2. Songline und Archetypus 37

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Transkript:

2. Songline und Archetypus 37 2. Songline und Archetypus Die Psyche ist der Angelpunkt der Welt. 55 Der Begriff des Archetypus taucht schon in der Antike auf und kann mit dem Begriff der Idee bei Platon verglichen, wenn nicht gar synonym gesetzt werden. C.G. Jung, der den Begriff des Archetypus im 20. Jh. aktualisiert und für unsere Kultur neu geprägt hat, führt dazu ein Beispiel aus dem Corpus Hermeticum an, wo von einem Gott die Rede ist, der als das archetypische Licht bezeichnet wird. 56 Dieser Gott ist nicht das Licht selbst, sondern seine präexistente Möglichkeit, die Uridee des Lichts. Bei Platon finden wir im Parmenides eine Stelle, an der Sokrates von Parmenides dahingehend belehrt wird, dass nicht nur den hehren Dingen und Vorstellungen eine Idee zugrunde liegt, sondern auch dem Dreck und den unmoralischen und zu verachtenden Gedanken und Handlungen. 57 Ideen oder Archetypen sind also grundlegende und uneigentliche Formen, die Erkenntnis ermöglichen und damit die Weltkonstruktion präfigurieren. Keinesfalls darf man den Archetypus und die Idee in diesem Sinne mit der Welt 3 von Karl Popper verwechseln oder in Verbindung bringen. Denn die Welt 3 wird von intellektuellen Hervorbringungen bevölkert 58, nicht aber von unbewussten autonomen Komplexen. Bei Platon ist nicht so klar, wo sich die Ideen befinden. Sicher ist nur, sie existieren weitgehend unabhängig vom Menschen, müssen aber vom Menschen gedacht bzw. aktualisiert werden, um in die uns zugängliche Wirklichkeit zu treten. Eine Songline existiert ebenso wie eine Idee ohne Zutun des Menschen. Beide können sozusagen in der Traumzeit schlummern, bis sie von einem Menschen entdeckt und in die Realität geholt werden. Es können aber keine Dinge, Gedanken oder Handlungen in der Realität auftauchen, die nicht durch eine Idee, eine Songline ermöglicht werden. In diesen Punkten decken sich die Funktionen von 55 C G. Jung, Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen, S. 60 56 C G. Jung, Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus in: derselbe, Archetyp und Unbewußtes Grundwerk C.G. Jung, Band 2, hrsg.: Helmut Barz u.a., Walter Verlag, Olten/Freiburg im Breisgau, 1984, S. 143 57 Platon, Parmenides, in: derselbe, Sämtliche Werke, Bd. 2, übers.: Franz Susemihl, Berlin, Lambert Schneider, 1940, S. 491 58 Karl Popper, Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt, in: derselbe, Objektive Erkenntnis Ein evolutionärer Entwurf, Hoffmann & Campe, Hamburg, 1973, S. 133 W. Kuehs, Mythenweber, DOI 10.1007/978-3-658-09813-1_2, Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

38 2. Songline und Archetypus platonischen Ideen und australischen Songlines, was wir nebenbei als Hinweis auf die prinzipielle Ähnlichkeit des sogenannten wilden oder magischen und des sogenannten rationalen Denkens auffassen können. Jede Situation im Leben eines Aborigine ist durch einen Abschnitt einer Songline präfiguriert. Jede Handlung, selbst eine solche, die noch kein Mensch ausgeführt hat, ist durch einen Heros der Traumzeit schon in die Welt eingeschrieben. C.G. Jung sieht jene Präfiguration der Welt ins Psychische verlagert, wenn er sagt: Es gibt so viele Archetypen, als es typische Situationen im Leben gibt. Endlose Wiederholung hat diese Erfahrungen in die psychische Konstitution eingeprägt, nicht in Form von Bildern, die von einem Inhalt erfüllt wären, sondern zunächst beinahe nur als Formen ohne Inhalt, welche bloß die Möglichkeit eines bestimmten Typus der Auffassung und des Handelns darstellen. Wenn sich im Leben etwas ereignet, was einem Archetypus entspricht, wird dieser aktiviert, und es tritt eine Zwanghaftigkeit auf, die wie eine Instinktreaktion, sich wider Vernunft und Willen durchsetzt oder einen Konflikt hervorruft, der bis zum Pathologischen, das heißt, zur Neurose, anwächst. 59 In diesem Zitat sind weitere Merkmale des Archetypus angedeutet. Das Wesen des Archetypus besteht darin, ein Grundmuster zu bieten, aus dem sich Vorstellungen entwickeln können. Der Archetypus ist also kein mythologisches Motiv 60, keine Erzählung und auch kein Bild, sondern ein Grundmuster, ein unanschaulicher, autonomer psychischer Komplex. Dabei ist sich Jung im Laufe der Zeit durchaus mit sich selbst uneins, wie der Zusammenhang zwischen Instinkt und Archetypus zu definieren ist. In Instinkt und Unbewußtes, einem Vortrag, den Jung 1919 in London hält, erwähnt er zum ersten Mal den Begriff Archetypus. Hier stellt er Instinkt und Archetypus als einander wechselseitig bedingend dar. Der Archetypus sei die Anschauung des Instinktes von sich selbst bzw. die Selbstabbildung des Instinktes 61. Dabei versteht Jung unter Instinkt einen Vorgang, der in allen Kulturen und Gesellschaften in gleichmäßiger Regelmäßigkeit zu beobachten ist und der sowohl unbewusst als auch vererbt ist. 62 Die Instinkte seien typische Formen des Han 59 C G. Jung, Der Begriff des kollektiven Unbewußten, in: derselbe, Archetyp und Unbewußtes Grundwerk C.G. Jung, Band 2, hrsg.: Helmut Barz u.a., Walter Verlag, Olten/Freiburg im Breisgau, 1984, S. 120 60 C. G. Jung, Symbole und Traumdeutung in derselbe, Traum und Traumdeutung, dtv, München, 1997 8, S. 51f 61 C.G. Jung, Instinkt und Unbewußtes, in derselbe, Die Dynamik des Unbewußten, Gesammelte Werke Bd. 8, Rascher Verlag, Zürich/Stuttgart, 1967, S. 157 62 Ibid., S. 151

2. Songline und Archetypus 39 delns 63, wobei diese Formen nicht gelernt, sondern vorgefertigt zur Verfügung stehen. Für gewöhnlich unterstellt man den Menschen eine gewisse Freiheit von Instinkten. Der Mensch sei seinen Instinkten entfremdet und die Handlungen weitgehend der Willkür zugänglich. C.G. Jung bestreitet diese weit verbreitete Meinung und setzt ihr eine differenzierte Sichtweise entgegen. Die Instinkte seien quasi domestiziert, und durch Dressur oder durch kulturelle Gewohnheit kann der Wille, das Bewusstsein, teilweise Macht über die Instinkthandlung erlangen. Der Kern des Instinktes bleibe aber dennoch bestehen und beeinflusse unsere Entscheidungen, unser Tun und Lassen. 64 Die Archetypen ergänzen, oder besser spiegeln, die Instinkte dergestalt, dass sie als typische Formen der Auffassung 65 erscheinen. Sie sind ebenso stereotyp, vererbt, und auch sie treten in allen Gesellschaften auf. Sie sind sozusagen das mentale Gerüst, an das sich die Instinkte anlehnen und an dem sie gedeihen. Im hier zitierten zweiten Band des Grundwerkes findet sich der Aufsatz Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen aus dem Jahr 1947, worin Jung seine Position deutlich korrigiert und weiterentwickelt. Jung definiert die Psyche nun als eine Ganzheit aus bewussten und unbewussten Inhalten und teils autonomen Komplexen. Die Instinkte reiht Jung hier in den Bereich der Triebstruktur und die Archetypen in den Bereich des Geistes ein: Archetypus und Instinkt bilden die denkbar größten Gegensätze, wie man unschwer erkennen kann, wenn man einen Menschen, der unter der Herrschaft der Triebe steht, mit einem vergleicht, der vom Geist besessen ist. 66 Diese Zweiteilung meint keine Trennung der Wirkungsbereiche von Instinkt und Archetypus. In Wahrheit sind beide Energiepotentiale des Unbewussten vom Standpunkt des Bewusstseins aus schwer zu unterscheiden, und die Aktivierung eines Archetypus kann ebenso zu katastrophalen Ergebnissen führen wie der Absturz des Bewusstseins in die Triebhaftigkeit. Die Betonung des Instinktes und damit der Triebsphäre ist im ersten Aufsatz von 1916 sicherlich noch der engen Zusammenarbeit mit Sigmund Freud geschuldet. Freuds unbestreitbares Verdienst ist es, uns auf die Macht dieser unbewussten Komplexe aufmerksam gemacht zu haben. Jungs Entdeckung der Archetypen als innerpsychische Phänomene öffnete den Weg zu einer Tiefenpsychologie des Geistes. Der Inhalt des Bewusstseins und vor allem geistige Errungenschaften werden in Jungs Analytischer Psychologie nicht mehr auf die Subli 63 Ibid., S. 156 64 C.G. Jung, Instinkt und Unbewußtes, S. 155 65 Ibid., S. 158 66 C G. Jung, Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen, S. 48

40 2. Songline und Archetypus mierung von Triebenergie zurückgeführt. Ganz im Gegenteil scheinen die Archetypen geradezu den Weg zu einer Entwicklung des Bewusstseins zu öffnen. Die Archetypen greifen in das persönliche und kollektive Bewusstsein korrigierend und kompensierend ein. Diese Kompensation und Korrektur sorgen aber nicht immer für Stabilität oder gar für die Wiederherstellung eines verlorenen Zustandes. Die Archetypen sind in ihrer Wirkung im Gegensatz zu den Trieben nicht ausschließlich konservativ. Jung konnte in seiner praktischen Arbeit feststellen, dass Archetypen gerade dann auftreten und machtvoll in das Leben von Individuen eingreifen, wenn sich das Ich zum Selbst zu wandeln beginnt. Jung nennt diesen Vorgang Individuation. Im Individuationsprozess verschiebt sich das Zentrum der Psyche vom Ego hin zu einer neuen Mitte, die Jung als Selbst bezeichnet. Damit gelangt das Individuum zu einem höheren Grad der Bewusstheit, weil es zahlreiche unbewusste Anteile an das Bewusstsein angegliedert hat. Außerdem verliert das Ego seine angebliche Führerschaft der Psyche an das Selbst, dass zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten liegt. Jung definiert das Selbst als Totalität der bewussten und unbewussten Psyche 67. Aber nicht nur in der individuellen, sondern auch in der gesellschaftlichen Entwicklung üben Archetypen ihre Wirkung aus. Das lässt sich besonders deutlich anhand ideologischer Erzählungen zeigen. Alle Ismen, so philosophisch und intellektuell unterfüttert sie uns auch erscheinen mögen, lassen sich auf Archetypen bzw. die Wirkung von Archetypen zurückführen. Der irrationale und dunkle Anteil all dieser Konstrukte ist ein starker Hinweis darauf, dass der Schatten, der inferiore und chthonische Anteil, weder in das Selbst noch in die Semiosphäre erfolgreich integriert ist. So sieht Jung in der Barbarei und den Verbrechen der Nazis den Ausbruch eines oder mehrerer Archetypen, und überhaupt scheint ihm der Tumult des 20. Jahrhunderts in einem Aufruhr der Unterwelt begründet zu sein. Nicht der Schlaf der Vernunft, wie bei Goya, sondern die Abspaltung des Numinosen gebiert Ungeheuer. 68 Archetypus und Songline, platonische Idee und unbewusste, autonome Komplexe scheinen in gewisser Weise das gleiche Phänomen zu bezeichnen. Nur im Fall der Archetypen sind die präexistierenden Formen ins Innere der Psyche verlagert. Ebenso wie die Ideen und die Songlines keine ausgestalteten Erzählungen sind, so sind auch die Archetypen keine Bilder oder mythologischen Motive. Archetypen sind nicht inhaltlich, sondern bloß formal bestimmt 69, ein Archetypus ist ein an sich leeres, formales Element, [ ] eine a priori gegebene Möglichkeit der Vorstellungsform 70. 67 C. G. Jung, Traum und Traumdeutung, S. 254 68 Ibid., S. 77 69 C G. Jung, Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus, S. 147 70 Ibid. S. 147f

http://www.springer.com/978-3-658-09812-4