Alltagswirklichkeiten von Familien mit behinderten Kindern und notwendige Unterstützungsmaßnahmen

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Transkript:

Alltagswirklichkeiten von Familien mit behinderten Kindern und notwendige Unterstützungsmaßnahmen DR. MONIKA SEIFERT KASSEL, 25. JUNI 2016 Überblick Menschen mit Behinderung im gesellschaftlichen Kontext Zusammenleben mit einem behinderten Kind Unterstützende Bedingungen Ausblick Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 2 1

Menschen mit Behinderung im gesellschaftlichen Kontext Wandel der Leitbilder Verwahrung Förderung Integration Selbstbestimmung Teilhabe Rechtliche Verankerung von Selbstbestimmung und Teilhabe SGB IX Gleichstellungsgesetze UN-Behindertenrechtskonvention Ethische Fragen im Kontext des medizinischen Fortschritts Pränatale Diagnostik Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 3 Zusammenleben mit dem behinderten Kind Subjektive Wahrnehmung der Behinderung Aufbau der Beziehung zwischen Eltern und Kind Vorbehaltlose Zuwendung Erkennen und Aufgreifen der kindlichen Signale Erschließen nonverbaler Kommunikation Entwicklung einer sicheren Bindung Beratung und Begleitung der Familien Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 4 2

Bewältigungsprozess Phasenmodell Krisenverarbeitung als Lernprozess (Schuchardt 1985) Ziel: Annahme Aktivität Solidarität Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 5 Kontextorientierte Modelle Unterschiedliche Verläufe keine typischen Phasen Ziel: Herstellung des familialen Gleichgewichts Bedingungsfaktoren Subjektive Einschätzung der veränderten Lebenssituation Lebensbedingungen Personenbezogene Merkmale Binnenfamiliale Interaktion und Beziehungen Kulturell- und milieubedingte Werte Soziale, materielle und professionelle Unterstützung Gesellschaftliche Entwicklungen Gesundheits- und Sozialpolitik Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 6 3

Gelingensfaktoren aus Elternsicht Lebensstrategien der Eltern Umgewichtung Persönlichkeit der Eltern Persönlichkeitseigenschaften Erleben persönlicher Veränderungen Veränderungen von Fähigkeiten und Fertigkeiten (Wilgosh et al. 2000; zit. nach Hackenberg 2008) Umgang mit familiären Rollen und Verantwortlichkeiten Entscheidungstechniken Veränderungen der Bezogenheit Nutzung von Ressourcen Grundüberzeugungen Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 7 Erfahrungen mit der Umwelt Mütter und Väter praktizieren Inklusion von Anfang an Erfahrungen im Umfeld teils ermutigend, teils bedrückend Manchmal bin ich nicht so gut drauf und möchte die Dinge, die mein Sohn macht, am liebsten verstecken. Dann verletzt jeder Blick, der zu viel kommt. (Mutter) Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 8 4

Situation der Mütter Neues Rollenverständnis Gesellschaftliche Erwartungen Verlust des idealen Kindes Erwerbstätigkeit als Ressource Herausforderung: Alleinerziehend Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 9 Situation der Väter Unterschiede zum Erleben von Müttern Gesellschaftliche Rollenzuschreibungen und Wertvorstellungen Auswirkungen auf die Partnerschaft Unser gemeinsames Leben ist notgedrungen sehr reduziert. Meine Frau kapselte sich total ab mit dem Kind keiner kam an sie heran. Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 10 5

Situation der Geschwister Unterschiedliche Verläufe überwiegend gute Beziehung zum behinderten Kind frühe Übernahme von Verantwortung größere soziale Reife als altersgleiche Kinder ( Tendenz zur Anpassung an familiäre Normen) Rücksichtnahme Zurückstellung eigener Wünsche Unterdrückung von Aggression gegen das behinderte Kind Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 11 Ambivalente Gefühle Bezug: Geschwisterstudie von Monika Seifert (1989) Zeichnung: in Anlehnung an FD/LH 3/89 Anforderungen Gefühle Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 12 6

Lebenslange Aufgabe der Geschwister in der Beziehung zum behinderten Bruder bzw. zur behinderten Schwester eine befriedigende Balance von Verbundenheit und Autonomie zu finden und immer wieder neu zu gestalten Dabei steht den Wünschen nach geschwisterlicher Verbundenheit und dem Gefühl der Verpflichtung zur Unterstützung eines hilfsbedürftigen Familienangehörigen das Bestreben gegenüber, das eigene Leben möglichst frei gestalten zu können. Unterstützung der Familien Frühzeitige Beratung Ressourcenorientierte und Resilienz fördernde Begleitung Geschwistergruppen (Hackenberg 2008) Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 13 Erfahrungen behinderter Menschen in der Herkunftsfamilie Berliner Kundenstudie : Befragung von jungen Erwachsenen mit geistiger und mehrfacher Behinderung, die noch im Elternhaus leben (Seifert 2010) Selbstbestimmung Betreuung durch die Eltern Beziehungen Was gefällt Ihnen nicht? Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 14 7

Soziale Unterstützung Informelles soziales Netzwerk (Großeltern, andere Verwandte, Freunde, Nachbarn, Bekannte u.a.) Ratschläge Hilfeleistungen emotionale Unterstützung Selbsthilfegruppen Austausch mit Gleichbetroffenen Informationen emotionale Unterstützung gemeinsamer Empowerment-Prozess Partner für sozialpolitisches Engagement und Öffentlichkeitsarbeit virtuelle Selbsthilfe Informationsquelle Peer-Kommunikation Vernetzung Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 15 Das Hilfenetz Differenziertes Unterstützungssystem für alle Lebensphasen und in allen Lebensbereichen Probleme der Inanspruchnahme Disparität der regionalen Hilfestrukturen Ungleichheit der Zugangschancen Unzureichende Passung zwischen Angebot und Unterstützungsbedarf Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 16 8

Besondere Lebenslagen: Familien in Armut und Benachteiligung Mittelschichtorientierung der Angebote nicht den Bedürfnissen entsprechend Permanente Auseinandersetzung mit existenziellen Problemen wenig Energie, auf die Bedürfnisse der Kinder hinreichend zu achten Überfordernde Lebensbedingungen im Verbund mit weiteren Risikofaktoren auf Seiten der Eltern oder des Kindes kontraproduktive Erziehungsversuche Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung erhöhtes Risiko, Gewalt zu erleiden Kumulierende Problemlagen Betreuung des Kindes außerhalb der Familie Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 17 Lebensphasen Veränderungen Entscheidungsfragen an Übergängen Kindergarten Schule Arbeitsplatz Auszug aus dem Elternhaus Wohnform Prozesse der Ablösung Neudefinition der Rollen Altwerden der Eltern Zukunftsfragen Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 18 9

Was Familien brauchen Familienorientierte Beratung Praktische Entlastung / Unterstützung Emotionale Entlastung / Unterstützung Einbindung in soziale Netzwerke Stärkung der Selbsthilfepotenziale Ausbau inklusiver Angebote (Bildung Freizeit Arbeit Wohnen) Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 19 Ausblick Gegenwärtige Reformprozesse neue Chancen? Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) Eingliederungshilfe (BTHG) Pflegeversicherung (PSG I III) Notwendige Weiterentwicklungen Gesellschaftliches Klima, das Verschiedenheit anerkennt Sozialpolitische und infrastrukturelle Rahmenbedingungen, die unterschiedliche Lebensentwürfe ermöglichen Solidarität und Aktivität von Verantwortungsträgern Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 20 10

Es ist (...) nicht die Behinderung eines Kindes, die die Familie gefährdet, sondern vielmehr die Antwort der Gesellschaft auf diese Behinderung. (Engelbert 1999) Kassel, 25.06.2016 DR. MONIKA SEIFERT 21 11