Französische Varietätenlinguistik DIE DIATOPISCHE DIMENSION I DIATOPISCHE VARIETÄTEN IN FRANKREICH

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Transkript:

Französische Varietätenlinguistik 30.04.2014 DIE DIATOPISCHE DIMENSION I DIATOPISCHE VARIETÄTEN IN FRANKREICH

Zwei linguistische Schichten der Diatopik Ebene 1: langue commune, langue générale, langue nationale, langue officielle langue nationale überlokale Gemeinsprache institutionalisiert durch die Verfassung der Republik in den Schulen ganz Frankreichs gelehrt als verbindliche Zielnorm anerkannt Sprache der Schrift, des öffentlichen Auftritts lässt sich nur in der Diachronie bestimmen, synchronisch geben diastratische und sozio-linguistische Momente den Ausschlag Ebenen 2, 3, 4: langues régionales im bildlichen Sinn unter der Ebene der langue nationale - Überlagerung - diachrone Begründung: die Gemeinsprache hat sich über die Jahrhunderte entwickelt und über die alten Dialekte ausgebreitet - synchrone Begründung: die langue commune genießt ein höheres Prestige - (gesprochene) lokale, häusliche, private Mitteilung

drei Ebenen der langues régionales (nach Müller 1975) 1. Regionalfranzösisch 2. französische Dialekte dialectes und parlers locaux 3. nichtfranzösische langues ethniques, langues minoritaires auf frz. Territorium Okzitanisch, Italienisch, Katalanisch, Baskisch, Bretonisch, Flämisch, Deutsch

Die Herausbildung der dialektalen Gliederung Frankreichs Substratthese - zu Beginn des 20. Jh. entwickelt (Heinrich Morf) -Zusammensetzung der früheren einheimischen Bevölkerung ist für die Gliederung in drei große Sprachräume verantwortlich -Keltoromanisch - Belgoromanisch -Aquitanoromanisch

- schon unter Caesar Einteilung in drei Provinzen: Belgica Aquitania Celtica -Fortführung dieser Grenzen in den römischen Verwaltungsgrenzen: civitates/ provinciae -Fortführung auch in den Diözesen unter Diokletian und Konstantin im 3./4. Jh.

Superstratthese (Walter von Wartburg, ca. 1950) - komplementär zur Substratthese - das Eindringen der germanischen Völker (Franken im Norden, Burgunder im frankoprovenzalischen Gebiet) hat diese Differenzierung verstärkt -Entstehung der französisch-okzitanischen Sprachgrenze Verlauf der Grenze des Merowingerreichs im 5. Jh. südlich der Loire

Durchsetzung des Standards - bis zum 13. Jh. Dialekte der langue d oïl einander gleichgestellt - Paris im 12./13. Jh. als dominierendes regionales Zentrum etabliert - Auswirkungen auf die sprachliche Situation wurden allmählich spürbar

franzischer Dialekt vs. okzitanischer Dialekt vs. Lateinisch - Skriptae: überregionale Schriftsprachen Skripta: überregionale Verkehrssprache, aber je nach Region unterschiedlich ausgeprägt - Verlust des Lateinischen Einflusse: Eckdatum: Concile de Tours (813) -Einfluss des Okzitanischen: hielt sich länger hatte sich früher gegen das Lateinische durchgesetzt lange Epoche der Zweisprachigkeit erst nach dem Hundertjährigen Krieg höherer Einfluss des Französischen im Süden durch die Gründung der Regionalparlamente

Französisch als offizielle Sprache Edikt von Villers-Cotterêts (1539) ab nun sind die Dialekte auf den gesprochenen Bereich beschränkt, dort aber sehr dominant Abbé Grégoire: Rapport sur la nécessité et les moyens d'anéantir les patois et d'universaliser l'usage de la langue française (1790) Feststellung: von 25 mill. Bürgern haben höchstens 3 mill. gute Kenntnis des Französischen, 6 mill. sind nicht zu einem längeren Gespräch in der Lage, weitere 6 mill. besonders auf dem Land können kein Französisch die politisch geeinte Nation muss auch eine französische Sprach haben nation une, langue une das Nebeneinander von offiziellem frz., lokalem frz. und patois gilt als Überbleibsel feudalistischer Strukturen/ als Symbol von Ungleichheit

ab dem 19. Jh.: immer schneller fortschreitende Erosion der französischen Dialekte Entdialektalisierung : allgemeine Schulpflicht, Militärdienst, verbesserte Allgemeinbildung, Industrialisierung, Eisenbahn, wachsende Mobilität, Medien, Verstädterung etc. psychologische Zwänge: Prestige des bon francais, negative Wertung des patois décolonisation de la France Regel: ein Idiom hat in einer Sprachgemeinschaft nur solange Zukunftschancen, wie es funktional ist heute: français commun und français régional fungieren heute in allen Kommunikationsbereichen (auch Familie, Handwerk, Bistro) -> Beibehaltung der 3. Sprachebene wird als sprachlicher Luxus empfunden

Der Begriff der français régional Müller 1975: 116: Unter einem français régional verstehen wir ein Register regionaler bis rein örtlicher Beschränkung, das von den Sprechern einer Region bzw. eines Ortes [ ] gebraucht wird und das Frankophone anderer geographischer Herkunft entweder als Französisch von A,B,C lokalisieren oder phonetisch als Französisch mit einem Akzent qualifizieren Unterschied zum Dialekt: keine Verständigungsbarriere zwischen den Sprechern eines français régional und denen der Gemeinsprache

Entstanden durch die Ausbreitung der Gemeinsprache über die Dialektzonen > lautliche, morphologische, syntaktische und lexikalische Muster der Regionalsprache auf die Gemeinsprache übertragen

Merkmale: - veraltende Elemente der überlagernden Gemeinsprache sind regional lebendig geblieben - sehr archaischer Charakter: Archaismen vor allem in français régionaux weiter entfernter Gegenden (von Paris) - z.b. Beibehaltung von le dîner Mittagessen und le souper Abendessen dieses Phänomen besonders stark in den frankophonen Gebieten jenseits der Grenzen Frankreichs: français de Belgique, français de la Suisse romande, français du Canada, français de l Afrique du Nord

weitere lexikalische Besonderheiten der français régionaux - spezifisches Vokabular angepasst an ortsgebundene Besonderheiten (Erdformationen, Bodennutzung, Flora, Fauna, Lebensweise, Spezialitäten des Landes) le champ: le chagneau, la loquette, la longueriole, la galette (Département Aube) la quiche (Lothringen), l aoïli (Provence) - gemeinsprachliche Lexeme mit anderem Sinn (Quelle für faux amis) la mouche Fliege und Biene (Départemet Aube, Ellipse von mouche à miel, statt abeille) fatigué krank (Lyon) statt malade

Phonetische Besonderheiten Beispiel: français régional du Midi - Differenzierung der geschlossenen und der offenen Qualitäten [ : ], [o : ], [ : ] nach der Position des Vokals Finalposition: mittlere Qualität gedeckte Position: offene Qualität - Artikulation des instable (Artikulationsbreite bis zu [ ], [ ] und [ ], je nach dem lokalen okzitanischen Substrat) dadurch mehr Silben im fr. rég. du Midi Je te le donne: fr. commun [, fr. rég. Du Midi

Doppelte Divergenz der Nasalvokale: - geschlossenere Artikulation: [ > - der Nasalkonsonant als [n, m, ] bzw. deren Schwundstufe wird mit artikuliert: entrer [ tre, tre], vin [ - das Phonem /r/ wird dorsal realisiert (r roulé)

Besonderheiten in der Morphosyntax: Beispiel français régional de Marseille - Pronomen ils statt on: ils l ont nommé chef - y in der Funktion von lui, leur: c est ce que j y ait dit - häufiger Dativus ethicus: je me mange une pomme ça m a commencé il y a trois jours - indifinites Pronomen un, une ( quelqu un): elle s est marié avec un qui est boulanger - Possessivkonstruktion il est mien, tien ( à moi, à toi ) - c est für ce sont: c est mes amis - häufige Bildung zusammengesetzter Zeiten mit être: je suis été, je suis couru

Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm: Vous parlez provençal sans le savoir http://www.ina.fr/video/rac00007544/vous-parlez-provencal-sans-le-savoir-video.html

Dialekte und parlers locaux Müller 1975: Dialekte/parlers locaux = erkennbare geographische Ausprägungen der langue commune unterhalb der Ebene der français régionaux Dialekt: weitfächiger parler local: punktuell pikardischer Dialekt vs. parler d Arras - Abgrenzbarkeit zum Normfranzösischen einfach zum français régional schwer - innersprachliche Kriterien fehlen aber: historisch gefestigte communix opinio, außersprachliche Kriterien (Grenzen der Provinzen) - Namen der Dialekte beziehen sich oft auf die Provinzen des Ancien Régime: Normannisch (le normand), Pikardisch (le picard)

Kennzeichen von Dialekten -Fehlen einer präskriptiven Norm, sondern Systeme usueller Normen -Unterschied zum fr. rég: die Sprecher des fr. rég. glauben, der konventionellen Norm zu folgen, Sprecher auf der Ebene des Dialekts/der parler locaux sind sich der Distanzierung zum fr. commun bewusst - im Prestige niedrigeres Regionalidiom als das fr. rég (vgl. pejorative Benutzung des Begriffs patois -Fehlen dialektaler Schreibregelungen (nach den scriptae nur noch als Sprechsprache zur Verfügung)

Probleme bei der Bestimmung von Dialekte - es gibt keine homogenen Ortsdialekte -ältere, ortsfeste, eher bildungsferne Sprecher ältere Personen: archaisches Material ortsfeste Personen: Garantie der ortsüblichen Sprache bildungsferne Personen: wenig Einfluss der Standardsprache - keine Einheitlichkeit im Ortsdialekt - soziale Unterschiede müssen berücksichtigt werden

Probleme bei der Bestimmung von Dialektgebieten - Übereinstimmung immer nur von Teilsystemen -Zusammenfassen von Ortsmundarten, die gewissen Merkmale gemeinsam haben: höhere Einheit (Dialektgebiet) - entlang historischer Grenzen - nach externen Kriterien -Zusammenfassen der Ortsmundarten, die sich am wenigsten voneinander unterscheiden - Ähnlichkeitsmaß

Bei allen Dialektgebieten geht es um eine Zusammenfassung von Ortsdialekten aufgrund gewisser Kriterien, es geht um Typen, es geht nicht um funktionierende Sprachsysteme. (Haas: 2011, 13)

Das Problem der Dialektgrenzen!!! es existieren kleine scharf gezogenen bzw. ziehbaren Grenzen zwischen den Dialekten/parlers Linien existieren nur in abstracto auf vereinfachenden Sprachkarten (Ausnahme: Flüsse, Berge ) Isoglosse: Linie in einem Sprachatlas, die die Grenze zwischen zwei Ausprägungen eines sprachlichen Merkmals markiert Isoglossenbündel: mehrere Isoglossen fallen aufeinander ausschlaggebend für Dialektgrenzen

Schwierigkeit : Welche Merkmale machen den Dialekt aus, welche haben mehr Gewicht? Versuch einer Dialektgrenze zwischen dem normand und dem picard in der Haute-Normandie Hier: die Kriterien verdichten, aber decken sich nicht

Zweite Schwierigkeit: Mannigfaltigkeit auch im Inneren eines Dialektes z.b. Subzonen des pikardischen Dialektraums Hier: Auflösung der Fläche in eine Summe sich überschneidender Mikrozonen: Dialekt = eine Menge ihn konstituierender Dialektzellen Aufteilung in Kern und Randzonen

Fazit: Defintion des Dialekts (nach Müller 1975: 130) als eine... regionale Sprachgruppierung mit einigen grammatischen, phonetischen, morphologischen, lexikalischen Regularitäten, bei deren Polymorphismus die intern übereinstimmenden Charakteristika im eher historisch, politisch und kulturell statt linguistisch begründbaren Urteil schwerer wiegen als die quantitativ evtl sogar zahlreicheren Interndivergenzen

Die diatopische Gliederung Frankreichs http://www.axl.cefan.ulaval.ca/monde/langues_d e_france.htm

Zentrum Nordfrankreichs: Leerraum, Ebene 3 nicht mehr vorhanden, nur noch Spuren im fr. rég. Vitalität und Individualität wachsen mit der Entfernung von der Mitte & hängen u.a. von der Verkehrserschließung ab Hohe Frequenz des Wallonischen, Pikardischen, Frankoprovenzalischen (Wirtschaft, Traditionen)

Aufspaltung zwischen den Dialekten (bis zum 13. Jh.) erfolgte durch: - die ungleiche Romanisierung - die Unterschiede der Besiedlungsdichte - die verschiedenen ethnischen und sprachlichen Substrate - die administrativen Grenzen - Verkehr, Straßen, wirtschaftliche Beziehungen - Superstrateinflüsse - feudale Zerstückelung im Hochmittelalter

Le picard - Ausbreitung in Belgien und Frankreich - picardophoner Raum nicht gleich administrative Region Picardie - Der Begriff Picardie taucht 1250 zum ersten Mal auf im Pariser universitären Milieu bezeichnet ein großes Gebiet mit eigenen Sprachgewohnheiten

- nicht einheitlich, sondern parlers de type picard - Variationen beziehen sich v.a. auf die Aussprache Eloy 2006: s.p.: Il existe de nettes variations géographiques, et les origines des locuteurs sont reconaissables immédiatement à l oreille, mais il existe aussi une intercompréhension et un sentiment d identité culturelle commune. Dementsprechend variiert die Bezeichnung für den Dialekt: - le picard (im Departement Somme) - le patois (Pas-de-Calais) - ch ti/ ch timi (Departement Nord) - rouchi (um Valenciennes)

Diaphasische Komponenten: wird in der Familie, unter Freunden, Bekannten und Kollegen gesprochen Diastratische Komponenten - Sprache der Fischer, Arbeiter und der ländlichen Bevölkerung - eher in der älteren Generation üblich als in der jüngeren

Principales langues autres que le français reçues dans l'enfance et retransmises à la génération suivante http://www.axl.cefan.ulaval.ca/europe/france-1demo.htm

Historischer Überblick - Pikardisch und Franzisch ähnliche Wurzeln: langue d oïl - Spuren des Pikardischen auch in der Séquence de Sainte Eulalie (9. Jh.) z.b.: coze chose, diaule diable - Hochzeit der Piakardischen Literatur im 12. und 14. Jh. : Arrageois Adam de la Hale, Jacques d Amiens scripta hybride franco-picarde: Altfranzösisch mit regionalen Dialektismen Henriette Walter: exception picarde die Literatursprache schlechthin im Norden Frankreichs - Bedeutungsverlust in der Literatur nach dem 15. Jh.

Stellung des picard geschätzte Sprecherzahl: 500.000 http://www.insee.fr/fr/insee_regions/nord-pas-de-calais/themes/pages_de_profils/p04_01.pdf In Belgien: als Regionalsprache anerkannt neben Wallonisch, Lothringisch, Champenois und Francique In Frankreich: nicht in dieser Weise anerkannt (entsprechend seiner Politik, einzig das Französische als Amtssprache auf seinem Territorium anzuerkennen) Das Pikardische profitiert trotzdem von der Délégation Générale à la Langue Française et aux Langues de France des Kulturministeriums

Rapport sur les langues de la France «L écart n a cessé de se creuser entre le français et les variétés de la langue d oïl, que l on ne saurait considérer aujourd hui comme des «dialectes du français» ; franccomtois, wallon, picard, normand, gallo, poitevinsaintongeais, bourguignon-morvandiau, lorrain doivent être retenus parmi les langues régionales de la France ; on les qualifiera dès lors de «langues d oïl», en les rangeant dans la liste des langues régionales de la France.» > anerkannt als eine der offiziellen Regionalsprachen in Frankreich

Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm: Région: les parler picard http://www.ina.fr/video/rcc9503070927

Norm und Stigmatisierung Courrier de l Unesco (Dawson): le picard est une langue qui stigmatise, un obstacle à l ascension sociale (Duriez 2009: 9) Olivier Engelare (Direktor der Agence pour le Picard): Pour beaucoup, parler picard, c est mal parler français. Quand cous la pratiquez, on vous regarde avec un air atteré ou on ne vous prend pas au sérieux. Von der Unesco offiziell beschrieben als langue sérieusement en danger http://www.unesco.org/culture/languages-atlas/en/atlasmap/language-id-398.html

Negative Vorurteile hängen auch mit außersprachlichen Faktoren zusammen: - Nordfrankreich gehört zu den ärmsten Regionen des Landes - Einwohner liegen in Bezug auf Bildung und sozialen Status unter dem französischen Durchschnitt - Geprägt von einer langen Industriegesellschaft: Schwerpunkt auf der Textilindustrie und dem Kohlebergbau bis zur Wirtschaftskrise in den 70ern heute

Sprachliche Merkmale des Pikardischen Consonantisme: - stimmlose Endkonsonanten: rouche (pic) rouge (fr) abe/ape (pic) arbre (fr) - Palatalisierung der velaren Okklusive [k] und [g] kinne/tchinne (pic) chêne (fr) - Palatalisierung der apico-dentalen Frikative [s] und [z] - häufige Affrikatenbildung: djèrre R] guerre - [v] statt [g] für germ. w: garder [vard] (*wardon)

Vocalisme: - Nasal für für älteres e: vent (ventu), en (inde), argent (argentu) - für [y]: mûr [m r] (maturu), sûr [s r] (securu)

Morphologische Ebene: ein Artikel für beide Geschlechter : le für le und la spezifische Pronomina Personalpronomen: mi, ti, li (moi, toi, lui) Demonstrativpronomen cho (cela) spezifisches morphemisches Verweissystem ce als direkter Artikel: ch poéyis [ eji] (le pays) ch + lo oder chi in demonstrativer Bedeutung: ch poéyis-lo (ce pays) Verneinung: ne mie, ne point (ne pas)

Lexikalische Ebene: à ce soir à tout rate bar café cabaret http://www.lexilogos.com/picard_langue_ dictionnaires.htm

Illustration anhand des Films Bienvenue chez les Ch tis - aus dem Jahre 2008, von Dany Boon Ch ti- stammt von einem Spitznamen im ersten Weltkrieg, die die Soldaten ihren Kameraden aus dem Norden gaben - bezeichnet die Bewohner der Region Nord-Pas-de-Calais und die Variante des Pikardischen - Wortneuschöpfung: mot-valise der Morpheme che (ce oder le), mi (moi), ti (toi) ch est ti, ch est mi (c est toi, c est moi) im Film: regionaler Dialekt verfremdet und überhöht