Gemeinsamer offener Brief an den Bundesinnenminister Setzen Sie sich dafür ein, dass Kinderrechte in der künftigen EU-Politik im Bereich Migration und Asyl Vorrang haben. An den Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière Bundesministerium des Innern Alt-Moabit 101 D 10559 Berlin Berlin, 4. Juni 2014 Sehr geehrter Herr Bundesminister, in Hinblick auf die bevorstehende Sitzung des Europäischen Rates im Juni 2014, bei dem strategische Richtlinien für die künftige Politik der EU im Bereich Inneres beschlossen werden sollen, fordern wir, die unterzeichnenden Organisationen i, die Bundesrepublik Deutschland dazu auf, ihre bestehenden Verpflichtungen für Kinder wahrzunehmen und sich dafür einzusetzen, dass Kinderrechte auf EU-Ebene Vorrang erhalten. Von den geschätzten 232 Millionen internationalen Migranten weltweit sind 35 Millionen (15 Prozent) Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren ii. Es gibt keine zuverlässigen Schätzungen über die genaue Anzahl von Flüchtlingskindern in der Europäischen Union. Die Gründe für ihre Flucht sind vielfältig, und ihr Ziel wie auch der Status ihres Aufenthalts und ihrer Staatsangehörigkeit können sich im Laufe ihrer Migrationsgeschichte ändern. Obwohl Kinder unterschiedliche und besondere Schutzbedürfnisse haben, sollte es beim Schutz von Rechten keine Hierarchie geben jedes Kind, auch im Kontext von internationaler Migration, sollte in erster Linie als Kind 1
behandelt werden. Wie der Rat bemerkt hat: Die EU-Grundrechtecharta und die UN-Kinderrechtskonvention schreiben fest, dass Kinder unabhängig von ihrem Migrationsstatus, ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Hintergrunds als Kinder behandelt werden müssen iii. Das Stockholmer Programm hat, in der Absicht, einen ganzheitlichen Ansatz sicherzustellen, zu einer breiten Anerkennung von Kinderrechten und ihrer systematischen und strategischen Einhaltung im Rahmen von EU- Maßnahmen beigetragen. Insbesondere fordert das Programm dazu auf, Kindern in besonders vulnerablen Situationen besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und betont in diesem Zusammenhang, dass alle Formen von Diskriminierung inakzeptabel sind iv. Vor allem in den Themenfeldern Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung und Opferrechte, sowie durch die Einführung von Verfahrensgarantien für asylsuchende und unbegleitete Kinder und Jugendliche sind erhebliche Fortschritte in der Gesetzgebung in den Bereichen Inneres und Justiz zu verzeichnen. Nichtsdestotrotz fallen viele Flüchtlingskinder v in vulnerablen Situationen durch die Lücken des derzeitigen Rechtsrahmens. Trotz des klaren rechtlichen Rahmens, der die Europäische Union und alle Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, die Rechte aller Kinder, die unter ihre Gerichtsbarkeit fallen, zu gewährleisten, haben entscheidende Institutionen vi betont, dass in der Europäischen Union schwere und systematische Verletzungen von Kinderrechten begangen werden, das Recht auf Leben inbegriffen. Diese Berichte und Entscheidungen haben festgestellt, dass Flüchtlingskinder in der EU aufgrund ihres eigenen Migrationsstatus oder dem ihrer Eltern oft eingeschränkten Zugang zu Justiz und zu essentiellen Leistungen wie Bildung und Gesundheitsversorgung erhalten. Beim Versuch in die EU einzureisen, werden sie oft festgehalten, in Haft genommen oder ausgewiesen und unterliegen kollektiven Ausweisungen, Push-Backs und Praktiken der Grenzkontrolle, die ihr Leben gefährden. Im Kontext von Migration sind Kinder erhöhten Risiken ausgesetzt vii. Der Einfluss unserer Gesetze, politischen Richtlinien und Praktiken auf die Rechte von Kindern, ihre Sicherheit, Gesundheit, ihr Wohlbefinden und ihre Entwicklung wird weder systematisch noch strategisch berücksichtigt. Es ist dringend notwendig, einheitliche europäische Antworten zu finden, um den gemeinschaftlichen Herausforderungen und den rechtlichen Verpflichtungen und politischen Absichtserklärungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten für jedes Kind, das unter ihre Gerichtsbarkeit fällt, gerecht zu werden. Die Mitteilung der Europäischen Kommission zur Zukunft der EU-Politik im Bereich Inneres viii empfiehlt, dass vulnerable Migranten, darunter Frauen, junge Migranten und unbegleitete Kinder, gezielte Unterstützung erhalten und dass das Prinzip der besten Interessen des Kindes der UN-Kinderrechtskonvention praktische Anwendung findet. Wir fordern die deutsche Bundesregierung dazu auf, auf diesen europäischen Verpflichtungen in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats aufzubauen und: 1. Die Verpflichtungen Deutschlands und der EU zu erneuern, um die Rechte JEDES Kindes im Kontext von Migration in Übereinstimmung mit der UN-Kinderrechtskonvention, dem Vertrag über die Europäische Union, der EU-Grundrechtecharta und anderer relevanter EU-Gesetzgebung aufrechtzuerhalten. Dies impliziert, dass jedes Kind in erster Linie wie ein Kind (und Rechtsträger) behandelt wird, und zwar unabhängig von seinem oder dem Migrations- oder Aufenthaltsstatus seiner Eltern, unabhängig davon, ob es urkundlich erfasst ist oder nicht, begleitet oder unbegleitet, Opfer von Kinderhandel oder zurück gelassen ist. Dies beinhaltet den Vorrang des Kindeswohls anzuerkennen, der darauf abzielt, dass jedes Kind alle seine in der UN-Kinderrechtskonvention verankerten Rechte ausüben kann. 2
Daraus folgt: 2. Beendigung der Diskriminierung im Zugang zu Unterstützungsleistungen, Schutz und Justiz aufgrund von Migrations- oder Aufenthaltsstatus. Es gibt vielversprechende Beispiele aus Gesetzen, Richtlinien und Praktiken innerhalb Europas, die den Zugang zu Leistungen, Schutz und Justiz für Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrem Migrations- oder Aufenthaltsstatus verbessert haben, darunter auch in der Bundesrepublik Deutschland. Die Kooperation auf EU- Ebene sollte den Austausch, die Anpassung und die Verbreitung solcher Praktiken stärken. 3. Beendigung der Inhaftierung von Kindern. Der UN-Kinderrechtsausschuss hat klargestellt, dass die Inhaftierung von Kindern auf Grund ihres oder des Migrations- oder Aufenthaltsstatus ihrer Eltern immer eine Kinderrechtsverletzung darstellt und nie dem Kindeswohl entsprechen kann. Mehrere Mitgliedstaaten haben bereits Schritte unternommen, um Abschiebungshaft für Kinder abzuschaffen und Alternativen zur Haft einzuführen, die Kinderrechte respektieren, das Recht auf Familienzusammenführung eingeschlossen, und die die Mobilität der Kinder und ihrer Eltern so wenig wie möglich beeinträchtigen, wenn überhaupt notwendig. Auch in der Bundesrepublik Deutschland gibt es positive Beispiele im Umgang mit Abschiebungshaft, wie beispielsweise in den Bundesländern Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz, die Abschiebungshaft praktisch abgeschafft haben oder diese als letztes Mittel einsetzen. Solche Ansätze - anstelle der geplanten Verschärfung der Abschiebungshaft auf Bundesebene - verdienen eine flächendeckende Einführung innerhalb Deutschlands. Insbesondere sollte die Abschiebungshaft von Minderjährigen gänzlich abgeschafft werden ix. Denn nur dann wird die Bundesrepublik ihren Verpflichtungen aus der Kinderrechtskonvention gerecht und stellt sicher, dass Kinderrechte deutschlandweit nicht verletzt werden. Auf diesen Entwicklungen aufbauend sollte die Beendigung der Abschiebungshaft für Kinder auch in der EU ein konkretes Ziel in den nächsten strategischen Richtlinien der EU im Bereich Inneres sein, auf das die Bundesrepublik hinwirken sollte. 4. Umsetzung der existierenden Verpflichtungen, um Kinderrechte für jedes Kind Wirklichkeit werden zu lassen. Die Umsetzung von bestehenden rechtlichen Garantien in EU und deutscher Gesetzgebung, insbesondere im Hinblick auf das Kindeswohl, muss verbessert werden. Die EU-Grundrechtecharta betont, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen ( ) das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein [muss]. Um diese Selbstverpflichtung zu verwirklichen, rufen wir die Bundesrepublik Deutschland dazu auf, im Rahmen des Europäischen Rates die Europäische Kommission politisch und institutionell zu unterstützen, um in Zusammenarbeit mit entscheidenden Interessenvertretern einen Home Affairs Child Rights Action Plan" zu entwickeln. Dies würde eine angemessene Einbindung und die konsequente Anwendung des Kindeswohls auf allen Ebenen der EU- Politik und -Praxis im Bereich Inneres ermöglichen, insbesondere im Rahmen aller Umsetzungsmaßnahmen (innerhalb der EU, an den Grenzen oder in Kooperation mit Drittstaaten) und in administrativen und juristischen Verfahren, die direkt oder indirekt Einfluss auf Kinder haben x. Dies würde auch die effektive Nutzung von verfügbaren Instrumenten auf EU-Ebene unterstützen, inklusive der Mechanismen für Monitoring, Evaluation und Vertragsverletzungen, um die Einhaltung der Kinderrechts-Verpflichtungen aller EU Mitgliedstaaten sicherzustellen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind weltweit Vorreiter für Kinderrechte. Auf nationaler Ebene haben mehrere Mitgliedstaaten Pionierarbeit im Bereich Kinderschutz für Flüchtlingskinder geleistet und damit demonstriert, dass die Einhaltung dieser Kinderrechte nicht nur eine juristische Notwendigkeit, sondern auch praktisch möglich ist und gleichzeitig zur Erreichung von politischen Zielen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Armutsbekämpfung, Schutz von Kindern, Justiz, Entwicklung und Migrationssteuerung beiträgt. Auf diesen positiven Entwicklungen und auch auf den Errungenschaften der europäischen Kooperation aufbauend, lässt sich ein klarer Mehrwert von 3
koordinierten Maßnahmen auf EU-Ebene ableiten. Ein kohärenter und integrierter einheitlicher europäischer Ansatz zur Förderung und zum Schutz von Kinderrechten von Flüchtlingskindern innerhalb eines breiteren EU- Kinderrechts-Aktionsplans ist daher notwendig. Die Entwicklungen im Bereich Inneres bieten eine wichtige Gelegenheit für die Europäische Union, um ihre Errungenschaften und Selbstverpflichtungen für jedes Kind Flüchtlingskinder in gefährdeten Situationen eingeschlossen zu verbessern, indem Kinderrechte eine strategische und messbare Priorität innerhalb der künftigen EU-Politik im Bereich Inneres werden. Wir hoffen, dass die Bundesrepublik Deutschland mit gutem Beispiel vorangeht, um die Bedeutung der Kinderrechte nicht nur in Deutschland sondern auch in Europa stärker zu verankern. Wir bedanken uns im Voraus für die Berücksichtigung unseres Anliegens. Mit freundlichen Grüßen Jae-soon Joo-Schauen Agisra e.v. Informations- und Beratungsstelle für Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen Claudia Kittel Vorstand Bundesverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.v. Dr. Elke Jäger-Roman Stellvertretende Generalsekretärin Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.v. Robert Werner Bundesgeschäftsführer djo-deutsche Jugend in Europa, Bundesverband e.v. Dr. Thomas Krüger Präsident Deutsches Kinderhilfswerk e.v. Birgit Naujoks Geschäftsführerin Flüchtlingsrat NRW e.v. Wenzel Michalski Deutschland-Direktor Human Rights Watch Dr. Jürgen Thiesbonenkamp Vorstandsvorsitzender Kindernothilfe e.v. 4
Prof. Dr. Jörg Maywald Sprecher National Coalition Deutschland - Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention e. V. Claudia Kittel Sprecherin National Coalition Deutschland - Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention e. V Günter Burkhardt Geschäftsführer PRO ASYL e.v. Kathrin Wieland Geschäftsführendes Vorstandsmitglied Save the Children Deutschland e.v Prof. Dr. Johannes Münder Vorstandsvorsitzender SOS-Kinderdorf e.v. Christa Stolle Bundesgeschäftsführerin TERRE DES FEMMES, Menschenrechte für die Frau e.v. Christian Schneider Geschäftsführer Deutsches Komitee für UNICEF e.v. Christoph Waffenschmidt Vorstandsvorsitzender World Vision Deutschland e.v. 5
i Dieser Brief wurde auf Brüsseler Ebene von PICUM (Platform for International Cooperation on Undocumented Migrants) im Interesse der unterzeichnenden Organisationen verfasst und versendet, darunter auch der UN-Kinderrechtssausschuss sowie eine Vielzahl von europäischen Organisationen und Ombudspersonen für Kinder. Für weitere Informationen kontaktieren Sie bitte PICUM, Rue du Congres 37-41/ 5, Brussels 1000, Belgium (www.picum.org). In Deutschland hat Save the Children Deutschland e.v. den Brief im Interesse der diesen Brief unterzeichnenden Organisationen verschickt. Für weitere Informationen kontaktieren Sie bitte Save the Children Deutschland e.v., Markgrafenstr. 58, 10117 Berlin, Deutschland (www.savethechildren.de). ii United Nations Youth and Migration, United Nations World Youth Report 2013, S.19. iii Council conclusions on unaccompanied minors, 3018th Justice and Home Affairs Council meeting, Luxembourg, 3 June 2010, para c. iv Das Stockholmer Programm Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, 2010/C 115/01, para. 2.3.2-2.3.3 v In diesem Brief bezieht sich der Ausdruck Flüchtlingskinder auf alle Kinder aus Drittstaaten, die sich in der EU oder an den Grenzen der EU aufhalten (sowohl Kinder, die internationalen Schutz suchen als auch Kinder, die Opfer von Menschenhandel sind). Der Begriff Flüchtling ist hier nicht im juristischen Sinn zu verstehen, sondern bezieht sich auf Kinder aus Drittstatten, die nach und innerhalb der EU migrieren. Die Freizügigkeitsrechte von Kindern mit EU-Staatsangehörigkeit innerhalb der EU, unbegleitet oder mit ihren Familien, sind zwar auch ein Anliegen. Da diese Kinder aber nicht in den Kompetenzbereich der EU-Innenpolitik fallen, sind sie in diesem Aufruf nicht einbezogen. vi Darunter auch die Agentur der EU für Grundrechte, die Parlamentarische Versammlung des Europarates, der Europäischer Ausschuss für soziale Rechte, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der Europäische Gerichtshof, das Europäische Netzwerk der Kinder- Ombudspersonen (European Network of Ombudspersons for Children) und die Europäische Kommission selbst. vii Auch mit Verweis auf die UNHCR ExCom Zusammenfassung Nr. 107 (LVIII) 2007, Conclusion on Children at Risk, 5. Oktober 2007. viii Mitteillung der Kommission: An open and secure Europe: making it happen COM (2014) 154 final, Brussels, 11. März 2014, S. 4. http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/e-library/documents/basic-documents/docs/an_open_and_secure_europe_- _making_it_happen_en.pdf ix So auch die Empfehlung des Deutschen Instituts für Menschenrechte zu in seinem Positionspapier: Abschiebungshaft und Menschenrechte, Autor: Hendrik Cremer, 2011. http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/policy_paper_17_abschiebungshaft_und_menschenrechte_01.pdf x UN-Kinderrechtsausschuss, General Comment Nr. 14: im Hinblick auf die staatlichen Verpflichtungen und das Recht des Kindes, auf die vorrangige Berücksichtigung seines Kindeswohls (Art. 3, Abs. 1 der Kinderrechtskonvention), CRC/C/GC/14, 29. Mai 2013, Abs. 14. 6