Predigt zum Jahresfest 2014, 1. Mai 2014 2. Buch Mose, 2. Kapitel, Verse 1-10 OKR Johannes Stockmeier, Präsident Diakonie Deutschland Liebe Festgemeinde, herzlich grüße ich Sie alle zu diesem 160. Jahresfest der Diakonie Neuendettelsau. Über die Einladung zu diesem Fest habe ich mich aus 2 Gründen besonders gefreut: Zum einen deshalb, weil es mir viel bedeutet, an diesem Ort zu predigen. Habe ich mich doch schon als Student viel mit Wilhelm Löhe beschäftigt und der Erwerb der Gesamtausgabe war für mich damals eine Großinvestition, für die viel vom Erlös der Semesterferienarbeit draufging. Zum anderen: Im Jahr 1951 kommt in Weißenbrunn bei Kronach ein dreijähriger in den Kindergarten und so erzählen s ihm die Eltern dann bei der Konfirmation elf Jahre später dieses Kind ist begeistert von Tante Anna und ihrem Erzählen biblischer Geschichten. Tante Anna ist Neuendettelsauer Schwester, die den Dreijährigen mitnimmt in viele Geschichten der Bibel. Den damals Dreijährigen haben sie jetzt als 66-jährigen vor sich, der seine Aufgabe jetzt, die Erinnerung an Schwester Anna und das Motto des Jahresfestes, und die Predigtaufgabe als fröhliche Entdeckung zusammennimmt. "Leben gestalten durch Bildung" ich bin fest davon überzeugt, dass die mir durch Schwester Anna erzählte biblische Bildung mein Leben mehr gestaltet hat als ich das je durchschauen kann und durchschauen werde. So geht es in meiner Predigt auch um Dank an einem Ort, an dem Schwester Anna Auftrag und Sendung erhalten hat. Und es wird Sie überhaupt nicht wundern, dass ich jetzt in der Bibel auf eine Kindergeschichte mit ihnen hören will. Sie ist nachzulesen im zweiten Buch Mose im zweiten Kapitel in den Versen 1-10 - die Geschichte der Geburt von Moses und seine wunderbare Rettung.
1 Und es ging hin ein Mann vom Hause Levi und nahm ein Mädchen aus dem Hause Levi zur Frau. 2 Und sie ward schwanger und gebar einen Sohn. Und als sie sah, dass es ein feines Kind war, verbarg sie ihn drei Monate. 3 Als sie ihn aber nicht länger verbergen konnte, machte sie ein Kästlein von Rohr und verklebte es mit Erdharz und Pech und legte das Kind hinein und setzte das Kästlein in das Schilf am Ufer des Nils. 4 Aber seine Schwester stand von ferne, um zu erfahren, wie es ihm ergehen würde. 5 Und die Tochter des Pharao ging hinab und wollte baden im Nil, und ihre Gespielinnen gingen am Ufer hin und her. Und als sie das Kästlein im Schilf sah, sandte sie ihre Magd hin und ließ es holen. 6 Und als sie es auftat, sah sie das Kind, und siehe, das Knäblein weinte. Da jammerte es sie und sie sprach: Es ist eins von den hebräischen Kindlein. 7 Da sprach seine Schwester zu der Tochter des Pharao: Soll ich hingehen und eine der hebräischen Frauen rufen, die da stillt, dass sie dir das Kindlein stille? 8 Die Tochter des Pharao sprach zu ihr: Geh hin. Das Mädchen ging hin und rief die Mutter des Kindes. 9 Da sprach die Tochter des Pharao zu ihr: Nimm das Kindlein mit und stille es mir; ich will es dir lohnen. Die Frau nahm das Kind und stillte es. 10 Und als das Kind groß war, brachte sie es der Tochter des Pharao, und es ward ihr Sohn und sie nannte ihn Mose; denn sie sprach: Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen. Was wir da gerade gehört haben hat eine furchtbare Vorgeschichte: im ersten Kapitel der Befehl des Pharao an die hebräischen Hebammen: "Wenn ihr den hebräischen Frauen helft und bei der Geburt seht, dass es ein Sohn ist, so tötet ihn " Wenig später dann noch die Verschärfung: "Da gebot der Pharao seinem ganzen Volk und sprach: Alle Söhne, die geboren werden, werft in den Nil ".
Kindergeschichten in der Bibel, die zeichnen sich allemal dadurch aus, dass in ihnen Glück und Bedrohung von Kindern und ihren Müttern und Vätern geradezu aufeinanderprallen. Bewegende und verstörende Geschichten. Die Mutter Samuels, Hanna: Sie jubelt zu Gott über die Geburt ihres Sohnes. Auch Väter kommen zu Wort: Zacharias, der das Wunder gar nicht fassen kann, dass seiner Frau Elisabeth und ihm ein Kind geschenkt wird. Im härtesten Gegensatz dazu die anderen Geschichten. Die aus 2. Mose 6. Grausam der Bericht über den Kindermord in Bethlehem. Im Hören auf Gotteswort bleibt es immer eine Zumutung, dieser unerträglichen Spannungen zwischen dem Jubel der Hanna und dem Mordbefehl des Herodes nicht davonzulaufen. Aber in dieser Welt leben wir. Mittendrin in dieser Welt sind wir gefordert zu wirksamen Antworten. Zu Ideen. Zu jeder nur erdenklichen Anstrengung, die den Kindern zu Liebe und Recht verhilft 2. Mose 2 uralte Geschichte aus fernster Vergangenheit? Was der internationale Gerichtshof in Den Haag in Kriegsverbrecherprozessen ans Licht hebt, hat immer zu tun mit der Bedrohung und Ermordung von Kindern, mit Exzessen an schwangeren Frauen und Säuglingen. Mit Gewalt, die sich auf die Wehrlosesten stürzt. Zwei gibt es in unserer Geschichte, die sich solcher Gewalt und solcher Bedrohung widersetzen. Namenlos bleiben sie in dieser Geschichte, damit durch alle Zeiten andere Namen in dieser Geschichte ihren Platz finden können. In dieser Bedrohung erlebt eine Mutter Schwangerschaft und Geburt mit Notlage hoch fünf. Und: Wie soll es danach weitergehen?
"Und als sie sah, dass es ein feines Kind war, verbarg sie ihn drei Monate " Drei Monate! Das wäre nie zu schaffen gewesen ohne andere, ohne fremde Hilfe. Ohne den riskanten Willen dieser Mutter, dieses Kind unter keinen Umständen angesichts aller Bedrohungen im Stich zu lassen. Das wäre nie zu schaffen gewesen ohne die Bereitschaft anderer, die gesagt haben: "Ich helfe. Alleine ist das nicht zu schaffen". Vermutlich wird in der Umgebung der Mutter auch anderes zu hören gewesen sein: Frauen und Männer, die nicht mit Hilfe, sondern mit Vorwürfen dabei waren: "Unmöglich in diesen Zeiten ein Kind in die Welt zu setzen. Soll die doch selber auslöffeln, was sie sich da eingebrockt hat!" Noch einmal: alte Geschichte? Es ist erschütternd, sich von Mitarbeitenden der Jugendhilfe erzählen zu lassen welche entsetzlichen Geschichten von Beschimpfungen, Niederträchtigkeiten und Vorwürfen Achtjährige schon in ihrer Lebensgeschichte drin haben. Es ist erschütternd, sich von Eltern eines Kindes mit Down-Syndrom erzählen zu lassen mit welchen - natürlich subtil verpackten - Vorwürfen sie zu leben haben. Es ist erschütternd, sich von Mitarbeitenden in der Schwangeren-Konfliktberatung erzählen zu lassen welche Vorwürfe, zum Teil Niederträchtigkeiten sich schwangere Frauen im Jahr 2014 in unserer Republik anzuhören haben. In unserer Geschichte aus Mose 2 geht es dramatisch weiter: "Als sie ihn aber nicht länger verbergen konnte " ahnen wir, wie viel Not und Verzweiflung hinter diesem kleinen Hinweis stehen? Sind unsere Ohren hörfähig für das Verrücktwerden dieser Frau, jetzt eine Entscheidung fällen zu müssen? Sind wir an der Seite dieser Frau, die ihr Kind aufgibt, um es vielleicht so retten zu können? Das Kästlein von Rohr, das Moses-Körbchen in der Bibel ist das kein kuscheliges Schmusekörbchen sondern die Bastelkiste letzter Verzweiflung.
Ihr bleibt nur noch eins: " und sie legte das Kind hinein und setzte das Kästlein in das Schilf am Ufer des Nils " Haben wir genug Sehschärfe für dieses Bild? Für all die Kästlein, die uns in unserer Lebensgeschichte, unseren Berufen da entgegenschwimmen. Haben wir Augen und Ohren für alle Hilflosigkeiten die uns entgegenkommen? Das Bild geht dann ja weit über das Kind hinaus: Väter, Mütter, Mitarbeitende in Jugendämtern - die einfach nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll. Große Kinder und erwachsen gewordene Kinder, die nicht mehr weiterwissen mit der Pflege der dementen Mutter oder des dementen Vaters. Soll ich noch lang und breit predigen wie viele "Kästlein von Rohr" auf jedes Haus hier in der Neuendettelsauer Diakonie immer neu zuschwimmen? In diese weite Frage hinein die zarte und herzliche Fortsetzung von Bewahrung und Rettung in unserer Geschichte. Zu hören auch als einfache und wunderbare Geschichte zu allem, wozu Solidarität in der Lage ist. Noch einmal: Pharao und Pharaos Tochter schärfer kann ein Kontrast kaum ausfallen. Der Pharao "Weg mit den Kindern". Seine Tochter "Komm her, mein Kleiner " Was die Frauen da zu Wege bringen ist nicht weniger als der gute Ausgang einer bösen Geschichte. Es rührt das Herz an, wie genau das alles erzählt wird. Wie das Beobachten von Ferne, die wachen Augen der Pharaotochter, die Auskunftsfähigkeit der Schwester des Kindes und die verblüffende Regelung der ersten Versorgungsphase hier so ineinandergreifen. Und Gott? Haben Sie das vorhin überhaupt bemerkt, dass von dem in dieser ganzen Geschichte nicht ein einziges Mal die Rede ist? Keine Spur von einem Eingreifen seinerseits. Kein Hinweis auf die Beeinflussung der Akteurinnen durch welche Wege Gottes auch immer.
Und bevor wir jetzt den Bogen gleich weit hinaus ziehen wohl wissend, was es mit diesem geretteten Kind dann später für die Geschichte Gottes mit dem Volk Israel und mit allen Menschen auf sich haben wird wohl wissend welche überragende Gestalt das aus dem Wasser gezogene Kind dann sein wird für alles, was von diesem Gott dann noch zu erzählen sein wird. Bevor wir in einem Wissen ankommen, das schon längst alles weiß: Lassen Sie uns noch einmal kurz Halt machen. Verstehen wir die Botschaft des Erzählers dieser Geschichte, der in dieser ganzen Dramatik Gott außen vor lässt? Hören wir ihm genau genug zu, was er uns damit sagen will, dass Gott in allem, was hier geschieht, gar nicht eigens erkennbar wird? Entdecken wir so, was hier zu allererst von der Verantwortung, dem Zutrauen, genauso wie dem Erschrecken von und über Menschen erzählt wird? Die Geschichte sagt uns: tut was. Gebt nicht auf. Nie. Ergreift Initiative, macht keine Vorwürfe, sondern helft, überlegt. Lasst euch inspirieren von diesen Frauen. Geht an der Verzweiflung dieser Mutter nicht achtlos vorüber. Begreift eure Zuständigkeit für jedes Kästchen, das euch entgegen schwimmt, und für alle Verzweiflung und Hoffnung, die damit verbunden ist. Achtet unter euch auf die Leute im Schilf, die tagtäglich übersehen werden und doch volle Arbeit leisten. Ich danke den Frauen und Männern, die in der Jugendhilfe Kinder nicht aufgeben, obwohl oft so vieles zum Verzweifeln ist. Ich danke den Erzieherinnen und Erziehern, die sehr direkt dieser Geschichte auf der Spur sind, wenn sie morgens die Arme ausbreiten und sagen: "Komm her mein Kleiner - Komm her meine Kleine". Ich danke den Mitarbeitenden in der Sozialarbeit, die ausweglosen Situationen nicht davonlaufen, sondern das Dichtungsmaterial suchen, mit denen vor dem Ertrinken in der Not bewahrt wird. Ich danke allen Mitarbeitenden in der Pflege, die sich täglich neu mit Leib und Seele auf ihre Arbeit einlassen. Mit allen Hilflosigkeiten barmherzig und liebevoll umgehen.
Gebe uns Gott diese Geschichte so mit auf unsere Wege, dass wir auch unseren Geschichten ein gutes Ende zutrauen. Dass wir Verzweiflung nie sich selbst überlassen. Dass wir die Angst davor verlieren, die Schilfkästen in die eigenen Hände zu nehmen. Und das Wichtigste: dass wir diese Geschichte mitnehmen in unsere Hoffnung und in unser Glauben und in unser Tun. Zugegeben: Schwester Anna würde vielleicht ein wenig verwundert sein, was aus der von ihr bestimmt einmal erzählten Geschichte bei dem 66-jährigen im Jahr 2014 so geworden ist. Dabei ist noch viel mehr in dieser Geschichte zu entdecken, und es fällt mir richtig schwer, dem nicht weiter nachzugehen. Aber ich vertraue darauf: diese Geschichte wird bei uns allen im Ohr bleiben und vor Augen. Und sie wird den Weg finden zu unserem Herz und zu den Händen und wenn's sein muss auch zum Geldbeutel. Sie wird uns begleiten und uns noch viel zu sagen haben: auch nach dem Amen des Predigers heute. Amen OKR Johannes Stockmeier, Präsident Diakonie Deutschland