Prävention von schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen. Rechtspsychologische und kriminalpräventive Ansätze



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Transkript:

Prävention von schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen Rechtspsychologische und kriminalpräventive Ansätze Dietmar Heubrock, Tobias Hayer, Stephan Rusch & Herbert Scheithauer Zusammenfassung Verschiedene Formen schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen stellen für kriminalpräventive Ansätze eine große Herausforderung dar. Der Beitrag untersucht bisher entwickelte Präventionsansätze zur Verhinderung von Amoktaten und zumeist gemeinschaftlich begangenen Gewalttaten gegen einzelne Personen in der Schule. Während die mit der Verschärfung des neuen Waffengesetzes verbundenen Zielsetzungen generell den Zugang zu gefährlichen Waffen erschweren, sind die direkte oder verdeckte Ankündigung geplanter Gewalttaten ( Leaking ) sowie psychosoziale Persönlichkeitsund Verhaltensprofile von Schulgewalttätern eher zur einzelfallbezogenen Gefährdungsanalyse geeignet. Abstract Various forms of serious targeted violence in schools pose an enormous challenge to the prevention and managing of criminal behavior. Assessment and intervention approaches are described focussing on amok and commonly committed violent crimes in schools. Since the novel German gun law is primarily directed to limit the general access to dangerous weapons, both direct and non-direct forms of announcing premeditated violence ( leaking ) and psychosocial profiling of possibly dangerous pupils make individual threat assessment more possible. Schulgewalt, Amok, Gefährdungsanalyse, Ankündigung von Gewalthandlungen, jugendliche Gewalttäter, zielgerichtete Gewalt school violence, school shootings, threat assessment, leaking, adolescent offenders, targeted violence 1

1 Einleitung Schwere Gewalttaten, die von Schülern ausgehen und im Kontext der Schule vollzogen werden, haben nicht nur in den USA, sondern spätestens seit dem so genannten Amoklauf von Erfurt auch hierzulande die Öffentlichkeit alarmiert. Die Vielfalt der Erscheinungsformen schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen wurde in jüngster Vergangenheit durch die Vorkommnisse an einer Hildesheimer Berufsschule deutlich, bei denen es weder zur Anwendung von Schusswaffen gekommen noch waren Todesopfer zu beklagen. Vielmehr fand ein über viele Monate hinweg fortgesetztes Quälen und Demütigen eines Schülers durch seine Mitschüler statt (sogenanntes Bullying). Angesichts der immer wieder neu bekannt werdenden Ereignisse und ihrer unterschiedlichen Ausgestaltung besteht aufgrund des daraus resultierenden Handlungsdrucks in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion die Gefahr, Gewalt an Schulen als einheitliches Konstrukt zu behandeln und vorschnell für alle Gewaltformen gleichermaßen wirksame Gegenmaßnahmen zu fordern und schwere zielgerichtete Gewalttaten von Schülern in den Bereich der Jugendkriminalität einzuordnen (als Beispiel hierzu siehe Kasten 1). Kasten 1: Zeitungsbericht der Deutschen Presseagentur über eine gemeinschaftlich begangene schwere Gewalttat an einer Berufsschule in Hannover. KRIMIMALITÄT Schüler mit Gummihammer verprügelt Erneut monatelange Gewaltattacken an Berufsschule in Hannover. Vier 17-Jährige verprügelten einen Kameraden. Ein weiterer Schüler soll ein Mädchen sexuell belästigt haben. HANNOVER/DPA Nach dem monatelangen Martyrium eines Hildesheimer Berufsschülers ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft in einer neuen Gewaltserie an einer Schule. Vier 17-Jährige an einer Berufsschule in Hannover sollen einen Klassenkameraden vier Monate lang verprügelt und dabei auch mit einem Gummihammer zugeschlagen haben, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft Hannover, Thomas Klinge, gestern. Die Täter sollen vor allem während des Unterrichts in einem Werkraum gegen ihre Opfer vorgegangen sein. Möglicherweise hätten Lehrer davon gewusst und sich nicht richtig verhalten, sagte Schulleiter Christian Postel. Die wegen der Prügeleien verdächtigen Schüler wurden am Montag vorläufig festgenommen, dann aber wieder auf freien Fuß gesetzt. 2

Für einen Haftbefehl habe es zunächst keine ausreichenden Gründe gegeben, hieß es. Es gebe aber Anhaltspunkte, dass andere Schüler von den Gewalttaten wussten, unter Zwang aber dicht halten mussten, sagte Klinge. Die Verdächtigen entschuldigten sich in der Berufsschule bei dem 16-jährigen Opfer, das sie malträtiert hatten, sagte die Sozialpädagogin der Schule, Anette Pundt. Die Beschuldigten, die alle in eine Klasse gingen, wurden bis zur Klärung der Gewalttaten vom Unterricht ausgeschlossen. Zuvor hatte es in der Schule ein Gespräch mit der betroffenen Klasse, dem Schulleiter und dem schulfachlichen Dezernenten der Bezirksregierung gegeben. Dabei hätten die Schüler wenig Unrechtsbewusstsein gezeigt, sagte eine Sprecherin der Bezirksregierung. Sie sähen Gewalt offenbar als etwas Alltägliches an. Ob gegen Lehrer ein Verfahren eingeleitet wird, war zunächst offen. Die Gewalttaten gegen den 16-jährigen Schüler beschränkten sich in der ersten Zeit auf Beschimpfungen und Rangeleien. Was zunächst als Ohrfeige begann, ist dann immer härter geworden, sagte Schulleiter Postel. Ein weiterer Schüler soll bei seiner 17-jährigen Mitschülerin das einzige Mädchen in der Klasse für Metallverarbeitung unter anderem eine Vergewaltigung nachgestellt haben. Dabei seien jedoch alle Beteiligten voll bekleidet gewesen. Postel kündigte an, einzelne Räume in Zukunft mit Videokameras zu überwachen. Kultusminister Bernd Busemann (CDU) will die Position der Pädagogen verbessern. Denkbar sei eine Verschärfung des Disziplinarkatalogs, um Lehrer wieder zu Respektspersonen zu machen. Zudem müsse die Polizei in den Schulen präsenter sein. Zielgerichtete Gewaltvorkommnisse an Schulen umfassen grundsätzlich jeden gezielten Angriff auf ein oder mehrere Opfer, bei dem das schulische Umfeld bewusst als Tatort auserkoren wird. Eine extreme Erscheinungsform dieses Gewaltphänomens stellt der Amoklauf dar. Hierunter versteht Hoffmann (2003) die intentionale Tötung und/oder Verletzung mehrerer Personen bei einem Tatereignis ohne Abkühlungsperiode, wobei einzelne Tatsequenzen im öffentlichen Raum stattfinden (S. 399). Um bewaffnete Angriffe durch Jugendliche zu beschreiben, die zielorientiert mit Tötungsabsichten und direktem Bezug zu einer bestimmten Schule (z. B. im Hinblick auf die Opferauswahl) begangen werden, wird im angloamerikanischen Sprachraum der Begriff des school shootings verwendet (Robertz, 2004 a, b). Im deutschen Sprachraum findet sich darüber hinaus in der Boulevardpresse oftmals der unpräzise Terminus Schulmassaker. Nicht unter schwere zielgerichtete Gewaltphänomene zu subsumieren sind einfache gewalttätige Handlungen im Rahmen interpersoneller Konflikte zwischen zwei Schülern. Ebenfalls davon abzugrenzen ist das so genannte Bullying unter Schülern, das in übergeordneter Weise alle systematisch und über einen längeren Zeitraum ausgeführte (physische, verbale und relationale) Erscheinungsformen der Gewalt bezeichnet, 3

denen eine besondere Täter-Opfer-Dynamik zugrunde liegt (Scheithauer, Hayer & Petermann, 2003; Smith, Pepler & Rigby, 2004). Genauere Analysen schwerer zielgerichteter Gewalttaten an Schulen zeigen nunmehr, dass sich hinsichtlich der Täterpersönlichkeiten, der Tatumstände und -abläufe und der Folgen für Täter und Opfer verschiedene Äußerungsformen unterscheiden lassen, die differenzierte Präventionsansätze erforderlich machen und auch ermöglichen (siehe Abb. 1). Zum Beispiel haben die school shootings mit den zumeist gemeinschaftlich begangenen Gewalttaten gegen einzelne Schüler gemeinsam, dass sie nicht bevorzugt an Schulen in so genannten sozialen Brennpunkten auftreten und auch die Täter in der Regel nicht aus sozial benachteiligten Schichten stammen (Hoffmann, 2003). Damit unterscheiden sich Amokläufe an Schulen deutlich von Bandenkriegen, die häufig auf Auseinandersetzungen zwischen sozial benachteiligten Schülern unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit basieren und vorzugsweise in den Schulzentren der Großstädte zu beobachten sind. Abbildung 1: Spektrum schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen. Amok Bandenkriege Gewalt gegen einzelne selten an Schulen in sozialen Brennpunkten offene oder verdeckte Ankündigung ( Leaking ) typisch Prävention möglich 4

Amokläufe an Schulen repräsentieren ein äußerst dramatisches, wenn zugleich auch ein sehr seltenes Ereignis. Eine Auflistung der weltweit bis zum 31. Dezember 2002 bekannt gewordenen school shootings ergibt 75 verschiedene Vorfälle, die mehrheitlich in den USA stattfanden (Robertz, 2004a). Lediglich vier der aufgeführten Taten passierten in Deutschland (1999 in Meißen, 2000 in Brannenburg, 2002 in Freising und Erfurt), wobei zusammengenommen 23 Personen getötet wurden. Obwohl die zumeist gemeinschaftlich begangenen Gewalttaten gegenüber einzelnen Mitschülern weitaus häufiger als Amokläufe vorkommen, herrscht diesbezüglich ein noch größeres Informationsdefizit vor. Das Erkenntnisdefizit begründet sich vor allem darin, dass die angeklagten Straftaten in der Regel gemeinschaftlich begangene Körperverletzung und Nötigung als Jugendstrafsachen und daher meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt werden. Auch die Strafakten sind nach Abschluss der Verfahren nicht ohne weiteres zugänglich. Diesen Schutz genießen Amoktaten nicht, da die Täter häufig durch Suizid sterben, zum Teil retrospektive Operative Fallanalysen (OFA) durchgeführt werden (wie dies auch im Fall des Erfurter Amoktäters Robert Steinhäuser geschehen ist) und die bisher ausführlichsten Beschreibungen über Amoktäter aus den USA stammen, die eine extensive Medienberichterstattung erlauben. Kriminologische und rechtspsychologische Befunde, die sich auf die besser untersuchten Amoktaten beziehen, können daher nicht uneingeschränkt auf andere Formen schwerer zielgerichteter Schulgewalt übertragen werden. Dem lückenhaften Kenntnisstand entsprechend existiert derzeit kein Standardweg zur Verhinderung von Amoktaten und den zumeist gemeinschaftlich begangenen Gewalttaten gegen einzelne Personen. Im Folgenden werden bislang entwickelte Ansätze zur Prävention von schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen vorgestellt und die mit ihnen verbundenen Möglichkeiten und Grenzen aufgezeigt. 2 Präventionsansätze bei schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen 5

2.1 Waffengebrauch an Schulen in Deutschland Charakteristisch für die Amokläufe aber auch für andere Formen schwerer zielgerichteter Gewalt ist zunächst die Benutzung potenziell gefährlicher Waffen, um das oder die Opfer zielorientiert zu schädigen oder gar zu töten. Diese Handlung setzt zum einen den Zugang zu entsprechenden Waffen und zum anderen die Gelegenheit ihrer Mitnahme auf das Schulgelände voraus. In Deutschland gibt es mittlerweile zahlreiche empirische Studien, die Gewalt im schulischen Kontext untersucht und dabei das Führen oder Benutzen von Waffen als eine Erscheinungsform devianten Schülerverhaltens berücksichtigt haben. Nach Tillmann et al. (2000) berichteten 11% der hessischen Schüler der Sekundarstufe 1 davon, in den letzten 12 Monaten mindestens alle paar Monate Waffen (Schreckschusspistolen, Reizgas) mit in die Schule gebracht zu haben. Jungen (17%) gehören dieser Gruppe weitaus häufiger an als Mädchen (5%). Auch bei älteren Schülern (Klassen 8 bzw. 9/10 versus Klasse 6) lässt sich auf der Grundlage der Schülerangaben ein überproportional häufiges Tragen von Waffen erkennen. Tendenziell in eine ähnliche Richtung verweisen die Befunde von Schwind et al. (1997), nach denen knapp 9% der Bochumer Schüler der Klassen 7 bis 13 in den letzten zehn Monaten mindestens einmal wöchentlich beobachteten, dass männliche Schüler Waffen wie etwa Schlagringe, (Klapp-)Messer, Wurfsterne, Gaspistolen, Gasspraydosen oder Schlagstöcke benutzt oder mit ihnen gedroht haben; vergleichbare Beobachtungen bezüglich des Waffengebrauches von Schülerinnen machten 4,3% der befragten Jugendlichen. 17 Schüler (3,9%; davon eine weibliche Person) bekundeten, in der Schule selbst schon einmal von einer Waffe Gebrauch gemacht zu haben; 13 Schüler (3%; davon vier weibliche Personen) berichteten, mindestens einmal Opfer entsprechender Übergriffe gewesen zu sein. Des Weiteren bestätigten sowohl die Schulleiter (etwa zu einem Viertel) als auch Mitglieder des Lehrkörpers (etwa zu einem Drittel), dass an ihren Schulen mindestens einmal im Jahr gewalttätige Auseinandersetzungen mit Waffenbenutzung passiert sind. Demgegenüber stellt das Mitführen von Waffen in die Schule eine durchaus übliche Verhaltensweise dar: 24,5% der Schüler (40,9% der 6

männlichen und 10,6% der weiblichen Schüler) bejahten das (ein- oder mehrmalige) Mitbringen von Waffen (insbesondere Messer). Während Grundschüler (1.-6. Klasse) nach eigenen Angaben zwar weitaus seltener Waffen mit sich herumtragen als ältere Schüler, wurden auch Schüler dieser Jahrgangsstufen gelegentlich Opfer gewalttätiger Bedrohungen oder Übergriffe mit Waffeneinsatz (7,4%). Immerhin jeder dreißigste Grundschüler (3,4%) gab an, selbst in der Schule schon einmal mit einer Waffe gedroht oder sie benutzt zu haben. Eine aktuelle Befragungsstudie mit 4.038 Schülern aus dem Bundesland Bremen belegt, dass 2,8% der Schüler aus der Sekundarstufe 1 und 2% der Schüler aus der Sekundarstufe 2 bereits ihre Mitschüler mit Waffen bedroht bzw. verletzt haben (Leithäuser & Meng, 2003). 3,6% (Sekundarstufe 1) bzw. 2,9% (Sekundarstufe 2) aller Schüler haben laut Selbstauskunft entsprechende Erfahrungen mit Waffengewalt als Opfer gesammelt. Daneben schilderten 8% der Befragten, in der Schule gelegentlich oder ständig Waffen mit sich zu führen, wobei der Anteil in der Sekundarstufe 1 höher liegt als in der Sekundarstufe 2. Der Großteil der mitgeführten Waffen bezieht sich auch hier auf Messer, wobei das Spektrum von Taschenmessern bis zu diversen Kampfmessern reicht. Häufigkeitsverteilungen offenbaren zudem eine verstärkte Beteiligung von Tätern an dieser massiven Gewaltform mit dem Einsetzen der Pubertät. Interessanterweise gaben 23 (8,2%) derjenigen Schüler, die Waffen mit sich führen, zusätzlich an, echte Handfeuerwaffen zu besitzen. Eine Detailanalyse von 512 gemeldeten Gewaltvorfällen (zum Teil mit Waffeneinsatz) an Berliner Schulen kommt ebenfalls zu der Feststellung, dass Waffen im Rahmen von Konflikten zwischen Schülern nur im Ausnahmefall aktiv eingesetzt werden (Schubert & Seiring, 2000). In erster Linie werden sie dazu benutzt, potenzielle Opfer einzuschüchtern, nicht jedoch körperlich zu verletzen. Bezogen auf den innerschulischen Bereich stellt im Rahmen der Waffengewalt das Hantieren mit Messern das Hauptproblem dar. Zusammenfassend lässt sich trotz heterogenen methodologischen Vorgehensweisen (z. B. in Bezug auf die Zusammensetzung der Stichproben, den jeweils ausgewählten Bezugszeitraum 7

oder der Operationalisierung des Begriffes Waffe ) feststellen, dass in Deutschland ein nicht zu unterschätzender Anteil an Schülern mit potenziell gefährlichen Waffen zur Schule geht, gleichwohl ohne regelmäßig Gebrauch von ihnen zu machen und andere Personen anzugreifen. Das Tragen und das (eher seltene) Einsetzen von Waffen zumeist handelt es sich hierbei um Messer wird vornehmlich von männlichen Jugendlichen praktiziert, welche die oberen Jahrgangsstufen der Sekundarstufe 1 besuchen. Vor dem Hintergrund des Ausmaßes der Bewaffnung und der damit unmittelbar verknüpften Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit sowie der Wirkung auf das subjektive Sicherheitsgefühl der Schüler und Lehrer sind Maßnahmen dringend erforderlich, die dem Ge- und Missbrauch von gefährlichen Waffen proaktiv entgegensteuern. Zudem steht die Forschung vor der Herausforderung, diejenigen Begleitumstände zu extrahieren, die Schüler dazu veranlassen, eine Waffe nicht nur bei sich zu tragen, sondern auch aktiv zur Schädigung anderer Personen einzusetzen. 2.2 Das neue Waffengesetz in Deutschland Unter dem Eindruck spektakulärer Gewalttaten mit Schusswaffengebrauch von Jugendlichen und Heranwachsenden, insbesondere aber nach dem Amoklauf des Erfurter Schülers Robert Steinhäuser, wurden auf Seiten der Sicherheitsbehörden bereits vorbestehende Überlegungen intensiviert, wie der Missbrauch legal erworbener Waffen verhindert und der Zugang zu bisher frei verkäuflichen Waffen eingeschränkt werden könnte. Nach intensiven Beratungen wurde in Deutschland im April 2003 ein novelliertes Waffengesetz [WaffG] verabschiedet, das unter anderem die Aufbewahrung von Jagd- und Sportwaffen neu geregelt, die Liste verbotener Waffen (z. B. sog. Totschläger, Schlagringe, Faust- und Butterflymesser) erweitert und 8

das Führen von Gas- und Schreckschusswaffen an besondere Voraussetzungen (vollendetes 18. Lebensjahr und Zuverlässigkeit, sog. Kleiner Waffenschein) geknüpft hat (siehe Kasten 2). Kasten 2: Waffenrechtliche Aspekte des Amoklaufes von Erfurt. Die Ermittlungen im Fall des Amoklaufes von Erfurt, bei dem der Schüler Robert Steinhäuser 15 Mitschüler und Lehrer des Gutenberg-Gymnasiums, einen Polizeibeamten und anschließend sich selbst erschossen hatte, haben ergeben, dass der Täter knapp zwei Jahre vor dem Amoklauf als damals noch nicht Volljähriger mit dem erforderlichen Einverständnis seiner Eltern einem Schützenverein beigetreten war, Eintragungen in einem Nachweisheft über absolvierte Schießübungen ( Schießbuch ) zum Nachweis der gesetzlich erforderlichen Sachkunde von dem Täter selbst oder Dritten gefälscht worden waren und der Täter weder den Kauf einer Pistole vom Typ Glock 17 noch den späteren Erwerb einer Vorderschaftrepetierflinte ( Pump-Gun ) vom Typ Mossberg 590 in seine Waffenbesitzkarte eintragen ließ (vgl. Gasser et al., 2004). Allerdings muss angemerkt werden, dass diese und andere Feststellungen des Justizministeriums zu den Erfurter Vorgängen in Expertenkreisen umstritten sind und daher nur vorbehaltlich zur Diskussion des neuen Waffengesetzes geeignet sind. Die ordnungsbehördliche Umsetzung des neuen Waffengesetzes wurde in einer Allgemeinen Waffengesetz-Verordnung [Awaff] geregelt, die nach Verabschiedung durch den Bundesrat im Juli 2003 erst mit Veröffentlichung im Bundesgesetz- und Verordnungsblatt im Dezember 2003 Rechtsgültigkeit erlangte. Bis zum Inkrafttreteten der Verordnung waren durch das Bundesministerium des Inneren so genannte Vollzugshinweise zum Waffengesetz an die 9

Innenministerien der Länder als Empfehlung ausgegeben worden, die Einzelheiten zur Ausführung des Waffengesetzes enthalten. Die eigentliche Zielrichtung des Gesetzes, den Zugang zu Schusswaffen und deren möglichen Missbrauch durch Heranwachsende zu erschweren und potenziell gefährlichen Personen frühzeitig zu verwehren, soll durch das Heraufsetzen der Altersgrenzen für den Erwerb und Besitz von Schusswaffen und Munition in bestimmten Fällen sowie den nun neu erforderlichen Nachweis der persönlichen Eignung bzw. geistigen Reife erreicht werden. Hierbei stellt die im WaffG besonders hervorgehobene Gruppe der unter 25- jährigen eine Besonderheit dar, da diese Fallgruppe in jedem Fall auf eigene Kosten ein ärztliches oder fachpsychologisches Gutachten beibringen muss, auch wenn im konkreten Fall bisher keine Zweifel an der persönlichen Eignung bekannt geworden sind (vgl. Heubrock, Baumgärtel & Stadler, 2004). Diese Regelung zielt in besonderer Weise auf die Intention der WaffG-Novelle ab, die missbräuchliche Verwendung von Schusswaffen in der Hand von Heranwachsenden im Sinne des Kriminalpräventionsgedankens zu verhindern. Aus rechtspsychologischer Sicht ist besonders hervorzuheben, dass dabei die Möglichkeit unterstellt wird, unreife und somit zum Waffenbesitz ungeeignete Heranwachsende frühzeitig identifizieren zu können, womit wiederum ein entwicklungspsychologisches Defizit als die eigentliche Ursache schwerer Gewalttaten durch Heranwachsende zugrunde gelegt wird. Diese Annahme stützt sich auf die Analyse von Amokläufen an Schulen, die mehrheitlich gezeigt haben, dass die Gewalttat selbst das Ende eines voraus gegangenen Weges ist, der durch eine schrittweise Verengung von Handlungsalternativen im Verlauf einer biographischen Krise (Hoffmann, 2003, S. 409) oder aber einem längeren fehlangepassten Entwicklungsverlauf gekennzeichnet ist (Robertz, 2004a, b). Da andererseits besonders gefährliche Heranwachsende auch einen Zugang zu Waffen benötigen, um geplante schwere Gewalttaten zu begehen, wurden von den Länderpolizeien Aktio- 10

nen durchgeführt, die das Einziehen von so genannten verbotenen Waffen nach dem neuen WaffG zum Ziel hatten. Hierzu wurde die im WaffG vorgesehene Amnestieregelung genutzt, die vorsah, dass der Besitz dieser Waffen (Butterfly-, Faust-, Spring- und Fall-Messer, Wurfsterne und Elektroschockgeräte ohne Kennzeichnung) bis zum 31. August 2003 nicht unter Strafe gestellt war, sofern der Besitzer diese Gegenstände unbrauchbar gemacht, vernichtet oder einem Berechtigten übergeben hatte. Im Bereich des Landeskriminalamtes Bremen konnten im Rahmen einer Aktionswoche Waffenfreies Bremen Ein Zeichen gegen Gewalt (Rusch, 2003) an allen 18 Polizeirevieren der Stadt Bremen sowie an insgesamt 71 Schulen der Sekundarstufen I und II und den berufsbildenden Schulen verbotene Waffen anonym und straffrei in Spezialbehältnissen abgegeben werden (siehe Abb. 2). Abbildung 2: Sammlung verbotener Waffen. ( Polizei Bremen) 11

Die bereits optisch beeindruckende Menge und Vielfalt der eingesammelten verbotenen Waffen lässt sich weiter aufschlüsseln und belegt, dass in erheblichem Umfang gefährliche Waffen bis hin zu scharfen Lang- und Kurzwaffen sowie Sprengkörpern bis zum Abgabezeitpunkt im Umlauf gewesen sind (siehe Tab. 1). Tabelle 1: Ergebnisse der Sammlung verbotener Waffen in Bremen (modifiziert nach Rusch, 2003) Bremer Polizeireviere Bremer Schulen Bremerhaven 3 Art der Waffen Gesamt: 771 412 328 Butterfly-Messer 110 79 Faustmesser 2 4 Spring-/Fallmesser 51 46 sonstige Messer 90 89 Wurfsterne 28 15 Elektroschockgeräte 14 1 scharfe Kurzwaffen 16-9 scharfe Langwaffen 12-2 Gas-/Schreckschusswaffen 1 322 25 Softairwaffen 7 21 Reizstoffwaffen 80 21 Nun-Chakos 3 11 Schlagringe 8 1 sonstige Waffen 2 28 99 Anmerkungen: 1 Gas- und Schreckschusswaffen mit und ohne Kennzeichnung wurden zusammengefasst. 2 Unter den sonstigen Waffen befanden sich u. a. Schlagstöcke und erlaubte Spielzeugpistolen. 3 Für die Stadt Bremerhaven, die zusammen mit der Stadt Bremen das Bundesland Bremen bildet, ergab eine etwas variierende Auszählung 15 unscharfe Lang- und 151 Kurzwaffen (Gas-/Schreckschusswaffen), 148 Messer aller Art, daneben aber auch eine Sprengschnur mit Zünder und ein mit Schwarzpulver gefülltes Eisenrohr. Der unbestrittene Erfolg dieser und weiterer bundesweit durchgeführter Sammelaktionen von verbotenen Waffen nach Einführung des neuen WaffG darf nicht darüber hinweg täuschen, dass sich noch vermutlich ein Vielfaches der sichergestellten, zu Gewalttaten geeigneten Gegenstände im Besitz von potenziell gefährlichen Jugendlichen und Heranwachsenden befin- 12

den dürfte. Da auch die verschärften Vorschriften zur Verwahrung legaler Waffen nicht verhindern können, dass sich unberechtigte Personen Zugang zu Legalwaffen verschaffen können, kommt auch weiterhin der frühzeitigen Identifizierung potenzieller Täter eine entscheidende Bedeutung zu. 2.3 Ankündigung geplanter schwerer Gewalttaten in Schulen ( Leaking ) Eine frühzeitige Identifizierung möglicherweise gefährlicher Schüler mit Zugang zu Waffen ist darauf angewiesen, von den Jugendlichen selbst oder aus ihrem unmittelbaren Umfeld eindeutige Hinweise zu erhalten, diese wahrzunehmen und sie richtig zu deuten. Mehrere Untersuchungen haben zeigen können, dass nicht nur bei Amokläufen, sondern auch im Zusammenhang mit anderen zielgerichteten Gewalttaten in einer Mehrzahl der Fälle spezifische Auffälligkeiten vor der Tat zu verzeichnen waren (z. B. Anderson et al., 2001; de Becker, 2000; Hermanutz & Kersten, 2003; Twemlow et al., 2002). Diese auch als Leaking (engl., Tröpfeln, Leckschlagen) bezeichneten Hinweise vor der geplanten Gewalttat können sich in Zeichnungen, Schulaufsätzen, Mitteilungen in so genannten Chatrooms und Foren im Internet, e-mails an Klassenkameraden, verbalen Äußerungen und ähnlichen Signalen manifestieren und stellen für die fallbezogene präventive Intervention den bedeutendsten Ansatz dar (siehe Kasten 3). Kasten 3: Beispiele für Ankündigungen von Amoktaten (nach Hoffmann, 2003, S. 408; Mc- Gee & DeBernardo, 1999; Verlinden, Hersen & Thomas, 2000). Ein Täter rief am Tag der Tat seinen Freund an und teilte ihm wörtlich mit: Ich habe Lust, in die Stadt zu gehen und ein paar Leute umzubringen. 13

Ein weiterer jugendlicher Amokläufer zeichnete unter sozialtherapeutischer Betreuung ein Comic-Heft, in dem ein Amoklauf dargestellt war, bei dem der Lehrer getötet wird. Dieser Täter setzte seine Ankündigung später in die Wirklichkeit um. Ein 16-jähriger Schüler, der bei einer Amoktat in den USA den Schulleiter und einen Schüler getötet und zwei Mitschüler verwundet hat, kündigte am Vortag an, eine Waffe mit in die Schule zu bringen und damit etwas Gewaltiges vorzuhaben. Ein anderer 16-jähriger Schüler, der unmittelbar vor der Tötung von zwei und Verwundung von sieben weiteren Mitschülern zu Hause seine Mutter erschlagen und erstochen hat, schrieb kurz vor seiner Gewalttat an Mitglieder seiner Clique: Ich bin das personifizierte Böse Ich habe kein Mitleid mit meinen Mitmenschen, die mich zu dem gemacht haben was ich bin, die mich so lange gefoltert haben, bis ich endlich zugeschlagen habe. Ein 13-Jähriger, der zusammen mit einem 11-jährigen Mitschüler vier Mädchen und eine Lehrerin getötet und zehn weitere Mitschüler verwundet hat, kündigte einem Klassenkameraden am Vortag an, dass alle am nächsten Tag herausfinden würden, ob sie leben o- der sterben werden. In allen bisher analysierten Fällen späterer Amokläufe hatten die jugendlichen oder heranwachsenden Täter ihre Absicht direkt oder verschlüsselt mitgeteilt, in der Mehrzahl der Fälle an Mitschüler oder Bekannte. Da hierzu mehrere Medien geeignet zu sein scheinen und die Möglichkeiten direkter und indirekter Ankündigungen vielfältig sind, muss auf die nachfolgend dargestellten Leaking -Merkmale besonders geachtet werden (siehe Kasten 4). 14

Kasten 4: Medien zur Ankündigung von Amoktaten Direkte Ankündigungen: Zeichnungen Schulaufsätze Comics Chat-Rooms E-Mails Telefonate SMS Graffiti Direkte verbale Ankündigungen Indirekte Ankündigungen: Demonstratives Interesse für Waffen Tragen von Tarnkleidung Sammeln von Zeitungsausschnitten über vergangene Amoktaten Eine Analyse von zehn spektakulären Amoktaten an amerikanischen Schulen hat die Bedeutung von Leaking -Handlungen der Täter vor der Tatausführung bestätigt. In allen Fällen wurden Tötungshandlungen, in einigen Fällen auch in Verbindung mit einem dann folgenden Suizid, durch die Täter unmissverständlich angekündigt (McGee & DeBernardo, 1999; Verlinden, Hersen & Thomas, 2000). So hatten die Täter immer zuvor mit Gewalt gedroht, einen detaillierten Tatablaufplan entwickelt, gezielte Tatvorbereitungen getroffen, und in neun von zehn Fällen hatten die späteren Täter ihre geplanten Gewalttaten direkt angekündigt. Da einige Täter ihre Drohungen über einen längeren Zeitraum hinweg wiederholt hatten und alle Täter am Vortag der Tat ihr Vorhaben durch Leaking -Handlungen direkt ausgedrückt hatten, wäre bei entsprechender Deutung ein rechtzeitiges Eingreifen prinzipiell möglich gewesen. Dass die Einschätzung angekündigter Gewalttaten durch Mitschüler, Familienmitglieder und Lehrer das eigentliche Problem darstellt, verdeutlichen Berichte, denen zufolge unmittelbar und konkret angekündigte Tötungshandlungen in Schulen durchweg nicht 15

ernst genommen wurden (siehe die detaillierten Fallanalysen bei Verlinden, Hersen & Thomas, 2000). Unsicherheiten in der Beurteilung der angekündigten Gewalttaten werden allerdings dadurch begünstigt, dass derzeit empirisch gesicherte Kriterien fehlen, die eine zuverlässige Entscheidung über die Ernsthaftigkeit einer Drohung erlauben. Eine zuverlässige Einschätzung darüber, ob mögliche Leaking -Dokmente als Ankündigung einer zukünftigen zielgerichteten Gewalttat oder als deliktunspezifisch, etwa als pubertäre Fantasie zu bewerten sind (vgl. hierzu auch Mulvey & Cauffman, 2001), ist damit das entscheidende Nadelöhr einer einzelfallbezogenen Prävention. Eine zusätzliche Verstärkung der Unsicherheit im Umgang mit derartigen Tatankündigungen lässt sich auf die Unkenntnis über ihre Vorkommenshäufigkeit zurückführen. Zwar finden sich in den gängigen Publikationsorganen immer wieder einzelne Belege für entsprechende Tatankündigungen, zumeist jedoch ohne den Grad der von ihnen ausgehenden tat-sächlichen Bedrohung und die damit assoziierten Konsequenzen für den Täter zu diskutieren. Exemplarisch hierfür steht eine Morddrohung durch einen 14-jährigen Schüler gegenüber seiner Lehrerin, der als Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter folgende Nachricht hinterließ: Hallo, du geile Möse. Ich fick dich. Ich bring dich um, ich mach dich tot! Und dann steck ich meinen Elefantenrüssel in deine Möse, du blöde Fotze, du! (Gelling-Rothin, 2000). Die Verfügbarkeit Empirie-gestützter Kriterien ist nicht zuletzt deswegen von großer Bedeutung, weil die in Leaking -Dokumenten vermittelten Beschreibungen des Tatgeschehens oft auch die über längere Zeit entwickelten Fantasien der Täter widerspiegeln. Es muss sich also keineswegs immer um realitätsnahe Beschreibungen der später tatsächlich umgesetzten Tatausführung handeln, sondern es kann auch die Intention der Gewaltausübung bis hin zu Folter und Tötung Gegenstand des Leaking sein (siehe Abb. 3). Abbildung 3: Bisher unveröffentlichtes Leaking -Dokument eines 15-jährigen Schülers. 16

Ich habe einen Stuhlbein halb durch gesägt. Und dar hatte ich Eisklotz unter gelegt. Und ich habe sie [Lehrerin] erst oben mit ein Seil angebunden. Und das andere Ende bei ihr um Hals gebunden. Und da kam Frau H. [Klassenlehrerin] rein. Aber das Eis war noch nicht geschmolzen wo sie rein kam. Da habe ich dan anderes Seil genommen und habe das selbe gemacht. Und da kam Frau A. [Lehrerin] rein und sagt das ich es sein lassen soll. Aber ich habe nicht gehört. Und da habe ich mein Messer gezoken und da habe ich sie umgebracht. Einen Stunde später kam Herr P. [Lehrer] rein und sagt wen ich nicht so fort auf hören den hole ich die Poliezei. Bis er die Poliezei holen kann habe ich in umgebracht. Diese durch die Fantasie eines potenziell gefährlichen Schülers überlagerten Tatankündigungen lassen sich nach Robertz (2004b) als Teilrealisierungen von Tötungs- und Gewaltfantasien verstehen. Vor allem bei sozial isolierten und psychosozial deprivierten Jugendlichen spielt die Fantasie als Ersatzhandlung eine große Rolle, da sie dazu genutzt wird, sich anders als z.b. in der schulischen Realität oder im Kreise Gleichaltriger erlebt als machtvoll und kontrolliert zu imaginieren. Gelingt es auch scheinbar realitätsferne Ankündigungen in Zeichnungen, Gedichten oder Gesprächen als Leaking -Handlungen zu erkennen, so besteht aus präventiver Sicht prinzipiell die Möglichkeit, die Tatausführung zu verhindern, bevor es durch ein kritisches und überforderndes Schlüsselereignis meist ein Verlusterlebnis zum Entschluss zur Gewalttat kommt. 2.4 Psychosoziale Persönlichkeits- und Verhaltensprofile von Schulgewalttätern Da aber weder alle Schüler mit Zugang zu gefährlichen Waffen noch alle Jugendlichen oder Heranwachsenden mit dokumentierten Tötungsfantasien tatsächlich schwere zielgerichtete 17

Gewalttaten begehen, müssen zur einzelfallbezogenen Gefährdungsanalyse auch psychosoziale Risikofaktoren herangezogen werden. Systematische Versuche, sozialwissenschaftliche, forensische und rechtspsychologische Erkenntnisse über Amoktaten, Attentate und andere Formen schwerer zielgerichteter Gewalt für präventive Zwecke nutzbar zu machen, stammen bisher fast ausnahmslos aus den USA (vgl. Borum, 2000; Borum et al., 1999; McGee & De- Bernardo, 1999; Miller et al., 2000; Ryan-Arredondo et al., 2001; Reddy et al., 2001; Verlinden, Hersen & Thomas, 2000). Diese gehen auf eine ausführliche Untersuchung einschlägiger Gewalttaten durch den U.S. Security Service zurück (Fein & Vossekuil, 1998; Fein, Vossekuil & Holden, 1995) und haben bereits zu ersten praktischen Hinweisen zur präventiven Anwendung in Schulen geführt (siehe Kasten 5). Kasten 5: Schlüsselfragen zur Gefährdungsanalyse (nach U.S. Secret Service, Fein & Vossekuil, 1998; Übersetzung durch die Verfasser). 1. Welches Motiv hatte der Schüler für seine Äußerungen/Handlungen? 2. Welche Absichten hat der Schüler mitgeteilt? 3. Hatte der Schüler zuvor ein besonderes Interesse an zielgerichteter Gewalt, Überfällen, gewalttätigen Personen, extremistischen Gruppierungen oder Mördern gezeigt? 4. Hat der Schüler zuvor aggressives Verhalten gezeigt? 5. Hat der Schüler eine Vorgeschichte mit psychischer Krankheit, Wahn- oder Verfolgungsideen und hat er danach gehandelt? 6. Wie strukturiert und organisiert ist der Schüler? Ist er dazu fähig, einen Plan auszuführen? 7. Hatte der Schüler in jüngerer Vergangenheit eine Verlusterfahrung (Tod/Scheidung) oder einen Statusverlust erlitten und hat dies zu Verzweiflung geführt? Absicherung durch Dritte: 8. Stimmen Ankündigungen und Handlungen bei dem Schüler überein? 9. Befürchten Angehörige oder Bekannte des Schülers gefährliche Handlungen? 10. Welche Konsequenzen hätte es für die weiteren Lebensumstände des Schülers, wenn er eine gefährliche Handlung begehen würde? Die als Schlüsselfragen formulierten Hinweise zur Gefährdungsanalyse berücksichtigen, dass bei den in den USA untersuchten Amokläufen die Täter in allen Fällen ein starkes Interesse an Gewalt und Waffen gezeigt, 18

Zugang zu Schusswaffen, andere für ihre Probleme verantwortlich gemacht, nur geringe psychosoziale Kompetenzen und wenig Stressresistenz entwickelt und in neun von zehn eingehend analysierten Fällen aggressives Verhalten gezeigt, soziale Zurückweisungen durch Gleichaltrige erlebt, eine intensive Beschäftigung mit gewaltbezogenen Medien (Videos, Musik) gezeigt und kaum psychosoziale Unterstützung erfahren hatten (Verlinden, Hersen & Thomas, 2000). Das daraus resultierende Täterprofil ist allerdings für Fehlinterpretationen anfällig. Es beruht ausschließlich auf beobachtbaren Verhaltensparametern und berücksichtigt nicht die ihnen zugrunde liegenden Verhaltensmotive und ihre Entwicklungsdynamik. Vordergründig wäre man geneigt, sich als potenziell gefährlichen Schulgewalttäter einen psychosozial vernachlässigten und isolierten Schüler vorzustellen, der generell aggressionsbereit ist, in seiner Freizeit überwiegend Gewalt verherrlichende Medien konsumiert und von Waffen und Gewalttaten fasziniert ist. Dem widersprechen allerdings Studien, die unter Berücksichtigung klinischpsychiatrischer und psychologischer Befunde zeigen konnten, dass die Persönlichkeitsstruktur und psychische Entwicklung von Amokläufern eher durch eine manifeste Depression, suizidale Gedanken und zum Teil auch Suizidversuche sowie in wenigen Fällen auch Alkohol- oder Drogenmissbrauch gekennzeichnet ist. Die meisten Täter waren seit langem sozial isoliert, entwickelten früh selbstverstärkende Fantasien mit gewalttätigen Inhalten und waren Opfer von Bullying in der Schule (vgl. Leary et al., 2003; McGee & DeBernardo, 1999; Meloy et al., 2001). Eine Analyse von 18 amerikanischen Amokläufern, die mehrere Lehrer oder Mitschüler getötet oder bei Tötungsversuchen zumindest schwer verletzt hatten, konnte zeigen, dass es sich durchweg um männliche Schüler im Alter zwischen 11 und 18 Jahren handelte, die der sozia- 19

len Mittelschicht entstammten und überwiegend im ländlichen Raum gewohnt hatten. Hinsichtlich des psychosozialen Persönlichkeitsprofils fällt auf, dass alle Täter sich durch Eltern, Lehrer oder Mitschüler benachteiligt, zurück gesetzt, ungerecht behandelt oder verlassen gefühlt, wenig oder keine Kontakte zu Gleichaltrigen und mehrfach Suizidgedanken geäußert und/oder suizidale Handlungen begangen hatten sowie als ständig (latent) wütend und durch den Konsum Gewalt verherrlichende Medien aufgefallen waren (McGee & DeBernardo, 1999). Als Motiv für die schließlich resultierenden Gewalttaten, bei denen neben drei Eltern insgesamt 47 Lehrer und Mitschüler getötet und 98 verletzt wurden, wird Rache für die empfundene ungerechte Behandlung und für vermeintliche oder tatsächliche Zurückweisungen vermutet, so dass die Autoren diesen Tätertyp plakativ als Rächer im Klassenraum (classroom avenger) bezeichnen. Anders als gelegentlich unterstellt und auch in der öffentlichen Diskussion immer wieder behauptet wird, war bei keinem der Täter eine schwerwiegende psychische Störung oder eine gewalttätige Vorgeschichte nachzuweisen. Ungeachtet ihres extrem seltenen Vorkommens weisen Amokläufe in der Schule demzufolge bestimmte Gemeinsamkeiten auf: So gehen die Täter kontrolliert und überlegt vor; ihre Taten wurden über einen längeren Zeitraum geplant und vorbereitet. Ähnlichkeiten in der Phase der Tatvorbereitung und im Tatablauf aber auch bezogen auf die Persönlichkeitsstruktur verweisen auf ein multifaktorielles Bedingungsgefüge, bei denen risikoerhöhende Faktoren wie frustrierende Lebensereignisse und aktuelle Belastungssituationen (z. B. die Kündigung einer Freundschaft oder ein Statusverlust), bestimmte Persönlichkeitsstrukturen (z. B. emotional-instabil), 20