimmt, ist entsprechend den drei Arten des Seienden nach drei»seinsarten«unterschieden:»jedes Seiende ist etwas, d.h. es hat sein Was und hat als dieses eine bestimmte mögliche Art zu sein«(ga 24: 23). Das Sein, durch das ein Seiendes als Vorhandenes bestimmt ist, ist die Bedeutung eines Prädikats, d.h. der Begriff dieses Seienden. Vorhandenes ist also etwas, das zum Gegenstand von Gedanken werden kann, die in Aussagen zum Ausdruck kommen. Das Sein, durch das ein Seiendes als Zuhandenes bestimmt ist, ist dagegen das Sein eines Seienden, das gebraucht und in seinem Gebrauch für den Gebrauchenden gar nicht thematisch wird. Das Sein eines solchen Seienden sei der Zusammenhang der Verweisungen 4 Es versteht sich von selbst, dass Heidegger diese Definition nur als vorläufig betrachtet. In Sein und Zeit geht es ihm um die Gewinnung eines einheitlichen Begriffs von (einem nicht länger nach Seinsarten verschiedenen) Sein. Er glaubt, diesen Begriff dadurch zu gewinnen, dass er zunächst die Abhängigkeit des Seins des Zu- und Vorhandenen vom Sein des Daseins feststellt und dann das Sein des Daseins zunächst als Sorge und dann als Zeitlichkeit interpretiert. Heideggers Vereinheitlichung des Seinsbegriffs durch Interpretation des Seins des Daseins als Sorge und Zeitlichkeit ist allerdings nicht Thema der vorliegenden Arbeit. In der vorliegenden Arbeit soll allein der Begriff von Sein interessieren, den die zitierte Definition liefert.

14 0. Einleitung eines Zuhandenen auf seinen praktischen Zweck, auf die Weise seines Gebrauchs, auf anderes Zuhandenes etc. Wie das Zuhandene selbst werde aber auch der Zusammenhang seiner Verweisungen nicht begriffen oder thematisch. Zuhandenes und sein Sein würden im umsichtigen Umgang mit Zuhandenem lediglich umsichtig erfasst. Das Sein, durch das Seiendes als Dasein bestimmt ist, ist schließlich die Existenz des Daseins, d.h. der Spielraum der existenziellen Möglichkeiten, die sich einem Dasein in konkreten Situationen eröffnen. Existenzielle Möglichkeiten sind praktische Fähigkeiten, Gebrauchsgegenstände zu verwenden. Das Sein, durch das Seiendes als Dasein bestimmt ist, ist aber nicht die Gesamtheit der praktischen Fähigkeiten, die ein bestimmtes Dasein in einer konkreten Situation besitzt, sondern lediglich eine Reihe praktischer Fähigkeiten, deren Ausübung in einer konkreten Situation überhaupt relevant ist. Nach Heidegger verfügt das Dasein über ein Vermögen, das auf diese Relevanz ansprechbar ist und lediglich bestimmte praktische Fähigkeiten erschließt (ein Vermögen, das er als»befindlichkeit«bezeichnet). Entsprechend ist ein Spielraum existenzieller Möglichkeiten eine Reihe praktischer Fähigkeiten, die das Dasein erschließt und deren Ausübung in der jeweiligen Situation relevant ist. In Übereinstimmung mit den drei Seinsarten des Seienden lässt sich auch das Verhalten des Daseins zu seinem Sein und zum Zu- und Vorhandenen näher bestimmen. Das Verhalten des Daseins zu seinem Sein ist nichts weiter als die possessive Beziehung zwischen Dasein und dessen existenziellen Möglichkeiten eine Beziehung, die Heidegger auch als»existenzielles Verstehen«bezeichnet. Das Verhalten des Daseins zu Vorhandenem dagegen ist die begriffliche Intention dieses Vorhandenen, während das Verhalten des Daseins zu Zuhandenem als umsichtige Intention dieses Zuhandenen verstanden werden kann, d.h. als Intention, die im umsichtigen Umgang mit Zuhandenem zum Ausdruck kommt. Sowohl die begriffliche Intention von Vorhandenem als auch die umsichtige Intention von Zuhandenem bezeichnet Heidegger als»auslegung«. Die Auslegung charakterisiert er als Intention, die»die Struktur des Etwas als Etwas«habe (SZ 149): wird Vorhandenes ausgelegt, wird Seiendes als etwas ausgelegt, das unter den und den Begriff fällt; wird dagegen Zuhandenes ausgelegt, wird Seiendes als etwas ausgelegt, das auf einen bestimmten praktischen Zweck, eine bestimmte Gebrauchsweise, bestimmtes anderes Zuhandenes etc. verweist. Heidegger behauptet nun, dass die Aussage ein»abkünftiger Modus der Auslegung«(SZ 153) sei, und dass das ursprüngliche» Als der umsichtigen Auslegung zum Als der Vorhandenheitsbestimmung«(SZ 158) nivelliert werde. Dass die Aussage ein abkünftiger Modus der Auslegung sei, scheint zu besagen, dass jede Aussage insofern Auslegung ist, als sie eine Als-Struk-

0.1. Herstellung oder Gebrauch? 15 tur aufweist (sie bestimmt ihren Gegenstand als etwas, prädiziert etwas von ihm), und dass jede Aussage insofern ein abkünftiger Modus ist, als die Als- Struktur einer Aussage die nivellierte Als-Struktur eines umsichtigen Umgangs mit Zuhandenem ist. Dass die Als-Struktur einer Aussage die nivellierte Als-Struktur eines umsichtigen Umgangs mit Zuhandenem ist, scheint wiederum zu bedeuten, dass jede Als-Struktur einer Aussage (jede Bedeutung eines Prädikats) die thematisierte Als-Struktur eines umsichtigen Umgangs mit Zuhandenem (die thematisierte Verweisung eines Zuhandenen) ist. Entsprechend scheint Heidegger die These zugeschrieben werden zu können, dass die Bedeutung von Prädikaten immer nur die Thematisierung der Verweisungen eines Zuhandenen ist. 5 Heidegger behauptet ferner, dass Zeichen eine besondere Spezies von Zuhandenem seien (vgl. SZ 17). Wenn Zeichen eine besondere Spezies von Zuhandenem und sprachliche Zeichen eines besondere Spezies von Zeichen sind, gilt jedoch auch, dass sprachliche Zeichen eine besondere Spezies von Zuhandenem sind. Entsprechend scheint Heidegger die These zugeschrieben werden zu können, dass sprachliche Zeichen oder Sprache eine besondere Spezies von Zuhandenem sind. 6 Wer Heidegger die Thesen zuschreibt, dass (1) die Bedeutung von Prädikaten immer die Thematisierung der Verweisungen eines Zuhandenen, und dass (2) Sprache eine besondere Spezies von Zuhandenem ist, und ferner die plausible Annahme trifft, dass (3) Herzustellendes begrifflich und nicht umsichtig intendiert wird, wird sagen können, dass Heideggers Antwort auf die sokratischen Fragen lautet, dass derjenige eigentlich versteht, was ein Artefakt oder Sprache ist, der dieses Artefakt oder Sprache gebrauchen kann: eigentlich sei dieses Verstehen in dem Sinne, dass das, was erfasst wird, wenn etwas begrifflich intendiert wird (die Bedeutung eines Prädikats), eigentlich etwas (aus dem abkünftig) sei, was erfasst wird, wenn etwas umsichtig intendiert wird. Wer Heidegger diese Antwort in den Mund legt, muss sich allerdings mindestens zwei Einwände gefallen lassen. (i) Zwar trifft es zu, dass Heidegger die Sprache oder sprachliche Zeichen als besondere Spezies von Zuhandenem betrachtet: für Heidegger ist z.b.»die Aussage [ ] ein Zuhandenes«(SZ 224). Die Herstellung von Sprache ist aber keine Erzeugung vorher nie da gewesener Laut- oder Schriftzeichen, sondern die Erfindung der Bedeutung sprachlicher Laute oder Zeichen. Wer die Bedeutung 5 Diese These wird Heidegger insbesondere von Dreyfus zugeschrieben (vgl. Dreyfus [1991]: 208ff.; Dreyfus [2005]: 61). 6 Diese These wird Heidegger insbesondere von Brandom (vgl. Brandom [1983]: 401) und Okrent (vgl. Okrent [1988]: 66ff.) zugeschrieben.