Muslimbrüder, Salafisten, Dschihadisten. Verhältnis zentraler Elemente des islamistischen Spektrums

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Transkript:

.SIAK-Journal Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis Grundmann, Johannes (2010): Muslimbrüder, Salafisten, Dschihadisten. Verhältnis zentraler Elemente des islamistischen Spektrums SIAK-Journal Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis (1), 37-41. doi: 10.7396/2010_1_C Um auf diesen Artikel als Quelle zu verweisen, verwenden Sie bitte folgende Angaben: Grundmann, Johannes (2010). Muslimbrüder, Salafisten, Dschihadisten. Verhältnis zentraler Elemente des islamistischen Spektrums SIAK-Journal Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis (1), 37-41, Online: http://dx.doi.org/10.7396/2010_1_c. Bundesministerium für Inneres Sicherheitsakademie / Verlag NWV, 2010 Hinweis: Die gedruckte Ausgabe des Artikels ist in der Print-Version des SIAK-Journals im Verlag NWV (http://nwv.at) erschienen. Online publiziert: 3/2013

1/2010.SIAK-JOURNAL Muslimbrüder, Salafisten, Dschihadisten Verhältnis zentraler Elemente des islamistischen Spektrums Nachdem in der Ausgabe 3/2009 des.siak-journals ausschließlich die gegenwärtige Entwicklung der Muslimbruderschaft als der größten islamistischen Organisation des sunnitischen Islams im Mittelpunkt stand 1, sollen im Rahmen des folgenden Artikels die salafistische Bewegung sowie dschihadistische Netzwerke in die Betrachtung mit einbezogen werden. Ein tieferes Verständnis des islamistischen Spektrums ist nur möglich, wenn differenziert verschiedene Elemente verglichen und mit Blick auf trennende und einigende Faktoren dargestellt werden, wobei sowohl ideologische als auch strukturelle Komponenten Berücksichtigung finden müssen. Zu bedenken ist zudem, dass die meisten islamistischen Gruppierungen, neben transnationalen Komponenten, auf enge Art und Weise mit bestimmten regionalen und nationalstaatlichen Kontexten verbunden sind. Der folgende Artikel nimmt nicht für sich in Anspruch, die angesprochenen Aspekte umfassend mit Blick auf Muslimbruderschaft, Salafisten und Dschihadisten zu analysieren. Angesichts der relevanten historischen, politischen und geographischen Dimensionen wäre dies unrealistisch. Vielmehr soll der Artikel eine Reihe von Zusammenhängen thematisieren, die bestimmte Grundlinien, die das islamistische Spektrum durchlaufen, sichtbar machen. Diese zu vertiefen, wird dann Aufgabe nachfolgender Artikel sein. Muslimbruderschaft, Salafisten und Dschihadisten können auf mehrerlei Ebene miteinander verglichen werden, so etwa hinsichtlich ihrer Positionen zur Errichtung eines idealen islamischen Staates und einer idealen islamischen Gesellschaft, mit Blick auf ihr Verhältnis zu den vorhandenen Nationalstaaten oder auch auf einer ganz konkreten Ebene bezüglich der Kleidungsgewohnheiten ihrer Anhänger. Die Liste ließe sich noch um einiges fortsetzen. Im Folgenden sollen diejenigen Aspekte herausgegriffen werden, die sich einerseits als thematischer Einstieg eignen, andererseits aber auch für aktuelle Diskurse bedeutsam sind und eine klare sicherheitspolitische Relevanz besitzen. Hierdurch werden insbesondere die qualitativ verschiedenen Gefahren, die von den unterschiedlichen Teilen des islamistischen Spektrums ausgehen, deutlich hervortreten. JOHANNES GRUNDMANN, Islamwissenschaftler, Berlin. Muslimbrüder, Salafisten und schneidet. Gleichzeitig lassen sich aber Dschihadisten können nicht ohne weiteres für alle drei Elemente des islamistischen miteinander verglichen werden. Während Spektrums Akteure und ideologische Erstere einer festen Organisation angehö- Grundlagen identifizieren, von denen ren, sind Salafisten Teil einer schwer ein- ausgehend die Darstellung von Gemeingrenzbaren Bewegung, die sich partiell samkeiten und Unterschieden möglich mit dschihadistischen Netzwerken über- wird. 37

.SIAK-JOURNAL 1/2010 Dieser Artikel versteht sich bewusst nicht als Beitrag zu den zahlreichen Diskussionen um adäquate Bezeichnungsmöglichkeiten für das Phänomen Islamismus oder einzelne seiner Unterkategorien. 2 Relevant ist jedoch, dass die genannten Diskussionen verstärkt Wertungen enthalten wie etwa moderat, reformorientiert oder auch militant, die durchaus auf die Muslimbruderschaft oder Teile der salafistischen Bewegung bezogen werden. Einigkeit besteht meist lediglich hinsichtlich der Dschihadisten, deren gewaltsames Handeln ihre Einordnung bestimmt. Um jedoch Struktur und Symbole, Taktik und Strategie islamistischer Netzwerke genauer begreifen zu können, scheint ein anderer Ansatz hilfreich. Rashwan teilt das Spektrum in religious Islamist movements und sociopolitical movements with an Islamist platform auf. 3 Religious Islamist movements hätten zum Ziel, Gottes Willen gemäß ihrer Auslegung in Staat und Gesellschaft umzusetzen, strikt orientiert an der Frühzeit des Islams. Laut Rashwan können diese Gruppierungen sowohl als gewaltorientiert als auch als Gewalt ablehnend auftreten. Sociopolitical movements hingegen hätten ein sehr viel breiteres Verständnis der Entwicklung islamischen Rechts und islamischer Gesellschaften, suchten in erster Linie nach politischer Macht und seien bereit, pragmatische Allianzen mit anderen Gruppierungen einzugehen. 4 Nutzt man diesen Ansatz nicht zu kategorisch, sondern räumt die Möglichkeit von Überschneidungen von vornherein ein, so ermöglicht er zu sehen, dass zwar die Frage einer islamischen Identität für Islamisten von höchster Bedeutung ist, jedoch sehr unterschiedlich gefüllt werden kann. Der Ansatz verdeutlicht zudem, dass die Abgrenzung von dem Anderen (wie Juden, Christen, islamische Minderheiten etc.) zwar strukturelles Element islamistischen Denkens ist, jedoch aus Sicht der einzelnen Gruppierungen und Bewegungen sehr unterschiedliche Folgen nach sich ziehen soll. Vor diesem Hintergrund ergibt sich ebenfalls die Erkennbarkeit taktischer und strategischer Prioritäten islamistischer Akteure, die für eine sicherheitspolitische Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld von größter Bedeutung ist. MUSLIMBRÜDER UND SALAFISTEN Einer der zentralen Begriffe der Ideologie der Muslimbruderschaft lautet tarbiya (arab. für Erziehung) und steht für einen schrittweisen Umbau von Staat und Gesellschaft mit dem Ziel der Errichtung eines islamischen Staates. Nicht-dschihadistische Salafisten weisen in dieser Hinsicht eine gewisse Nähe zur Muslimbruderschaft auf, auch sie setzen auf Da wa-arbeit (da wa arab. für Ruf, Aufruf, Einladung), d.h. auf eine langfristig angelegte Überzeugungsarbeit. Ziel der Salafisten ist in diesem Zusammenhang die Errichtung eines Staates und einer Gesellschaft, die sich ausschließlich an der als ideal erachteten Frühzeit des Islams orientieren. Deutliche Differenzen zwischen Muslimbruderschaft und salafistischer Bewegung sind mit Blick auf zulässige Organisationsformen erkennbar, während die Muslimbruderschaft mittlerweile mehrheitlich die Gründung politischer Parteien für zulässig hält und diese Möglichkeit auch wenn immer gegeben nutzt, lehnen dies die Salafisten (mit einigen wenigen Ausnahmen) als unzulässige Neuerung ab. 5 Inwiefern sich die buchstabengetreue Islam- Auslegung der Letztgenannten von Ideen der Muslimbruderschaft unterscheidet, zeigt zudem das Beispiel der jemeniti 38

1/2010.SIAK-JOURNAL schen Iman-Universität unter der Leitung Abdalmadschid az-zindanis, die als internationaler Treffpunkt des radikalislamistischen Milieus gilt. 6 Salafisten kritisieren die Einrichtung hingegen als Projekt der Muslimbruderschaft, u.a. aus folgenden Gründen: Männer trügen westliche Hosen und würden ihren Bart stutzen. Zudem nützten die Professoren und Studenten Geräte wie Fernseher und Techniken wie die Fotografie. 7 Auch wenn solche Positionen nicht durch das gesamte salafistische Spektrum geteilt werden, so illustrieren sie doch, wozu ein salafistisches Weltbild führen und wie in diesem Zusammenhang die Muslimbruderschaft zum Feindbild werden kann. DSCHIHAD Auch die Dschihadisten treten der Ideologie der Muslimbruderschaft oftmals mit Ablehnung gegenüber. Dies betrifft insbesondere deren Auslegung des Dschihads im Sinne eines bewaffneten Kampfes. Allerdings wäre es voreilig anzunehmen, dass vor diesem Hintergrund das Verhältnis der Muslimbruderschaft zur politischen Gewalt einwandfrei geklärt sei. Vielmehr verfügt sie über eine lange Tradition interner militärischer Erziehung 8, zudem hat die Organisation (meist über Ableger) immer wieder Gewaltakte ausgeführt, man denke etwa an die Selbstmordattentate der Hamas. Im jemenitischen Bürgerkrieg von 1994 kämpften die Muslimbrüder auf der Seite des Nordens. 9 Jedoch lässt sich mit einer Ausnahme kein Beleg dafür finden, dass sich die Muslimbrüder an Gewaltaktionen innerhalb der islamischen Welt beteiligt hätten, die sich gegen Staaten richteten, die man zuvor als dem Unglauben verpflichtet bezeichnet hatte. 10 Und gerade hierin liegt der Unterschied zum Gedankengut dschihadistischer Gruppierungen und Netzwerke. DER NATIONALSTAAT Mit einer faktisch nach Nationalstaaten organisierten Welt gehen Muslimbrüder und Salafisten recht unterschiedlich um. Die Muslimbruderschaft hat zwar das Fernziel der Errichtung eines weltweiten islamischen Staates nie aufgegeben, in der Praxis orientiert sie sich aber an nationalstaatlichen Gegebenheiten und weiß diese sehr geschickt zu nutzen. Salafisten hingegen sehen die umma, die Gemeinschaft aller Gläubigen, als einzig entscheidenden Bezugsrahmen; nationalstaatliche Grenzen zu akzeptieren lehnen sie ab. Dies hat jedoch in der Praxis nicht verhindert, dass sich salafistische Elemente mit bestimmten nationalstaatlichen Kontexten eng verwoben haben, man denke etwa an Saudi- Arabien. Als weitere Beispiele können Ägypten und der Jemen dienen. So nahm man in Ägypten an Wahlen zu Studentenräten und Berufsverbänden teil 11, im Jemen wurden die Salafisten Bestandteil der komplexen Gesellschaftsstrukturen und reflektieren in Teilen das bis heute schwierige Verhältnis zwischen dem nördlichen und dem südlichen Landesteil 12. SALAFISTEN UND DSCHIHADISTEN Wie eingangs bereits erwähnt, besitzt die Zugehörigkeit zum salafistischen Spektrum für manche dschihadistische Gruppierungen große Bedeutung, für manch andere weniger oder gar keine. In jedem Falle lassen sich Beispiele für deutliche inhaltliche Differenzen zwischen Dschihadisten und Salafisten finden, die keine Gewaltakte ausüben. So lehnen die Letztgenannten einen Treueschwur auf einen Anführer im Kampf (arab. bay a) ab und bezeichnen ihn als unrechtmäßige Neuerung. 13 Die Dschihadisten hingegen sehen dies als strukturgebendes Element im Rahmen der bewaffneten Auseinandersetzung und erklären den Schwur entspre 39

.SIAK-JOURNAL 1/2010 chend zur Pflicht. Auch mit Blick auf einen möglichen Aufschub des Dschihads im Sinne von konkreten Kampfhandlungen gehen die Meinungen auseinander. 14 Grundsätzlich gilt, dass Dschihadisten bereit sind, von salafistischen Vorgaben abzuweichen, wenn sie als Hindernis einer effektiven Ausführung gewaltsamer Aktivitäten verstanden werden. Letztlich stehen mit Blick auf die als Ideal erachtete Zeit des Frühislams zwei unterschiedliche Betrachtungsschwerpunkte einander gegenüber. Die einen sehen die da wa (s.o.) als zentrales Element, während die anderen den Dschihad im Sinne des bewaffneten Kampfes in den Mittelpunkt ihrer Perspektive stellen. Wie schwierig das hieraus entstehende Spannungsfeld zu bewältigen ist, zeigt eine Aussage Abu Muhammad al-maqdisis, eines zentralen Vordenkers des Dschihadismus, im Interview mit Al-Jazeera. Zum Verhältnis von Dschihad und da wa erklärte er, dass letztlich beide Aspekte zu ihrem Recht kommen müssten. 15 Wie dies allerdings zu bewerkstelligen sei, ließ er offen. Interessant ist im Rahmen der hiesigen Betrachtungen zudem die Bemerkung al-maqdisis, dass er die Unterstützung mancher nicht gewaltorientierter salafistischer Gelehrter für bestehende Regierungen ablehne, ihre Werke jedoch nicht grundsätzlich zurückweise. 16 Eine nicht zu leugnende Ambivalenz im Verhältnis beider Seiten tritt zutage. SCHIITEN Die Haltung der Muslimbrüder, der Salafisten und der Dschihadisten als Repräsentanten des sunnitischen Islams zur schiitischen Minderheit könnte unterschiedlicher nicht sein. Während die Muslimbrüder über gute Kontakte in den Iran nach der islamischen Revolution verfügen und die Schiiten als Feindbild ablehnen, artikulieren Salafisten und Dschihadisten eine deutliche Zurückweisung des schiitischen Islamverständnisses. Ihren bisherigen Höhepunkt erreichte dies in den Ausführungen Abu Mus ab az-zarqawis, der die Schiiten als den schlimmsten Feind überhaupt bezeichnete, schlimmer als die Christen oder Juden. Dies begründete er damit, dass die Schiiten Ungläubige seien, die den richtigen Glauben verlassen hätten, während Christen und Juden sozusagen von Anfang an Ungläubige gewesen seien. 17 Die gegenwärtige Rolle des Iran oder der Hizbollah in der nahöstlichen Politik wurde entsprechend verschwörungstheoretisch umgedeutet. In diesem Zusammenhang konnte Zarqawi übrigens auf umfassende durch Saudi-Arabien vertriebene Literatur zurückgreifen 18, dschihadistische Literatur diente ihm in diesem Zusammenhang weniger als Quelle. DSCHIHADISTISCHE SELBSTPRÜFUNG Seit einigen Jahren haben sich mehrere Gruppierungen des dschihadistischen Spektrums Selbstprüfungen unterzogen, die meist der kritischen Auseinandersetzung mit dem Einsatz politischer Gewalt dienten. Die aus dem Gefängnis heraus verfassten Schriften der ägyptischen Gama a Islamiya, die ausführlich das islamische Recht zurate ziehen, sind in diesem Zusammenhang das prominenteste Beispiel. 19 Doch auch wenn diese Schriften Positionen enthalten, die in ihrem Gewaltverzicht eher Ideen aus dem legalistischen Islamismus ähneln, so ist eine gewisse Vorsicht geboten: Zweifellos findet sich in ihnen eine umfassende Ablehnung des takfir, das heißt der Möglichkeit, einen anderen Muslim zum Ungläubigen zu erklären (und in der Folge entsprechend gewaltsam gegen ihn vorzugehen). 20 Bestimmte 40

1/2010.SIAK-JOURNAL Ambivalenzen hinsichtlich der Zu- bzw. Unzulässigkeit des Dschihad im Sinne eines bewaffneten Kampfes bleiben aber bestehen. 21 Vor diesem Hintergrund lässt sich wohl auch verstehen, warum der bereits erwähnte Abu Muhammad al-maqdisi zu den genannten Texten erklärte, dass eine solche Selbstüberprüfung grundsätzlich kein Fehler sei. 22 Derselbe erklärte in einem Interview mit der arabischsprachigen Tageszeitung Al-Hayat, dass er Selbstmordattentate unter bestimmten Umständen für absolut legitim halte. 23 SCHLUSSBETRACHTUNGEN Zurück zu den eingangs erwähnten taxonomischen Einteilungen. Es ist deutlich geworden, dass die Sinnhaftigkeit einer Einteilung nach religious Islamist movements und sociopolitical movements with an Islamist platform durchaus belegbar ist, allerdings unter einer Voraussetzung: Man muss sich der Tatsache bewusst sein, dass ein Teil der Unterscheidungsmerkmale durch unterschiedliche Prioritäten erklärbar ist, während andere auf tatsächlich verschiedenen ideologischen Grundannahmen aufbauen. Das hierdurch entstandene argumentative Geflecht gilt es erst noch in Gänze zu entzerren. Zwei der untersuchten Elemente des islamistischen Spektrums, nämlich die Muslimbruderschaft und Teile der nicht gewaltbereiten Salafisten, nehmen mittlerweile für sich in Anspruch, den Islam des Mittelwegs, die so genannte wasatiyat al-islam, zu repräsentieren. Der Ausdruck spielt derzeit eine wichtige Rolle in innerislamischen Diskursen, auch außerhalb des islamistischen Spektrums, und viele Beobachter halten ihn für einen der bestimmenden Begriffe der nächsten Jahre. 24 Ob allerdings die in diesem Artikel genannten Akteure den Ausdruck in einer Art und Weise füllen können, die auch jenseits des islamistischen Spektrums anschlussfähig ist, erscheint angesichts der dargestellten Zusammenhänge eher fraglich. 1 Grundmann, J. (2009). Die gegenwärtige Entwicklung der Muslimbruderschaft. Neue Ideen aus dem islamistischen Spektrum?,.SIAK-Journal (3), 24 29. 2 Vgl. Rashwan, D. (ed.) (2006). The spectrum of Islamist movements, Berlin, 13. 3 Ebd., 16 ff. 4 Ebd., 21 23. 5 Ubayd, S. (2008). Tanzim al-qa ida, Kairo, 22 ff. 6 Grundmann, J. (2005). Islamische Internationalisten. Strukturen und Aktivitäten der Muslimbruderschaft und der Islamischen Weltliga, HECEAS Aktuelle Debatte (2), 48. 7 Ubayd, S. (2008). Tanzim al-qa ida, Kairo, 309 310. 8 Ebd., 28. 9 Ebd., 26. 10 Ebd. Als Ausnahme sind an dieser Stelle die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Muslimbrüdern und der syrischen Regierung Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre zu nennen. 11 Ebd., 170. 12 Ebd., 164 ff. 13 Ebd., 448. 14 Ebd., 448 449. 15 Interview mit Abu Muhammad al- Maqdisi, Al-Jazeera, Name der Sendung: Liqa al-yaum, ausgestrahlt am 06.07.2005. 16 Ebd. 17 Kazimi, N. (2006). Zarqawi s Anti Shi a legacy: Original or Borrowed?, in: Fradkin, H./Haqqani, H./Brown, E. (eds.) Current trends in Islamist Ideology (vol. 4), 53 73. 18 Ebd., 55. 19 Rashwan, D. (ed.) (2006). The spectrum of Islamist movements, Berlin, 316 ff. 20 Ebd., 342. 21 Ebd., 336. 22 Interview mit Abu Muhammad al- Maqdisi, Al-Jazeera, Name der Sendung: Liqa al-yaum, ausgestrahlt am 06.07.2005. 23 Interview mit Abu Muhammad al-maqisi, Al-Hayat, 10.07.2005, www.daralhayat. net, aufgerufen am 10.07.2005. 24 Vgl. hierzu Ziyadah, A. A response to western views of Islamist movements. www.ikhwanweb.info am 03.09.2007. 41