Weiterhin im "sicheren Hafen" der Vertikal-GVO?

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Transkript:

Ashurst Deutschland Juli 2010 IP/IT/Commercial Briefing Weiterhin im "sicheren Hafen" der Vertikal-GVO? Am 1. Juni 2010 ist die neue Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen in Kraft getreten. Diese macht eine Überprüfung bereits bestehender vertraglicher Beziehungen sowie die Berücksichtigung der neuen Regelungen im Rahmen noch abzuschließender entsprechender vertraglicher Vereinbarungen erforderlich. Die Verordnung hat Geltung für Warenvertrieb und Dienstleistungserbringung. So genannte "vertikale" Vereinbarungen, also Verträge zwischen Marktteilnehmern auf unterschiedlichen Handelsstufen, wie z.b. Herstellern einerseits und deren Partnern im Produkthandel andererseits, unterliegen weit reichenden kartellrechtlichen Beschränkungen. Solange sich eine vertikale Vereinbarung auf Grund ihrer rechtlichen Ausgestaltung und ihres tatsächlichen Vollzugs im "sicheren Hafen" des Anwendungsbereichs der Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen (VO (EU) 330/2010) bewegt, spricht eine Vermutung für die kartellrechtliche Rechtmäßigkeit dieser Vereinbarung. Im Zuge der zum 1. Juni 2010 erfolgten Novellierung dieser Gruppenfreistellungsverordnung und der dazugehörigen Leitlinien wurden die Entwicklungen der letzten Jahre, insbesondere die besondere Rolle des Internets als Handelsplattform, berücksichtigt und mithin ein neuer kartellrechtlicher Rechtsgestaltungsrahmen etabliert. Insbesondere für Hersteller oder Großhändler mit Verträgen mit umsatzstarken Handelspartnern ist die neue Gruppenfreistellungsverordnung relevant. So wurde der Anwendungsbereich der Verordnung im Zuge der Etablierung einer Marktanteilschwelle auf Käuferseite im Ergebnis verkleinert und damit die Gefahr geschaffen, dass bisher im Anwendungsbereich befindliche vertikale Vereinbarungen nicht mehr a priori kartellrechtskonform sind, sondern nunmehr von Seiten der Vertragsparteien die Kartellrechtskonformität begründet werden muss. Für neu abzuschließende Verträge gelten die neuen Regelungen seit 1. Juni 2010. Altverträge müssen bis zum 31. Mai 2011 angepasst werden. Hintergrund Mit der Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20. April 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Abs. 3 AEUV (vormals Art. 81 Abs. 3 des EG- Vertrages) auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen (im Folgenden "GVO") werden einzelne vertikale Vereinbarungen, also insbesondere Liefer- und Vertriebsverträge sowie Dienstleistungsverträge unter bestimmten Voraussetzungen von einem sonst grundsätzlich geltenden Kartellverbot freigestellt. Nach Art. 101 Abs. 1 AEUV sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes bezwecken oder bewirken. Nach Artikel 101 Abs. 3 AEUV können Vereinbarungen, bei denen die positiven Auswirkungen die wettbewerbswidrigen überwiegen, von dem in Art. 101 Abs. 1 AEUV statuierten Verbot freigestellt werden. Die GVO fasst die Voraussetzungen von grundsätzlich in den Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV fallenden Vereinbarungen zusammen, die in der Regel zugleich die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllen und für die damit im Ergebnis die Vermutung der Kartellrechtskonformität spricht. Zeitlicher und gegenständlicher Anwendungsbereich Die GVO ist am 1. Juni 2010 in Kraft getreten und gilt bis zum 31. Mai 2022. Für Verträge, die bis zum 31. Mai 2010 abgeschlossen wurden, gelten bis zum 31. Mai 2011 die Freistellungskriterien der Vorgängerverordnung (EG) Nr. 2790/1999. Unternehmen haben also ein Jahr Zeit, ihre schon vor dem 31. Mai 2010 abgeschlossenen Verträge auf die Vereinbarkeit mit den neuen Anforderungen der GVO zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. ABU DHABI BRUSSELS DUBAI FRANKFURT HONG KONG LONDON MADRID MILAN MUNICH NEW YORK PARIS SINGAPORE STOCKHOLM TOKYO WASHINGTON DC

Nach Art. 2 Abs. 5 GVO gilt die GVO nicht für vertikale Vereinbarungen, deren Gegenstand in den Geltungsbereich einer anderen Gruppenfreistellungsverordnung fällt. So gilt beispielsweise seit 1. Juni 2010 im Kfz- Sektor die speziellere Verordnung Nr. 461/2010. Leitlinien für vertikale Beschränkungen Zusammen mit der GVO wurden von der Europäischen Kommission "Leitlinien für vertikale Beschränkungen" (nachfolgend "Leitlinien") veröffentlicht, die den Unternehmen Beurteilungshilfen im Hinblick auf die Selbstprüfung von vertikalen Vereinbarungen nach Maßgabe der genannten EU-Wettbewerbsvorschriften bieten sollen, wobei sie allerdings für Gerichte nicht bindend sind. Die Leitlinien sind dabei nicht nur für die Auslegung der GVO maßgeblich. Fällt eine vertikale Vereinbarung nämlich nicht in den Anwendungsbereich der GVO und spricht somit keine Vermutung für die kartellrechtliche Rechtmäßigkeit dieser Vereinbarung, so sagt dies für sich genommen noch nichts über die Kartellrechtswidrigkeit der Vereinbarung aus. Vielmehr muss die Vereinbarung dann im Hinblick auf die kartellrechtliche Rechtmäßigkeit im Einzelfall an den Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 1 und 3 AEUV gemessen werden, wofür die Leitlinien eine Auslegungs- und Beurteilungsbasis bilden. Im Übrigen hat die EU- Kommission anlässlich der Verabschiedung der GVO eine Liste mit Antworten auf zehn häufig gestellte Fragen zum europäischen Kartellrecht veröffentlicht, die ebenfalls die Regelungstendenzen der neuen GVO veranschaulichen. Relevante Neuerungen durch die GVO Die GVO enthält eine Reihe relevanter Neuerungen. Betrifft die Einführung einer zweiten Marktanteilsschwelle den persönlichen Anwendungsbereich der GVO, treffen insbesondere die Ausführungen zu kartellrechtlich zulässigen vertikalen Vereinbarungen im Hinblick auf das Internet als Handelsplattform sowie die Ausführungen zur Möglichkeit einer sogenannten "Effizienzeinrede" bei Kernbeschränkungen Aussagen zu dem sachlichen Anwendungsbereich der GVO. Persönlicher Anwendungsbereich der GVO ("Marktanteilsschwelle") Die Einführung einer zweiten Marktanteilsschwelle verringert im Ergebnis den Anwendungsbereich der GVO. Dies kann dazu führen, dass bisher freigestellte vertikale Vereinbarungen möglicherweise nach Inkrafttreten der neuen GVO nunmehr einer individuellen Kartellrechtskonformitätsprüfung nach Art. 101 Abs. 1 und 3 AEUV unterworfen werden müssen. Nach der Neuregelung der GVO fällt eine vertikale Vereinbarung nur noch dann in den Anwendungsbereich der GVO, wenn weder der Anteil des Anbieters noch der Anteil des Abnehmers am relevanten Markt über 30% liegt, wobei der Anteil des Abnehmers auf dem Einkaufsmarkt maßgeblich sein soll (Einzelheiten der Marktanteilsberechnung finden sich in den Leitlinien). Nach den bisherigen Regelungen galt die Marktanteilschwelle nicht für jedes der an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen, sondern nur für die Anbieterseite. Mit der Einführung einer Marktanteilsschwelle für Abnehmer wird die zunehmende Marktmacht auf Abnehmerseite berücksichtigt. Zugleich soll die Einführung der Marktanteilsschwelle kleineren und mittleren Betrieben zugute kommen, da sie eher in den Anwendungsbereich der GVO fallen und damit attraktivere Vertriebspartner sind. Für die Anbieter ist im Ergebnis eine Neubewertung der Marktanteilsschwellen ihrer Abnehmer erforderlich, um beurteilen zu können, ob eine bestehende vertikale Vereinbarung sich weiterhin im "sicheren Hafen" des Anwendungsbereichs der GVO befindet. Ausgewählte Einzelheiten zum sachlichen Gehalt der GVO vor dem Hintergrund der Neuregelung Ausgangspunkt Überschreitet weder der Anteil des Anbieters noch der Anteil des Abnehmers am relevanten Markt die Marktanteilsschwelle von 30%, so kann eine vertikale Vereinbarung in den "sicheren Hafen" des Anwendungsbereichs der GVO fallen, sofern sie keine der in der GVO aufgeführten Kernbeschränkungen oder nicht freigestellte Beschränkungen enthält. Kernbeschränkungen sind Vereinbarungen folgender Gestalt im Rahmen von vertikalen Vereinbarungen (vgl. Art. 4 GVO): Beschränkung der Möglichkeit des Abnehmers, seinen Verkaufspreis selbst festzusetzen. Beschränkungen des Gebiets oder der Kundengruppe, in das oder an die ein an der Vereinbarung beteiligter Abnehmer verkaufen darf. Beschränkung des aktiven und passiven Verkaufs an Endverbraucher durch auf der Einzelhandelsstufe tätige Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems (also eines Vertriebssystems, nach welchem die Mitglieder bestimmte Kriterien erfüllen müssen, um zugelassen zu werden). Beschränkungen von Querlieferungen zwischen Händlern innerhalb eines selektiven Vertriebssystems. Beschränkung der Möglichkeit des Anbieters von Teilen, die Teile als Ersatzteile an Endverbraucher oder an Reparturbetriebe oder andere Dienstleister zu verkaufen, die der Abnehmer, der die Teile des

Anbieters weiterverwendet, nicht mit der Reparatur oder Wartung seiner Waren betraut hat. Von einigen dieser Kernbeschränkungen nennt bereits die GVO Ausnahmen. Im Übrigen halten die Leitlinien notwendige Konkretisierungen der einzelnen Kernbeschränkungen bereit. Beispiel einer Ausnahme von Kernbeschränkungen: aktive Verkaufsmaßnahmen Eine gesetzliche Ausnahme vom Verbot der Beschränkung des Gebiets oder der Kundengruppe, in das oder an die ein an der Vereinbarung beteiligter Abnehmer verkaufen darf, ist die (zulässige) Beschränkung des aktiven Verkaufs in Gebiete oder an Kundengruppen, die der Anbieter sich selbst vorbehalten hat oder ausschließlich einem anderen Abnehmer zugewiesen hat, sofern dadurch der Weiterverkauf durch die Kunden des Abnehmers nicht beschränkt wird. Folglich ist eine Abgrenzung zwischen aktivem und passivem Verkauf angezeigt, da nur ersterer zulässiger Gegenstand einer vertikalen Vereinbarung im vorstehend aufgezeigten Rahmen sein kann. Für die Abgrenzung von aktivem und passivem Verkauf finden sich im Rahmen der Leitlinien praktische Auslegungshinweise. So bedeutet "aktiver Verkauf" die aktive Ansprache einzelner Kunden, beispielsweise mittels Direktwerbung einschließlich Massen-E-Mails oder persönlichen Besuchs oder die aktive Ansprache einer bestimmten Kundengruppe oder von Kunden in einem bestimmten Gebiet mittels Werbung in den Medien, über das Internet oder mittels anderer verkaufsfördernder Maßnahmen, die sich gezielt an die betreffende Kundengruppe oder gezielt an die Kunden in dem betreffenden Gebiet richten. "Passiver Verkauf" hingegen bedeutet die Erledigung unaufgeforderter Bestellungen einzelner Kunden, d.h. das Liefern von Waren an beziehungsweise das Erbringen von Dienstleistungen an solche Kunden. Passive Verkäufe sind des Weiteren allgemeine Werbe- oder Verkaufsförderungsmaßnahmen, die Kunden in Gebieten oder Kundengruppen, die anderen Händlern (ausschließlich) zugewiesen sind, zwar erreichen, die aber zugleich auch eine Ansprache von Kunden außerhalb dieser Gebiete oder Kundengruppen, z.b. im eigenen Gebiet, darstellen. Rechtsgestaltungsrahmen im Hinblick auf das Internet als Handelsplattform Die zunehmend bedeutende Rolle des Internets als Handelsplattform hat es mit sich gebracht, dass diesem Handelsbereich auch im Rahmen der Novellierung der GVO und der dazugehörigen Leitlinien eine besondere Rolle zukommt. So wird im Rahmen der Leitlinien zunächst hervorgehoben, dass bestimmte Beschränkungen über die Nutzung des Internets als (Weiter-) Verkaufsbeschränkungen behandelt werden. Diesbezüglich wird insbesondere hervorgehoben, dass es prinzipiell jedem zum Vertrieb autorisierten Händler erlaubt sein muss, das Internet für den Weiterverkauf von Produkten zu nutzen. Die Abgrenzung des aktiven Weiter-Verkaufs (welcher im vorstehend geschilderten Rahmen dem Abnehmer weitreichend reglementiert werden kann) vom passiven Verkauf wurde gerade auch für den Handelsbereich "Internet" vorgenommen. So ist nach Auffassung der Kommission die gezielt an bestimmte Kunden gerichtete Online-Werbung eine Form des aktiven Verkaufs an diese Kunden. Des Weiteren sind Zahlungen an einen Suchmaschinenbetreiber oder einen anderen Online-Werbeanbieter, damit Werbung gezielt für Nutzer in einem bestimmten Gebiet geschaltet wird, als aktiver Verkauf in dieses Gebiet zu werten. Im Übrigen sind Bemühungen, die sich gezielt an ein bestimmtes Gebiet oder eine bestimmte Kundengruppe richten, als aktiver Verkauf in dieses Gebiet oder an diese Kundengruppe zu betrachten, wobei der Begriff der Bemühungen von der Kommission nicht weiter präzisiert wird. Zum passiven Verkauf hingegen, der dem Händler nicht beschränkt werden darf, wird in der Regel der Betrieb der eigenen Website des Händlers gerechnet, wobei es grundsätzlich unschädlich ist, wenn eine Website Wirkungen auch über das eigene Gebiet oder die eigene Kundengruppe des Händlers hinaus entfaltet. Folglich ändern auch die auf der Website oder in der Korrespondenz wählbaren, gegebenenfalls fremden Sprachen nichts am passiven Charakter des Verkaufs. Im Übrigen stellen folgende Vereinbarungen zulasten eines Händlers Kernbeschränkungen in Gestalt einer unzulässigen Beschränkung des passiven Verkaufs dar: Vereinbarungen, nach denen der Händler/Alleinvertriebshändler zu verhindern hat, dass Kunden aus einem anderen Gebiet/Alleinvertriebsgebiet seine Website einsehen können oder wonach er verpflichtet ist, auf seiner Website eine automatische Umleitung auf die Website des Herstellers oder anderer Händler/Alleinvertriebshändler einzurichten. Vereinbarungen, wonach der Händler/Alleinvertriebshändler Internet-Transaktionen von Verbrauchern zu unterbrechen hat, sobald ihre Kreditkarte eine Adresse erkennen lässt, die nicht im Gebiet/Alleinvertriebsgebiet des Händlers liegt.

Vereinbarungen, die den über das Internet getätigten Teil der Gesamtverkäufe des Händlers begrenzen sollen. Vereinbarungen, nach denen der Händler für Produkte, die er online verkaufen will, einen höheren Preis zu zahlen hat als für Produkte, die offline verkauft werden sollen. Es ist jedoch mit der GVO vereinbar, wenn ein Anbieter von seinen Händlern verlangt, dass sie zusätzlich zu dem Vertrieb über das Internet über einen oder mehrere physische Verkaufspunkte oder Ausstellungsräume ("brick and mortar shops or showrooms") verfügen, wenn sie Mitglied des Vertriebssystems werden wollen. Entsprechend der im Allgemeinen zulässigen Stellung von Qualitätsanforderungen an Geschäfte, den Versandhandel oder Werbe- und Verkaufsförderungsmaßnahmen, kann ein Anbieter auch Qualitätsanforderungen bei der Verwendung des Internets zum Weiterverkauf seiner Waren stellen. Eine Besonderheit gilt hier für Mitglieder selektiver Vertriebssysteme, für die Beschränkungen sowohl des aktiven als auch passiven Verkaufs unzulässig sind. Eine unzulässige Kernbeschränkung stellen nach Auffassung der Kommission Kriterien an Vertragshändler für Online-Verkäufe dar, die insgesamt den Kriterien für Verkäufe im physischen Verkaufspunkt nicht gleichwertig sind und letztlich die Vertragshändler davon abhalten, das Internet zu benutzen, um mehr und andere Kunden zu erreichen. Als Ausnahme von unzulässigen Beschränkungen des aktiven oder passiven Verkaufs können die Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems daran gehindert werden, ihre Geschäftstätigkeit von anderen Räumlichkeiten auszuüben oder eine neue Verkaufsstätte an einem anderen Standort zu eröffnen. Dabei stellt die Einrichtung einer eigenen Website keine Eröffnung einer neuen Verkaufsstätte in diesem Sinne dar, so dass darüber keine abweichende Vereinbarung getroffen werden darf. Zulässig wird es hingegen sein, an die Website bestimme Anforderungen zu stellen, so etwa, dass sie nicht den Namen oder das Logo der Internetplattform eines Dritten trägt (auf diese Weise könnte beispielsweise auch ein Lieferant den Vertrieb seiner Produkte über ebay verhindern). Kombination von selektiven und nicht-selektiven Vertriebssystemen in getrennten Vertriebssystemen Problematisch stellt sich die Kombination von selektiven und nicht-selektiven Vertriebssystemen in getrennten Vertriebssystemen dar. Sofern sich ein Hersteller entscheidet, in einem Gebiet ein selektives Vertriebsnetz, in einem anderen Gebiet hingegen kein selektives Vertriebsnetz zu etablieren, kann er einem autorisierten Händler eines selektiven Vertriebsnetzes nicht verbieten, an nicht-autorisierte Händler außerhalb des selektives Vertriebsnetzes zu verkaufen. Einrede der Effizienz bei Kernbeschränkungen Findet sich in einer Vereinbarung eine Kernbeschränkung nach Art. 4 der GVO, so wird vermutet, dass die Vereinbarung unter Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt. Ferner führt das Auffinden einer Kernbeschränkung in einer Vereinbarung zu der Vermutung, dass die Vereinbarung wahrscheinlich nicht die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllt. Unternehmen können jedoch im Einzelfall unter Berufung auf Art. 101 Abs. 3 AEUV die sog. Einrede der Effizienz erheben, in dem sie die wettbewerbsfördernden Wirkungen einer vertikalen Vereinbarung nachweisen und somit die kartellrechtliche Rechtmäßigkeit der Vereinbarung begründen. Die Leitlinien lassen erkennen, dass die Kommission im Bereich der Kernbeschränkungen bisweilen einen im Vergleich zur früheren Rechtslage generöseren Ansatz im Hinblick auf den Nachweis der wettbewerbsfördernden Wirkungen einer vertikalen Vereinbarung walten lässt. Dies soll an den Beispielen der "gegenständlichen (Weiter-)Verkaufsbeschränkungen" und der "Beschränkungen für den Weiterverkaufspreis" gezeigt werden: Weiterverkaufsbeschränkungen zur Produkteinführung in den Markt Nach Auffassung der Kommission können Beschränkungen passiver Verkäufe in Gebiete oder an Kundengruppen, die der Anbieter ausschließlich einem anderen Abnehmer zugewiesen hat, in den ersten zwei Jahren, in denen der Händler die Vertragswaren oder -dienstleistungen in diesem Gebiet oder an diese Kundengruppe verkauft, im Einzelfall von Artikel 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen sein. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn der Händler beträchtliche Mittel aufwenden muss, um einen neuen Markt zu erschließen beziehungsweise aufzubauen und die Beschränkungen passiver Verkäufe für die Amortisation dieser Investitionen erforderlich sind. Beschränkungen für den Weiterverkaufspreis Ist eine unmittelbare oder mittelbare Festsetzung von Fest- oder Mindestweiterverkaufspreisen in eine Vereinbarung aufgenommen worden, so findet die GVO auf Grund des Vorliegens einer Kernbeschränkung keine Anwendung. Die Kommission führt allerdings auch im Hinblick auf Beschränkungen des Weiterverkaufspreises aus, dass es auch hier Effizienzgewinne geben kann, die im Rahmen der vom jeweiligen Unternehmen zu erhebenden und substantiiert vorzutragenden Einrede der Effizienz nach Artikel 101 Abs. 3 GVO zu würdigen sein können. Nach der Kommission kann im Einzelfall eine Festsetzung von Fest- oder Mindestweiterverkaufspreisen bei der Einführung eines neuen Produkts im Interesse der Verbraucher zu einer erfolgreichen Markteinführung des Produktes führen.

Des Weiteren könnte im Einzelfall die durch die Festsetzung von Fest- oder Mindestweiterverkaufspreisen gewonnene zusätzliche Marge die Einzelhändler in die Lage versetzen, vor dem Verkauf eine dem Kunden zu gute kommende Beratung anzubieten. Im Übrigen führt die Kommission aus, dass auch bloße Empfehlungen im Hinblick auf den Weiterverkaufspreis je nach der Marktstellung des Anbieters spürbare wettbewerbswidrige Auswirkungen entfalten können und damit im Einzellfall möglicherweise kartellrechtswidrig sein können, wobei diesbezüglich immer noch zu klären ist, ob eine Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 in Betracht kommt. Sonstiges Die Leitlinien enthalten im Rahmen des Punktes "Prüfung bestimmter vertikaler Beschränkungen" Erläuterungen der Kommission zu den häufigsten vertikalen Beschränkungen und Kombinationen aus vertikalen Beschränkungen. Unter anderem wird im Hinblick auf "Vorauszahlungen für den Zugang" und "Produktgruppenmanagement-Vereinbarungen" erläutert, dass diese in den Anwendungsbereich der GVO fallen, sofern sowohl der Anbieter als auch der Abnehmer auf seinem Markt nicht mehr als 30% Marktanteil hält und es werden Anhaltspunkte dafür gegeben, wie bei der Würdigung dieser Vereinbarungen bei Überschreiten der Marktanteilsschwelle vorzugehen ist. Bei "Vorauszahlungen für den Zugang" handelt es sich um Gebühren, die Anbieter im Rahmen einer vertikalen Beziehung zu Beginn eines bestimmten Zeitraums an Händler für den Zugang zu deren Vertriebsnetzen und durch sie erbrachte Service-Leistungen zahlen. "Produktgruppenmanagement-Vereinbarungen" sind Vereinbarungen, mit denen ein Händler dem Anbieter als "Category Captain" die Federführung über das Marketing einer bestimmten Gruppe von Produkten überträgt, zu denen auch Produkte von Mitwettbewerbern des Händlers zählen können. Fazit Die neue GVO samt der dazugehörigen Leitlinien enthält gerade bezüglich des Anwendungsbereiches der GVO und der Anforderungen an einen kartellrechtskonformen Internetvertrieb eine ganze Reihe teils neuer, teils klarstellender Regelungen. Diese machen für die Beibehaltung eines kartellrechtskonformen Warenvertriebs und die kartellrechtskonforme Dienstleistungsvereinbarung eine Überprüfung bereits bestehender vertraglicher Beziehungen erforderlich. Ebenso ist die Berücksichtigung der neuen Regelungen im Rahmen noch abzuschließender vertikaler vertraglicher Vereinbarungen dringend geboten. Kontakte Marcus S. Nothhelfer Counsel T: +49 (0)89 24 44 21 157 E: marcus.nothhelfer@ashurst.com Dr. Anna-Katharina Lohbeck Counsel T: +49 (0)69 97 11 28 86 E: anna-katharina.lohbeck@ashurst.com Frank Baumann Associate T: +49 (0)89 24 44 21 112 E: frank.baumann@ashurst.com Diese Publikation stellt keinen abschließenden Überblick über alle Entwicklungen gesetzlicher und praktischer Art dar und befasst sich auch nicht mit allen Aspekten der hier angeführten Entwicklungen. Der Leser sollte sich rechtlich beraten lassen, bevor er die hier enthaltenen Informationen auf bestimmte Sachverhalte oder Transaktionen anwendet. Falls Sie weitergehende Informationen wünschen, wenden Sie sich bitte unter folgender Anschrift an uns: Ashurst LLP, Prinzregentenstraße 18, 80538 München T: +49 89 24 44 21 100 F: +49 89 24 44 21 101; Ashurst LLP, OpernTurm, Bockenheimer Landstraße 2-4, 60306 Frankfurt am Main T: +49 69 97 11 26 F: +49 69 97 20 52 20 www.ashurst.com. Ashurst LLP und die mit ihr verbundenen Sozietäten firmieren unter dem Namen Ashurst. Ashurst LLP ist eine Partnerschaft mit beschränkter Haftung nach englischem Recht. Sie ist eingetragen im Companies House für England und Wales unter der Nummer OC330252 und unterliegt unter anderem den Regeln der Solicitors Regulation Authority of England and Wales. Der Begriff "Partner" bezeichnet die Teilhaber von Ashurst LLP sowie deren Angestellte oder Berater mit entsprechendem Status und entsprechender Qualifikation. Weitere Informationen zu Ashurst LLP und den mit ihr verbundenen Sozietäten finden Sie unter www.ashurst.com. Ashurst LLP 2010 Ref:511100 1. Juli 2010