Allgemeinmedizin und Medizinstudium: Zwischen Lehre und Unterricht



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Transkript:

Allgemeinmedizin und Medizinstudium: Zwischen Lehre und Unterricht Impulsreferat AGAM-Workshop in Ratsch/Südsteiermark Samstag, 28. Juni 2008 Frank H. Mader, Nittendorf/Bayern Frank H. Mader 1

Nittendorf München Frank H. Mader 2

Gliederung: AGAM-Workshop, 28.6.2008 1. Grundlagen und Definition der Allgemeinmedizin 2. Ausbildungskonzepte, Lernziele 3. Lehren und unterrichten Allgemeinmedizin am Beispiel der Med. Uni. Graz (externe Beobachtung) Frank H. Mader 3

Herr Mader, das ist ja nett, aber strengen Sie sich nicht so an! Hier will ja eh niemand Allgemeinarzt werden. Ein Student des 10. Klinischen Semesters nach einem Kleingruppenseminar. München 1999 Frank H. Mader 4

Frank H. Mader 5

Entwicklung der Allgemeinmedizin in Deutschland 1950 Diskussion Weiterbildung zum Praktischen Arzt 1962 Freiwillige Weiterbildung zum Allgemeinarzt 3 Jahre 1966 Erster Lehrauftrag Allgemeinmedizin (Freiburg) 1968 Freiwillige Weiterbildung zum Allgemeinarzt 4 Jahre 1989 Obligate Weiterbildung zum Allgemeinarzt 3 Jahre 1989 Allgemeinmedizin obligator. Lehr- u. Prüfungsfach 1991 Facharzt für Allgemeinmedizin (DDR 1967!) 1999 Obligate Weiterbildung zum Allgemeinarzt 4 Jahre 1995 Lehrauftrag Allgemeinmedizin an der TU München 2002 Allgemeinmedizin gleichwertiges Hauptfach in Deutschland - Blockpraktikum in Hausarztpraxen - Staatsexamensfach - fak. Tertial Praktisches Jahr 2003 Verschmelzung der Weiterbildung Allgemeinmedizin/ Innere Medizin, 5 Jahre 2008/9 Lehrstuhl Allgemeinmedizin TU München Frank H. Mader 6

Hausarzt Bedrohung/Notfall Klinik Langzeitbetreuung Hausarzt Frank H. Mader 7

Grundlagen und Definition der Allgemeinmedizin Frank H. Mader 8

Grundlagen und Definition der Allgemeinmedizin Der wichtigste medizinische Bereich ist die Innere Medizin, mit weitem Abstand gefolgt von Chirurgie, Dermatologie, Neurologie und HNO. (Häussler 1969) Frank H. Mader 9

Grundlagen und Definition der Allgemeinmedizin V. Braun 2003 Frank H. Mader 10

Grundlagen und Definition der Allgemeinmedizin Zusammenschau der Häufigkeiten von verschiedenen Entitäten (Krankheiten, Syndrome, Beratungsergebnisse) in Weltliteratur, ICD-10, 30 Praxisjahren und alljährlich in einer Hausarztpraxis (Braun 1988b; Mader 1992) Frank H. Mader 11

Grundlagen und Definition der Allgemeinmedizin Frank H. Mader 12

10% 40% 25% 25% A - Symptome B - Symptomgruppen C - Krankheitsbilder D - Diagnosen Die 4 Möglichkeiten der Klassifizierung von allgemeinmedizinischen Beratungsergebnissen ( A, B, C bzw. D) und ihr Anteil im langjährigen Durchschnitt des Krankengutes in der Allgemeinpraxis Frank H. Mader 13

Frank H. Mader 14

Entscheidungsfindung Die Entscheidungsfindung in der Allgemeinmedizin wird im wesentlichen von zwei Faktoren bestimmt: dem (möglichen) abwendbar gefährlichen Verlauf (AGV) dem abwartenden Offenlassen (AO) (Mader 2000) Frank H. Mader 15

Abwendbar gefährlicher Verlauf (AGV) Abwartendes Offenlassen (AO) Frank H. Mader 16

Die häufigsten von 144 zu bedenkenden bzw. auszuschließenden Abwendbar gefährlichen Verläufen (AGV) innerhalb der 300 regelmäßig häufigen allgemeinärztlichen Beratungsergebnisse Häufigkeit 58 13 9 7 6 6 6 5 4 4 4 4 4 4 3 3 3 3 3 Beratungsergebnis Malignome Diabetes mellitus Herzinfarkt Depression Fremdkörper Peptisches Ulkus Tuberkulose Psychosen Appendizitis Herzinsuffizienz, akut/chronisch Hyperthyreose Intrakranielle, subdurale Blutung/Hämatom Lungenembolie Pneumonie Adam-Stokes-Anfall AVK Fissur/Fraktur Hörsturz Thrombose Mader 1997 Frank H. Mader 17

Grundlagen und Definition der Allgemeinmedizin 1. Die Allgemeinmedizin ist eine eigenständige ärztliche Funktion und Gegenstand einer spezifischen Grundlagenforschung. 2. Ihre Ausübung basiert sehr wesentlich auf dem von den Spezialfächern geschaffenen Wissen über Krankheiten und Syndrome. 3. In der allgemeinärztlichen Praxis laufen die spezifische Diagnostik, Behandlung und Beratung durchschnittlich in wenigen Minuten ab, ohne dass nötigenfalls auf aufwendige technische Mittel verzichtet werden muss. 4. Nur in jedem zehnten Fall kommt es zu einer exakten Diagnosestellung; dennoch lässt sich die große Mehrheit der Fälle zufriedenstellend versorgen. 5. Das ärztliche Vorgehen ist dabei überwiegend individuellintuitiv. R. N. Braun, F. H. Mader (2000) für die 259. Auflage, die 260. Auflage (2004) sowie für die 261. Auflage (2007) des Pschyrembel Frank H. Mader 18

Grundlagen und Definition der Allgemeinmedizin Die fünf Säulen der Allgemeinmedizin 1. Das unausgelesene Krankengut 2. Die Fälleverteilung 3. Die prozessorientierte Klassifizierung 4. Die biopsychosoziale Gesamtschau 5. Das problem- und patientenorientierte Handeln (Mader 1998) Frank H. Mader 19

Grundlagen und Definition der Allgemeinmedizin Konzept Allgemeinmedizin. Die Theorie steht im Mittelpunkt aller Überlegungen. Frank H. Mader 20

Ausbildungskonzepte, Lernziele Veränderte Anforderungen in der medizinischen Versorgung Gestiegene Lebenserwartung des Menschen Bewältigung der Gesundheitsprobleme weniger durch medizinische Fortschritte als durch Verbesserung der berufspraktischen Ausbildung: - mehr Allgemeinmedizin in Studium und Prüfungen (inkl. Staatsexamen!) - Praktikum in Allgemeinmedizin - fak. 4 Monate Allgemeinmedizin im Praktischen Jahr Approbationsordnung 2002 Frank H. Mader 21

Ausbildungskonzepte, Lernziele Das Spektrum der Krankheiten wandelt sich. Chronische Krankheiten nehmen zu. Deshalb braucht die Medizin nicht nur den hoch spezialisierten Facharzt, sondern auch den gut ausgebildeten Generalisten, der Kooperation und Kommunikation in der Medizin gewährleistet Die Allgemeinmedizin hat inzwischen international anerkannt einen eigenen Stellenwert im Rahmen der Patientenbehandlung erworben. Sie ist vom Umfang der Patientenversorgung zumindest gleichgewichtig, wenn nicht bedeutsamer als die Fachgebiete Approbationsordnung 2002 Frank H. Mader 22

Ausbildungskonzepte, Lernziele Lernzielkatalog Allgemeinmedizin TU München (31.5.2005) Präambel: Die akademische Lehre in Theorie und Praxis im Gebiet der Allgemeinmedizin soll es den Medizinstudenten der Technischen Universität München ermöglichen, Einblicke in Versorgungsauftrag, Struktur und Versorgungswirklichkeit der hausärztlichen Medizin zu gewinnen, sich mit den spezifischen Funktionen des Hausarztes und seiner Handlungszwänge vertraut zu machen, die unterschiedlichen Vorgehensweisen zwischen ambulanter und stationärer Medizin einschl. der Schnittstellenproblematik zu reflektieren, in allgemeinärztlichen Kernbereichen geschult zu werden, beispielsweise in der qualitätsorientierten Primärversorgung des unausgelesenen Krankenguts, in der ärztlichen Gesprächsführung, in den spezifischen Untersuchungstechniken, in der Einschätzung von Erkrankungen und Krankheiten im Hinblick auf abwendbar gefährliche Verläufe und psychosoziale Aspekte, in der Langzeitbetreuung chronisch kranker und/oder älterer Menschen sowie in der Notfallversorgung an der ersten ärztlichen Linie, definierte Kompetenzen in der ambulanten hausärztlichen Versorgung zu erwerben. Frank H. Mader 23

Ausbildungskonzepte, Lernziele Lernziele Allgemeinmedizin im Rahmen der Interdisziplinären Vorlesung TU München (31.5.2005) In der interdisziplinären Vorlesung werden ausgehend von konkreten Praxisfällen exemplarisch folgende Lernziele erarbeitet: Der Student wendet die Erkenntnisse der allgemeinmedizinischen Berufstheorie nach Robert N. Braun auf den jeweiligen Praxisfall an, kennt die für den konkreten Fall wichtigsten Schritte in Anamnestik und Diagnostik unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der evidence based medicine, erklärt die Grundzüge des therapeutischen Vorgehens der in der Kasuistik geschilderten Erkrankung einschließlich pharmakologischer Grundkenntnisse des für diese Indikation wichtigsten Medikaments. Frank H. Mader 24

Cave Mystifizierung von Lernzielen H. v. Hentig 2006 Frank H. Mader 25

Ausbildungskonzepte, Lernziele (Memo) Die Zuwendung zum Praktischen als Flucht vor dem Theoretischen ist ein bedenkliches Missverständnis (Hartmann 1984). Die Allgemeinpraxis ist das Labor der Allgemeinmedizin (R. N. Braun). Der allgemeinmedizinische Unterricht ist kein Ersatz für Ausbildungsdefizite der klinischen Fächer (Mader). Die Allgemeinpraxis darf für den Medizinstudenten kein Abenteuerspielplatz sein! (Mader 2000) Allgemeinmedizin ist nicht allgemeine Medizin! Der allgemeinärztliche Lehrer darf nur das lehren, was unzweifelhaft originäre Allgemeinmedizin ist! (Mader 2000) Frank H. Mader 26

I never teach my students, I only provide the conditions in which they can learn. Albert Einstein (1879 1955) German-born theoretical physicist Frank H. Mader 27

Lehren und Unterrichten Seit 2002 in Deutschland: 22 Hauptfächer (eines davon Allgemeinmedizin!) wenig Vorlesungen, viele Seminare und Praktika schriftliche und mündliche Prüfungen und Staatsexamens-Prüfung am Fall Frank H. Mader 28

Lehren und Unterrichten Die Allgemeinmedizin ist seit 2002 in Deutschland Prüfungsfach im Rahmen der obligaten Lehrangebote während der einzelnen Semester, ebenso innerhalb des Wahlpflichtfaches im schriftlichen Teil des großen Abschlussexamens am Ende des Studiums. Das Staatsexamenszeugnis sieht seit 2002 neben einer Gesamtbenotung der Leistungen auch die Aufführung der einzelnen Hauptfächer, also auch der Allgemeinmedizin, mit Ausweisung der Noten im schriftlichen und praktischen Teil vor. Frank H. Mader 29

Lehrleistung Allgemeinmedizin an der TU München Semester Lehrangebot h/jahr 1 Berufsfelderkundung 4 5/6 Interdisziplinäre Vorlesung 20 7/8 Querschnittsbereiche 8 7/8 Blockpraktikum (Einführung/ 112 Ausleitung) 9/10 Pflicht-Wahlfächer Allgemeinmedizin 2 x 64 Gesamt: 272 Zusätzlich: 11/12 Fak. Tertial (= 4 Monate) Allgemeinmedizin im Praktischen Jahr (PJ) mit Einführung, Berufsbegleitung und Ausleitung Frank H. Mader 30

Lehre: Vermittlung von speziellen Kenntnissen und Ergebnissen aus Theorie und Praxis auf der Basis von fachspezifischen Forschungsergebnissen in der Regel im frontalen Lehrer-Schüler- Verhältnis. (Versuch einer Definition, Mader 2008) Frank H. Mader 31

Unterricht: Vermittlung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten mit praktischem Bezug im interaktiven Lehrer-Schüler-Verhältnis (Versuch einer Definition, Mader 2008) Frank H. Mader 32

Alles Lehren ist Problemlösen. (Mader n. Popper 2003) Frank H. Mader 33

Der Unterricht wendet sich nicht an die Hervorragendsten, nicht an die Mittelmäßigen, sondern an diejenigen, die des Aufschwungs und der Initiative fähig sind, aber des Unterrichts bedürfen. Karl Jaspers Die Idee der Universität Berlin 1946 Frank H. Mader 34

Was soll im Fach Allgemeinmedizin gelehrt/ unterrichtet werden? Behebung von Ausbildungsdefiziten in den großen Fächern? Abenteuerspielplatz für Studenten, die durch die Praxisferne des Medizinstudiums frustriert sind? Das idyllische Bild des guten alten Hausarztes? Ein bunter Querschnitt: Von jedem ein bisschen? Standes- und Berufspolitik? Komplementäre, paramedizinische alternative Heilmethoden? Der Pastor in Weiß? Allgemeine Medizin oder Allgemeinmedizin? (Abholz 1995, Mader 1999) Frank H. Mader 35

Nicht-originäre allgemeinmedizinische Themen: Allgemeine heilkundliche Themen Import-Themen Neodisziplinäre Themen Frank H. Mader 36

Allg. heilkundl.themen Import-Themen Neodisziplinäre Themen - der schwierige Patient - Arzt-Patienten-Beziehung -Kommunikation - Familienmedizin -Prävention -Qualitätsmanagement -EbM - Physikal. Medizin -Chines. Medizin - Ernährungsmedizin - Sonographiekurs - Pig. Hautveränderungen -Reisemedizin - Palliativmedizin - Geriatrie - Komplementärmedizin - Naturheilkunde Frank H. Mader 37

Der Allgemeinarzt ist der Spezialist für das eher Unausgelesene das eher Unspektakuläre das eher Unscharfe das eher Uncharakteristische Vieles sieht zwar aus wie in den Lehrbüchern, aber was ist es wirklich? (Mader 1998) Frank H. Mader 38

Allgemeinmedizin = Facharzt für das Uncharakteristische und Atypische Bei Dominanz der Beschwerden allgemeiner Art wird zu 60 % ein Hausarzt aufgesucht. Im Gegensatz dazu geht der Patient in 30 % der Fälle zu einem Facharzt, wenn er konkret und klar nachvollziehbare organbezogene Symptome beobachtet. Quelle: Wissenschaftliches Institut der Ortskrankenkassen, 1999 Frank H. Mader 39

Welchem Fachgebiet gehören Ihrer Meinung nach die folgenden Beratungsprobleme an? Mammaknoten schulschwaches, blasses Kind Orgasmusstörung Perianalekzem Bauchweh Kopfschmerzen Dekubitus Trauerreaktion nächtlicher Verwirrtheitszustand Alkoholismus Schlafstörung Schnupfen und Halsweh Frank H. Mader 40

Algorithmen in der Allgemeinmedizin Versuchen Sie, spontan das Beratungsproblem Ihres Patienten folgenden Überlegungen zuzuordnen: 1. Eher leicht eher schwer? 2. Eher häufig eher selten? 3. Eher akut eher chronisch? 4. Eher somatisch eher psychisch? 5. Möglicher abwendbar gefährlicher Verlauf? 6. Ggf. abwartendes Offenlassen? Wie lange? 7. Sofort überweisen zuwarten? (Mader 1999) Frank H. Mader 41

Konsequenz Allgemeinmedizinische Forschung (idealiter) Es muss da geforscht werden, wo das Charakteristische der Allgemeinmedizin ist, nämlich das Uncharakteristische, Unscharfe. (Mader 2000) Frank H. Mader 42

Allgemeinmedizinische Lehre (idealiter) Es darf in der Allgemeinmedizin nur das gelehrt werden, was aus originärer berufstheoretischer und berufspraktischer Forschung kommt Spezialistisches und Superspezialistisches nur dann, wenn es für das konkrete Beratungsproblem wesentlich - zielführend und/oder - handlungsleitend ist. (Mader 2000) Frank H. Mader 43

Der reformierte Unterricht in der Allgemeinmedizin muss von der ärztlichen Wirklichkeit ausgehen (R. Koch 1917) und sich an den berufstheoretischen Grundlagen orientieren, denn Frank H. Mader 44

Nichts ist praktischer als eine gute Theorie. Immanuel Kant Königsberg 1724-1804 Frank H. Mader 45