Vortrag im Rahmen der Fachveranstaltung HINSCHAUEN FRAUENHANDEL UND PROSTITUTION IN AACHEN von SOLWODI, dem Bistum Aachen und der Katholischen Hochschule NRW am 23.6.1016 in der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Aachen: Frauenhandel und Zwangsprostitution aus der Perspektive kritischer Gewaltforschung Prof. Dr. Norbert Frieters-Reermann Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende! Ich freue mich, das wir heute ein so wichtiges Thema, eine so große Herausforderung aus verschiedenen Perspektiven betrachten und damit genauer HINSCHAUEN. Genauer HINSCHAUEN in die Antoniusstraße, genauer HINSCHAUEN in die Lebenswelten von Zwangsprostituierten und Opfern von Frauenhandel und genauer HINSCHAUEN in die Möglichkeiten und Grenzen, die Frauen in der Antoniusstraße zu unterstützen sowie Frauenhandel und Zwangsprostitution zu bekämpfen. Dazu haben wir verschiedene Akteure (Staatsanwaltschaft, Verwaltung, Polizei, Kommunalpolitik, Soziale Arbeit) eingeladen und gewinnen können, um mit uns gemeinsam die Problematik aus verschiedenen Perspektiven und Professionen zu betrachten. Ihnen allen möchte ich für Ihre Beteiligung und Ihr Engagement danken. Bedanken möchte ich mich auch bei den vielen Studierenden, die heute trotz Semesterende und anstehenden Prüfungen den Weg zu uns gefunden haben. Und auch wenn die Themen und Fragestellungen der heutigen Tagung kaum prüfungsrelevant sein werden, auch wenn es heute keine Credits zu vergeben gibt und auch wenn sicherlich die allerwenigsten der Studierenden später in der beruflichen Praxis direkt mit Zwangsprostituierten und Opfern von Frauenhandel zu tun haben werden, glaube ich, dass es ein sehr inspirierender und anregender Nachmittag werden wird. Denn an der Arbeit von SOLWODI in Aachen wird deutlich werden, dass Soziale Arbeit mit Zwangsprostituierten und Opfern von Frauenhandel weit über die Einzelfallhilfe und das individuelle Case-Management hinausgeht Soziale Arbeit in diesem Kontext ist auch immer Lobbyarbeit, Vernetzungsarbeit, Advocacyarbeit, politische Arbeit und sozialraumbezogene Arbeit. Damit beinhaltet die Arbeit von SOLWODI ein enorm breites Spektrum und ein hohes Anregungspotential auch für andere Praxisfelder Sozialer Arbeit, diese weit über
individuelle Einzelfallberatung hinaus multiperspektivisch und unter Rückgriff auf verschiedene Methoden und Arbeitsansätze zu gestalten. Sehr geehrte Damen und Herren, heute ist der 23. Juni 2016. Möglicherweise ein historisches Datum. Nicht wegen unserer heutigen Veranstaltung. Sondern weil die Briten heute über ihren Verbleib in der EU und den sogenannten Brexit abstimmen. Sollten sie gegen den Verbleib in der EU stimmen, wäre das sozusagen die Westverkleinerung der EU. Diese Westverkleinerung wäre auch eine mögliche indirekte Auswirkung auf den Prozess der Osterweiterung der EU in den letzten beiden Jahrzehnten. Die EU Osterweiterung, die mit dem Zusammenbruch des Ostblockes vor über 25 Jahren begann, ist für unser heutiges Thema von entscheidender Bedeutung. Denn der Zusammenbruch des Staatssozialismus und damit einhergehende Massenarbeitslosigkeit und Massenarmut in vielen osteuropäischen Ländern sowie die EU-Osterweiterung haben den Akteuren des Menschen- und Frauenhandels in die Hände gespielt. Insbesondere die politische und wirtschaftliche Erweiterung Europas, die wir oftmals als Gewinn und Bereicherung erleben, erweist sich für die Opfer von Menschenhandel als Alptraum. Denn noch wie war es so einfach, Menschen aus Osteuropa anzulocken und anzuwerben und über kriminelle Netzwerke und illegale Organisationstrukturen durch Europa zu handeln. Zwangsprostitution und Frauenhandel in Europa müssen auch immer aus dieser Perspektive kritisch betrachtet werden. Doch was genau ist unter Frauenhandel zu verstehen? Das Aktionsbündnis gegen Frauenhandel bezeichnet Frauenhandel als das Anwerben, Entführen oder Verschleppen von Frauen aus ihren Heimatländern, um diese zumeist im Ausland mit Hilfe von Gewalt, Bedrohung oder Drogen für sexuelle Handlungen zu missbrauchen. Dazu zählen in erster Linie die Zwangsprostitution, das Geschäft mit Stripteasetänzerinnen und Kinderpornografie, sowie Formen des Ehehandels. 1 Im wissenschaftlichen Diskurs wird die Definition von Frauenhandel oftmals ausgeweitet: Von Frauenhandel wird dann nicht nur in Bezug auf die sexuelle Ausbeutung von Frauen gesprochen, sondern generell auf die erzwungene Ausbeutung ihrer Arbeitskraft, z. B. im Bereich der Hausarbeit, des Gastronomiegewerbes oder der organisierten Bettelei. Oftmals basieren solche Ausbeutungsverhältnisse auf transnational organisierten kriminellen Netzwerken des Menschenhandels. Aus der Sicht der ausgebeuteten Menschen können solche Verhältnisse auch treffend mit dem Begriff der Sklaverei zusammengefasst werden. Offiziell ist diese zwar weltweit geächtet und abgeschafft. Doch diese Abschaffung existiert nur formal. 1 Vgl. Aktionsbündnis gegen Frauenhandel (http://www.gegen-frauenhandel.de/ [15.6.2016])
Faktisch sind zahlreiche Formen moderner Sklaverei global zu beobachten, z.b. Kinderarbeit, Rekrutierung von Kindersoldaten, klassische Formen der Leibeigenschaft sowie Sexsklaverei und Zwangsprostitution. Der renommierte Sklaverei-Forscher Kevin Bales ging bereits vor über 10 Jahren davon aus, dass weltweit ungefähr 27 Millionen Menschen in Verhältnissen leben, die der Sklaverei sehr ähneln oder faktisch als solche zu bezeichnen sind. 2 Und auch wenn seine Analyse einige Jahre alt ist, kann nicht von einer Verbesserung oder Entschärfung der Situation gesprochen werden; im Gegenteil, denn andere Schätzungen zeichnen ein noch düsteres Bild. Der Global Slavery Index der Walk Free Foundation von 2016 schätzt, dass über 45 Millionen Menschen auf unserem Planeten Opfer moderner Sklaverei sind. 3 Für den Frauenhandel in Europa liegen sehr unterschiedliche Schätzungen vor. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Datenlage in Bezug auf Menschen- und Frauenhandel denkbar schlecht ist und oftmals weniger auf exakten Analysen und Erhebungen, sondern auf groben Schätzungen und Spekulationen basiert. Die Ursache liegt vor allem darin, dass sich die illegalen Netzwerke und kriminellen Organisationen des Frauen- und Menschenhandels nur schwer durchschauen und erforschen lassen. Polizeiliche Statistiken hingegen dürften allenfalls eine kleine Spitze des Eisberges wiedergegen, da aus verschiedenen Gründen die wenigsten Delikte im Bereich des Menschenhandels überhaupt zur Anzeige gebracht und weiter verfolgt werden. Schätzungen gehen von 700.000 bis 2.000.000 gehandelten Personen jährlich aus, der größte Teil davon Frauen und Kinder. Die wichtigsten Herkunftsländer der gehandelten Frauen in Europa sind Moldawien, Ukraine, Weißrussland sowie Rumänien und Bulgarien, die bedeutendsten Zielorte im Westen Europas sind Deutschland, die Niederlande und Großbritannien. 4 Dies sind erschreckende Zahlen und sie markieren eine Herausforderung, der wir uns multiperspektivisch und multiprofessionell stellen müssen. Ich möchte meine kurze Einführung nutzen, diese Herausforderung aus der Perspektive der kritischen Gewaltforschung zu beleuchten. Diese Perspektive impliziert oftmals eine ungemütliche Sichtweise. Denn Gewaltforschung stört und provoziert und wer will sich schon gerne stören und provozieren lassen. Aber, so formuliert es der deutsche Konflikt- und Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer: Gewaltforschung muss stören. Das gehört zur vornehmsten gesellschaftlichen Verantwortung von Wissenschaft. 5 2 Vgl. Bales 2001. 3 Vgl. Walk Free Foundation 2016. 4 Vgl. Nautz/Sauer 2008, S.12. 5 Vgl. Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld (o.j.), S.139.
Diesem Grundsatz fühlte sich wohl auch der norwegische Sozialwissenschaftler Johann Galtung verpflichtet. Galtung hat bereits vor über 50 Jahren mit einer grundlegenden Unterscheidung die Gewalt- und Konfliktforschung irritiert und auf Jahrzehnte nachhaltig beeinflusst. Denn Galtung unterscheidet zwischen direkten und offenen Formen von Gewalt einerseits und indirekten und versteckten Formen andererseits. (Abb. 1 Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Johan Galtung 1998) Direkte Gewalt ist personale Gewalt. Sie wird als direkte Handlung von Menschen an Menschen vollzogen. Direkte Gewalt kann sich in körperlicher und seelischer Weise ausdrücken. Sie umfasst alle Formen von direkten Aggressionen und Angriffen, die Menschen verwunden, verletzten oder vernichten. Dass Zwangsprostituierte und Opfer von Frauenhandel vielfältigen menschenverachtenden Formen direkter personaler Gewalt ausgesetzt sind (z.b. körperlicher Missbrauch, Bedrohungen, Bekleidungen) ist offensichtlich und wird im Laufe des Nachmittags noch zur Sprache kommen. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Opfer von Frauenhandel in einem hochkontrollierten Zwangssystem unter menschenverachtenden Bedingungen leben und arbeiten. Sie werden nicht nur ihrer Freiheit, sondern auch ihrer Arbeitskraft, ihres Mutes und ihres Selbstwertgefühls systematisch beraubt. 6 Neben der direkten personalen Gewalt erkennt Galtung zwei weitere Gewaltdynamiken, die ebenso bedrohlich sind und ebenso verheerende Auswirkungen haben können: 6 Vgl. Nautz/Sauer 2008, S.13.
Strukturelle Gewalt und kulturelle Gewalt Diese Gewaltformen sind versteckt und es ist schwierig, ihre Akteure zu identifizieren und ihre Wechselwirkungen zu Formen direkter Gewalt offenzulegen. Strukturelle Gewalt umfasst alle Formen der Benachteiligung, Diskriminierung und Ausgrenzung, die durch soziale Strukturen manifestiert werden. Strukturelle Gewalt ist von daher fast immer unsichtbar; sie ist eingebettet in Prozesse, Institutionen und Organisationen und wird von daher oftmals als normal und unveränderbar wahrgenommen. Strukturelle Gewalt tritt auf, wenn Menschen durch politische, rechtliche, wirtschaftliche und administrative Rahmenbedingen darin gehindert werden, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Opfer von Zwangsprostitution und Frauenhandel sind in mehrfacher Hinsicht von strukturellen Formen der Benachteiligung und Exklusion in ihren Herkunftsländern und in den Zielländern betroffen. Auch in Deutschland wird die ohnehin schwierige Situation von Zwangsprostituierten oftmals durch juristische und administrative Rahmenbedingungen verschärft. Das im Jahre 2002 verabschiedete Prostitutionsgesetz hat die Situation vieler (Zwangs)prostituierten nicht verbessert, sondern massiv verschlechtert. Auch diesen Punkt werden wir heute noch vertiefen. Kulturelle Gewalt als dritte Gewaltform wird oftmals als rassistisch-ethnische Gewalt interpretiert. Aber Galtungs Verständnis von Kultur ist viel breiter angelegt und geht weit darüber hinaus. Kulturelle Gewalt umfasst die Normen, Werte, Sichtweisen und Narrative, die tief im kollektiven gesellschaftlichen Unterbewusstsein verankert sind. Diese kollektiven psycho-sozialen Tiefenstrukturen haben verschiedene historische, philosophische, religiöse und gesellschaftliche Wurzeln. Und sie werden kontinuierlich durch Medien, Kunst, Literatur, Sprache, Bildung und Wissenschaft tradiert und reproduziert. Im Kern geht es um die Frage, welche Formen von Ausgrenzung, Entwertung und Diskriminierung gegenüber welchen Menschengruppen in der Gesellschaft kollektiv und implizit als richtig und normal oder zumindest als nachvollziehbar und nicht ganz falsch interpretiert werden. Welche Formen der Exklusion und Abwertung erscheinen somit als verständlich und plausibel? Kulturelle Gewalt in Form von kollektiven Abwertungen dient dann dazu, alle anderen Erscheinungsformen von struktureller und personaler Gewalt zu legitimieren, zu entskandalisieren, zu entdramatisieren und letztlich zu normalisieren. Und genau das ist an ihr so gefährlich, da sie den Nährboden für alle anderen Gewaltformen bereitet.
Im Hinblick auf unser heutiges Thema stellt sich die Frage, welche kollektiven Narrative, Sichtweisen und Normen Frauenhandel und Zwangsprostitution in unserer Gesellschaft unbewusst und implizit unterstützen. Welche kollektiven Frauenbilder, welche Sexismen, welche Normalvorstellungen im Hinblick auf Prostitution und Pornographie und welche sexuellen männlichen Begehren, Phantasien und Praktiken begünstigen die Verobjektivierung von Frauen als Ware und Sexobjekte, die dann auch auf illegalem Wege und unter Zwang ihren Abnehmern zugeführt werden dürfen? Und welche rassistischen und fremdenfeindlichen Tendenzen begünstigen insbesondere den menschenverachtenden Handel mit Frauen aus ärmeren Ländern, deren Bevölkerung in unserer Gesellschaft möglicherweise auf Grund ihrer Armut per se als Menschen zweiter Klasse wahrgenommen und entwertet werden? Oder anders gefragt: Welche tief in unserer Gesellschaft verankerten sexistischen, ethno-zentrischen und rassistischen Tendenzen begünstigen Zwangsprostitution und Frauenhandel? Und welche dieser Tendenzen normalisieren und legitimieren möglicherweise verschiedene Formen der strukturellen und personalen Gewalt, denen die Frauen tagtäglich ausgesetzt sind? Ich möchte abschließend kurz zu jeder der drei Gewaltformen ausgewählte Anfragen und Konsequenzen skizzieren. Im Hinblick auf direkte personale Gewalterfahrungen wäre aus einer psycho-sozialen Sicht zu fragen: Wie kann ein Unterstützungssystem mit verschiedenen Akteure aus Sozialer Arbeit, Justiz, Medizin, Polizei und Verwaltung multiprofessionell so kooperieren, dass die individuellen Notlagen und Grundbedürfnisse der Frauen niedrigschwellig und adäquat adressiert werden? Wie können die betroffenen Frauen nicht nur als passive Opfer mit ihren Problemen, sondern auch als aktiv Handelnde mit ihren Ressourcen und Potentialen berücksichtigt und einbezogen werden? Wie können die Frauen gestärkt werden, sich zu solidarisieren und für die eigenen Rechte und Lebensperspektiven zu engagieren? Aus einer politischen Sicht wäre zu fragen, Wie können die sozio-ökonomischen Ursachen von Zwangsprostitution und Menschenhandel in den Herkunftsländern verstärkt auch Teil der deutschen politischen Agenda werden?
Wie kann die internationale Verfolgung von Menschenhändlern und kriminellen Organisationen optimiert werden? Wie können der Opfer- und Zeugenschutz und die rechtlichen Bedingungen der Frauen in Deutschland verbessert werden? Und in Bezug auf den Aspekt der kulturellen Gewalt wäre aus einer pädagogischen Perspektive wäre zu fragen, Wie können Frauen und Familien in den Herkunftsländern über die Machenschaften und Dynamiken des internationalen Frauenhandels aufgeklärt und sensibilisiert werden? Welche Bildungs- und Bewusstseinsprozesse sind notwendig, um sexistische und rassistische Tendenzen in unserer gesamten Gesellschaft zu dekonstruieren? Wie können insbesondere männliche Dominanzkulturen auf allen gesellschaftlichen Ebenen hinterfragt und geschlechtssensible und - kooperative Praktiken und Prozesse gefördert werden? Zweifelsohne ließen sich diese Fragen zum Umgang mit personellen, strukturellen und kulturellen Gewaltdynamiken im Kontext von Frauenhandel und Zwangsprostitution noch erweitern. Doch ich möchte mit diesen ausgewählten Gedanken und Anregungen meinen Beitrag abschließen. Ich freue mich auf eine spannende Diskussion.. (Abb. 2 Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Johan Galtung 1998)
Quellen: Aktionsbündnis gegen Frauenhandel (http://www.gegen-frauenhandel.de/ [15.6.2016]) Galtung, Johan (1990): Galtung, Johan: Nonviolence and Deep Culture - Some hidden obstacles. In: Peace Research, Vol. 27, No. 3/1995b, S.21-38. Galtung, Johan (1998): Frieden mit friedlichen Mitteln. Frieden und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen. Bales, Kevin (2001): Die neue Sklaverei. München. Konflikt- und Gewaltforschung in Bielfeld (o.j.): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Desintegration. (Online: https://www.unibielefeld.de/ikg/download/bi.research_gruppenbez._menschenfeindlichkeit_ausschnitt. pdf. [15.6.2016] Walk Free Foundation (2016): Global Slavery Index 2016. (Online: The https://s3-apsoutheast-2.amazonaws.com/globalslaveryindex.orgassets/downloads/global+slavery+index+2016.pdf [15.6.2016] Nautz, Jürgen / Birgit Sauer (Hrsg.) (2008): Frauenhandel. Diskurse und Praktiken. Transkulturelle Perspektiven.