- Es gilt das gesprochene Wort - Ansprache anlässlich der Verleihung der Leopold-Medaille durch den Rotary Club Frankfurt (Oder)

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Transkript:

- Es gilt das gesprochene Wort - Ansprache anlässlich der Verleihung der Leopold-Medaille durch den Rotary Club Frankfurt (Oder) an Dr. Klaus Eichler am 23. April 2007 im Senatssaal der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) Anrede, der Würdigung meines Vorredners, Herrn Lange, schließe ich mich gern an. Es ist in der Tat bewunderns- und lobenswert, was Sie, Herr Dr. Eichler, zur Aufarbeitung eines tragischen Kapitels unserer Geschichte geleistet haben. Das weist weit über die Regionalhistorie hinaus. Das Schicksal der Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg über Frankfurt an der Oder nach Deutschland heimkehrten, ist ein Thema von bundesweiter Bedeutung es wird aber noch längst nicht so wahrgenommen, wie es ihm gebührt. In dieser Hinsicht bleibt noch einiges zu tun. Die Berichterstattung über den Nuhnenfriedhof hat einiges dazu beigetragen, die deutsche Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass für viele deutsche Kriegsgefangene nicht nur Friedland das Tor zur Freiheit war. Ich sage das nicht, um Ihrem regionalen Stolz zu schmeicheln, sondern der historischen Korrektheit willen: Die Heimkehrerlegende bedarf einer Ergänzung. Während Friedland für die glückliche Heimkehr, für eine Sternstunde in der deutschen Geschichte steht, ist Frankfurt (Oder) verbunden mit der tausendfachen Tragödie der im letzten Moment gescheiterten Heimkehr. Beides gehört zur deutschen Nachkriegsgeschichte. Meine sehr verehrten Damen und Herren: Es freut mich ganz besonders, dass ich, nachdem ich erst vor wenigen Tagen das Amt des Landesvorsitzenden Brandenburg im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge übernommen habe gleichsam als erste öffentliche Amtshandlung an dieser Feierstunde zu Ehren des Volks-

2 bund-mitgliedes, Herrn Dr. Eichler, teilnehmen und zu Ihnen sprechen darf. Erlauben Sie mir bitte, dass ich mich dabei vom Blick auf Frankfurt (Oder) löse und einige Angaben zur Gesamtsituation der Kriegsgefangenen mache, vor allem zu denen, die nicht mehr zurück kehrten. Ich spreche von mehr als einer Million Menschen. Sie haben auf besonders bittere Weise die Zeche für den menschenverachtenden Krieg der Nazis bezahlt. Und das noch Jahre nach Kriegsende. Sie sind gestorben fern der Heimat an ihren Verwundungen, an Krankheiten, an unmenschlichen Arbeitsbedingungen und mangelhafter Versorgung. Jahrzehnte lang herrschte Schweigen und Ungewissheit über ihr Schicksal. Wir erinnern uns noch an die verzweifelte Hoffnung der Familienangehörigen daheim, die im Gedenken an die Vermissten Kerzen in die Fenster stellten. Es gibt die fast berühmten Kriegsgefangenenfriedhöfe, die schon in den 1980-er Jahren im Vorgriff auf die Perestroika besucht werden durften: Krasnogorsk und Ljublino am Rande Moskaus etwa, wo deutsche Politiker anlässlich von Staatsbesuchen Kränze niederlegten. Oder Jelabuga in Zentralrussland, wo Kurt Reuber, der Schöpfer der Madonna von Stalingrad, starb und begraben ist. Es gibt aber auch die ungeheure Zahl von unbekannten Kriegsgefangenenfriedhöfen diesseits und jenseits des Urals. Für diejenigen Familien, die etwas über den Verbleib ihrer Angehörigen wissen, sind Ascha, Beketowka oder Uglitsch zwar nie gesehene Orte, aber dennoch vertraute Begriffe. Nur wenige haben die Möglichkeit, zu den Gräbern der Kriegsgefangenen zu reisen. Nur wenige begeben sich auf den beschwerlichen Weg hinter den Ural oder in eine der Kaukasus-Republiken. Dennoch: Manche Orte, zum Beispiel in der sibirischen Steppe, sind auf kaum einer Landkarte zu finden, in einer familiären Geographie aber nehmen sie einen ganz wichtigen, emotional besetzten Platz ein, weil dort ein Angehöriger gefallen, vermisst oder als Kriegsgefangener gestorben ist. 6 000 Kriegsgefangenenlager soll es in der Sowjetunion gegeben haben. Jedes Lager hatte mehrere Unterlager und jedes Unterlager hatte wahrscheinlich seinen Friedhof. Es gab Massenbegräbnisse, zum Beispiel in Stalingrad, wo die Lagerverwaltung von Beketowka im Februar und März 1943 nicht wusste, wohin mit all den Leichnamen. Sie wurden im Frost wie Brennholz gestapelt und nach Einsetzen des Tauwetters rasch unter die Erde gebracht. Wenn die Mitarbeiter des Volksbundes solche Begräbnisstätten öffnen, bietet sich

3 ihnen ein Bild des Grauens. An Identifizierung und Schicksalsklärung ist in solchen Fällen nicht zu denken. Es gibt aber auch die anderen, sehr ordentlich und akribisch registrierten Lagerfriedhöfe. Jedes Grab eine Nummer, die zur Person des Bestatteten führt. Viele dieser Friedhöfe sind für immer in Vergessenheit geraten und nicht mehr zu finden, manche sind überbaut worden. Andere sind jedoch nur verwildert, manche haben die Anwohner über all die Jahre erhalten und gepflegt. In etlichen Regionen der ehemaligen Sowjetunion, vor allem dort, wo es keine Kampfhandlungen oder Besatzung gab, erinnern sich die Menschen ohne Hass an die deutschen Kriegsgefangenen. Sie haben sie nicht als Okkupanten kennen gelernt, sondern als bedauernswerte Zwangsarbeiter in Erinnerung, die zudem noch aktiv am Wiederaufbau geholfen haben. Von daher rührt mitunter die bis heute anhaltende Achtung vor ihren Gräbern. Die Mitarbeiter des Volksbundes haben derzeit etwa 1 500 Kriegsgefangenenfriedhöfe in den Ländern Osteuropas erfasst: in Russland 800 Standorte, in Weißrussland 71, in der Ukraine 465, in den baltischen Staaten über 100. Weitere Anlagen befinden sich in Kasachstan, Turkmenistan und Tadschikistan. Unsere Leute machen sich auf die Suche nach den Friedhöfen. Wenn Sie fündig werden, verhandeln sie mit den örtlichen Verwaltungen, damit die Flächen gesichert werden. Mit bescheidenen Mitteln lassen sie die Anlagen in Stand setzen: ein Zaun, ein Kreuz, eine Gedenkplatte, wenn es möglich ist, eine Namenplatte und sie suchen jemanden, der den Friedhof pflegt. Etwa zweihundert Friedhöfe sind bisher auf diese Weise in Ordnung gebracht worden. Aber es ist kaum möglich, alle zu erhalten. Somit erwägt der Volksbund, künftig nur noch zentrale Friedhöfe für jede Region auszubauen, und zieht auch die Überführung der Gräber auf große Friedhöfe in Betracht, die er in den vergangenen Jahren für die Gefallenen errichtet hat. Für einen systematischen Ausbau des dichten Netzes an Kriegsgefangenenfriedhöfen, das sich über die ehemalige Sowjetunion spannt, reichen die finanziellen Mittel des Volkbundes nicht aus. Aber wer wollte auch diese meist sehr abgelegenen Orte aufsuchen? Eine andere Frage ist die der Schicksalsklärung. Noch immer gibt es auf deutscher Seite etwa 1,2 Millionen ungeklärte Schicksale aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Der größte Teil betrifft die Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Deren Schicksale vermischen sich mit den Schicksalen der Deportierten, junge Leute zumeist, die nach dem Krieg in Ostdeutschland von der Straße weg verhaftet wurden, weil sie sich politisch oppositionell geäußert hat-

4 ten oder weil man sie nur dessen verdächtigte. Sie verschwanden lautlos für Jahre in Workuta oder in den zahlreichen anderen Lagern. Zehntausende waren es, unter ihnen auch viele Frauen. Viele Lebenswege werden für immer im Dunkeln bleiben. Umso erstaunlicher ist es, in wie vielen Fällen die Aktenbestände der russischen Archive Klarheit bringen. Seit Anfang der 1990-er Jahre sind die Akten über die deutschen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten zugänglich und werden sukzessive dem Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes übermittelt. Dank dieses Datentransfers konnte das DRK in Zusammenarbeit mit der Deutschen Dienststelle in Berlin und dem Volksbund bisher etwa 200 000 Schicksale klären. Dabei spielen eine besondere Rolle: die Kartei des FSB in der Moskauer Ljublanka, das Archiv des russischen Außenministeriums, das Staatliche Militärarchiv, das Archiv des Verteidigungsministeriums in Podolsk, dies ist die wichtigste Quelle, sowie das Militärische Museum in St. Petersburg. Von dort nur um einmal ein Detail zu nennen erhielt der Suchdienst Informationen über 55 000 deutsche Gefangene, die in 6 000 Lazaretten der Roten Armee behandelt wurden und von denen mehrere tausend dort starben. Weitere Bestände befinden sich in weißrussischen und ukrainischen Institutionen. Es ist nicht leicht, den weit verteilten Schatz an Informationen zu heben, den die russischen Archive bergen. Aber es lohnt sich, als Dienst für die Hinterbliebenen und auch, um ein klares Bild von den Bedingungen zu erhalten, unter denen die Gefangenen lebten. Somit sind die Akten in den russischen Archiven längst auch Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung geworden. Unter Federführung der Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten arbeiten deutsche Historiker gemeinsam mit ihren Kollegen in Moskau, Kiew und Minsk die Personalakten auf, die sie vom DRK erhalten. Dabei geht es auch um die Unterlagen über die sowjetischen Gefangenen in Deutschland, die ebenfalls in den russischen Archiven aufbewahrt werden. 1945 wurden sie von den amerikanischen Truppen konfisziert und dann der sowjetischen Armee übergeben. Zum Blick auf das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion gehört sicher auch der Blick auf das Los der sowjetischen Gefangenen und Verschleppten in deutschem Gewahrsam. Von den fünf Millionen Gefangenen sind drei Millionen gestorben. Dank der Arbeit der Historiker konnten in den vergangenen Jahren viele Schicksale geklärt werden. Und auf Initiative des Volksbundes wurden

5 hunderte Familien in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion über den Verbleib ihrer Angehörigen unterrichtet. Meine sehr geehrten Damen und Herren: Die Zahlen, die ich anführte, können die Dimension des Leidens der Kriegsgefangenen und ihrer Familien auf beiden Seiten nur andeuten. Verschleppung und Gefangenschaft sind sehr emotionale Themen, die lange Zeit im Dialog zwischen Deutschen und Sowjetbürgern tabuisiert waren. Das scheint heute überwunden und das ist gut so. Nur der offene Umgang mit dieser schmerzlichen Phase der europäischen Geschichte und das aufrichtige Bemühen um Versöhnung können dazu führen, dass wir gemeinsam die Probleme der Gegenwart in den Griff bekommen.