Berliner Zentrum Public Health 95-1. Glossar qualitativer Verfahren. Jutta Schäfer



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Transkript:

Berliner Zentrum Public Health 95-1 Glossar qualitativer Verfahren Jutta Schäfer Veröffentlichungsreihe des Berliner Zentrums Public Health ISSN 0949-0752

Inhaltsverzeichnis Vorwort...1 Stichprobenbildung Dimensional Sampling...2 (in Zusammenarbeit mit Martin Mühlpfordt) Theoretical Sampling...4 (in Zusammenarbeit mit Susanne Baring) Erhebungsverfahren Biographisches Interview...6 (in Zusammenarbeit mit Birgit König) Ethnographisches Interview...9 (in Zusammenarbeit mit Birgit König) Experteninterview...11 (in Zusammenarbeit mit Christine Busch) Fokussiertes Interview...14 (in Zusammenarbeit mit Birgit König) Gruppendiskussion...16 (in Zusammenarbeit mit Christine Busch) Narratives Interview...19 (in Zusammenarbeit mit Birgit König) Problemzentriertes Interview...22 (in Zusammenarbeit mit Birgit König) Struktur-Dilemma-Interview...24 (in Zusammenarbeit mit Birgit König) Teilnehmende Beobachtung...27 (in Zusammenarbeit mit Christine Busch) Auswertungsverfahren Computerunterstützte Textinterpretation...31 (in Zusammenarbeit mit Christina Boldt) Konversationsanalyse...33 (in Zusammenarbeit mit Christina Boldt) Objektive Hermeneutik...35 (in Zusammenarbeit mit Christina Boldt) Qualitative Inhaltsanalyse...37 (in Zusammenarbeit mit Christina Boldt) Theoretisches Kodieren...40 (in Zusammenarbeit mit Susanne Baring) Typenbildung...43 (in Zusammenarbeit mit Christina Boldt)

Allgemeine Forschungsstrategien Grounded Theory...45 (in Zusammenarbeit mit Christina Boldt) Komparative Kasuistik...48 (in Zusammenarbeit mit Ronald Plewinski) Qualitatives Experiment...51 (in Zusammenarbeit mit Christine Busch)

Vorwort Im Rahmen meiner beratenden Tätigkeit im Projekt "Qualitative Methoden in den Gesundheitswissenschaften" * ist mir immer wieder aufgefallen, daß viele am Forschungsprozeß Beteiligte qualitativen Verfahren distanziert gegenüber stehen oder nicht über die notwendigen Kenntnisse verfügen. Dies mag im wesentlichen daran liegen, daß den qualitativen Methoden in der wissenschaftlichen Ausbildung nach wie vor nicht die nötige Aufmerksamkeit zuteil wird. Die Kolleginnen und Kollegen, die sich in die Materie einarbeiten wollen, stehen unter anderem vor dem Problem, daß die qualitative Methodologie inzwischen ein sehr umfangreiches Gebiet ist, über das einen Überblick zu gewinnen nicht eben leichtfällt. Dieses Glossar soll dabei eine Hilfestellung bieten. Ich hoffe, daß es darüber hinaus zur Förderung der Diskussion und Verständigung über Verfahren qualitativer Forschung beiträgt. Die vorliegende Arbeit möchte eine Übersicht geben. Sie ist keine erschöpfende Darstellung aller Einzelverfahren. Dies ist auch darin begründet, daß Methoden dem Forschungsgegenstand angemessen sein müssen, um ihn adäquat erfassen zu können. Insofern kann es sinnvoll oder gar notwendig sein, vorhandene Verfahren anzupassen oder auch neue zu entwickeln. Hier wird jeder Versuch einer Systematisierung qualitativer Verfahren seine Grenzen haben. Zur leichteren Orientierung für den Leser schien mir eine Zuordnung der einzelnen Begriffe zu den Bereichen Allgemeine Forschungsstrategien, Stichprobengewinnung, Erhebungs- und Auswertungsverfahren sinnvoll. Die jeweilige Zuordnung konnte nicht immer eindeutig erfolgen - einige Verfahren könnten auch anderen oder mehreren Bereichen zugerechnet werden. Das Glossar ist unter der Mitarbeit von ForschungspraktikanntInnen und studentischen Hilfskräften entstanden. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden, die bei der Durchsicht und Überarbeitung einzelner Begriffe behilflich waren. Berlin, im Mai 1995 Jutta Schäfer * Querschnittsprojekt des Berliner Forschungsverbundes Public Health. Gefördert vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Projektleitung: PD Dr. U. Flick

1. Kurzcharakteristik Dimensional Sampling Arnold stellte 1970 das D.S. als eine Strategie der Stichprobenbildung vor, die im Rahmen von Studien zur Entwicklung von Theorien eingesetzt werden kann. Die systematische Auswahl einer kleinen Anzahl von Fällen erfolgt anhand einer Typologie, die aus den möglichen Ausprägungen bedeutsamer Dimensionen eines Untersuchungsgegenstandes gebildet wird. Ziel ist es, den Gegenstandsbereich, zu dem generalisierende Aussagen getroffen werden sollen, nach theoretischen Kriterien zu repräsentieren. 2. Zentrale Aspekte Arnold (1970) entwickelt das D.S. als Kompromiß zwischen der Einzelfallstudie und der statistischen Analyse einer großen Anzahl von Fällen. Beide Verfahren haben Nachteile für die Entwicklung von Theorien. Diese liegen bei Studien mit großem Stichprobenumfang v.a. in der erforderlichen Konzentration auf relativ wenige Merkmale jedes einzelnen Falles. Einzelfallstudien ermöglichen zwar eine komplexe Untersuchung des Forschungsgegenstandes, Generalisierungen können allerdings nicht als abgesichert gelten. Das D.S. verbindet die Vorteile beider Verfahren - die relative Nähe zum Untersuchungsgegenstand, die Möglichkeit seiner komplexen Erfassung und die Generalisierbarkeit. Die Stichprobenbildung erfolgt in drei Schritten: Definition der Grundgesamtheit, auf die generalisiert werden soll. Bestimmung der inhaltlichen Dimensionen, bezüglich derer die Fälle dieser Grundgesamtheit variieren. Entwurf einer Typologie, die die verschiedenen Kombinationen von Ausprägungen dieser Dimensionen enthält. Die Bestimmung der inhaltlichen Dimensionen ist für den Anspruch, den Forschungsgegenstand theoretisch zu repräsentieren, zentral. Die Stichprobenziehung kann diesem Anspruch nur dann genügen, wenn die relevanten Dimensionen tatsächlich erfaßt wurden. Somit sind die zunächst ausgewählten Dimensionen als vorläufig zu betrachten und im Forschungsprozeß gegebenenfalls zu ergänzen bzw. zu modifizieren. Ausgehend von einer Matrix der relevanten Dimensionen werden die Fälle so ausgewählt, daß jede Zelle durch eine kleine Anzahl entsprechender Fälle repräsentiert ist. Dabei kann die Stichprobengewinnung sequentiell, d.h. als eine Folge von Fallstudien, durchgeführt werden. Eine andere Möglichkeit ist die Aufteilung der Fälle in einem Team und ihre anschließende Zusammenführung. Darüber hinaus schlägt Arnold (1970) vor, die verschiedenen Fälle mit unterschiedlichen Techniken zu untersuchen. 3. Methodische Stärke Das D.S. ermöglicht eine der Konzeptualisierung des Forschungsgegenstandes angemessene Stichprobenbildung. Die erarbeitete Typologie zur Stichprobenziehung gewährleistet ein systematisches Vorgehen, das vergleichsweise leicht nachvollziehbar und damit kontrollierbar ist. Die Vorläufigkeit der verwendeten Dimensionen gewährleistet die für eine Theorie-generierung notwendige Offenheit gegenüber den Daten. Somit ist das Verfahren gleicher-maßen für Theorieprüfung und Theorieentwicklung geeignet. 4. Problematische Aspekte Bei explorativen und theoriegenerierenden Studien, insbesondere wenn es sich um noch kaum erforschte Gegenstandsbereiche handelt, ist eine (vorläufige) Bestimmung

relevanter Dimensionen häufig nicht möglich oder sinnvoll. Die sukzessive, theoretische Fallauswahl des?theoretical Sampling wäre dann die Alternative. 5. Anwendung Das D.S. kann in vergleichenden Fallstudien angewendet werden. Anwendungsgebiete sind v.a. die Soziologie, die Politikwissenschaften, die Verwaltungswissenschaften, die Kultur-anthropologie und die Psychologie. Literatur Arnold, D. O. (1970). Dimensional Sampling: An Approach For Studying A Small Number Of Cases. The American Sociologist, 5, 147-150. Boos, M. & Fisch, R. (1987). Die Fallstudie in der Organisationsforschung. In A. Windhoff- Héritier (Hrsg.), Verwaltung und ihre Umwelt: Festschrift für Thomas Ellwein zum 60. Geburtstag (S. 350-375). Opladen: Westdeutscher Verlag.

1. Kurzcharakteristik Theoretical Sampling Das T.S. ist eine Strategie der Stichprobengewinnung, die von Glaser und Strauss (1967) im Rahmen des Ansatzes der?grounded Theory konzipiert wurde. In Abgrenzung zur statistischen Stichprobengewinnung wird mit dem T.S. die sukzessive Erhebung von für den Gegenstandsbereich einer Untersuchung theoretisch repräsentativen Untersuchungseinheiten angestrebt. Wesentliches Charakteristikum ist ein schrittweises und zirkuläres Vorgehen, bei dem durch die Entwicklung theoretischer Konzepte Kriterien für die Auswahl von Untersuchungseinheiten abgeleitet werden. Deren vergleichende Analyse wiederum ermöglicht die Ausarbeitung und Verfeinerung der theoretischen Konzepte. Mittlerweile wird das T.S. als die grundlegende Methode qualitativer Fallauswahl angesehen (vgl. z.b. Flick, 1991). 2. Zentrale Aspekte Das T.S. realisiert den Grundgedanken der Grounded Theory, durch das empirische Material kontrollierte Theorien über die Verschränkung von Datenerhebung, Datenanalyse und systematischer Vergleichsbildung zu entwickeln. T.S. bezeichnet das sukzessive Heranziehen von Untersuchungseinheiten (Fällen, Gruppen, Ereignissen, Handlungen etc.). Zu Beginn des Forschungsprozesses orientiert es sich an theoretischen Vorüberlegungen, im weiteren Forschungsverlauf an den Ergebnissen der vergleichenden Analyse und damit zunehmend an gezielteren Hypothesen, die sich aus den entstehenden theoretischen Konzepten ergeben. Stichprobengewinnung und Entwicklung der Theorie werden so systematisch aufeinander bezogen und kontrollieren sich wechselseitig. Entsprechend dieser Konzeption der Stichprobengewinnung als Prozeß werden von Strauss und Corbin (1990) drei Formen bzw. Phasen der Stichprobengewinnung unterschieden und den Teilschritten des?theoretischen Kodierens zugeordnet: Das "Open Sampling" steht am Anfang des Forschungsprozesses. Nicht spezifizierte Annahmen zum Gegenstandsbereich leiten die Auswahl von Untersuchungseinheiten, die eine möglichst breite Erfassung potentiell relevanter Phänomene des Untersuchungsgegenstandes anstrebt. Ziel des sich anschließenden "Relational" und "Variational Sampling" ist die Differenzierung und Validierung der beim axialen Kodieren (?Theoretisches Kodieren) ge-wonnenen Kategorien und ihrer Dimensionen, sowie der durch die gezielte Einbeziehung neuer Fälle und Ereignisse beobachteten Querbezüge zwischen den Kategorien. Das "Discriminate Sampling" schließlich wird in Verbindung mit dem selektiven Kodieren (?Theoretisches Kodieren) angewandt. Indem neue oder bereits erhobene Daten hinzu-gezogen werden, werden die erarbeiteten theoretischen Konzepte und ihre Beziehungen untereinander verfeinert und überprüft. Das T.S. dient also der unmittelbar auf den empirischen Daten beruhenden Identifikation, Entwicklung und Verknüpfung theoretischer Konzepte. Das T.S. läßt sich im Kern als eine Strategie der kontinuierlichen Vergleichs-bildung bezeichnen. Das Vorgehen beinhaltet die Bildung minimaler und maximaler Kontraste zwischen Fällen, Gruppen, Ereignissen, Handlungen etc. Dabei sind es v.a. die maximalen Kontraste, die die Integration und Aussagekraft der entstehenden Theorie wesentlich bestimmen. Auf diese Weise können relevante Bedingungen unter denen die Theorie für den erforschten Gegenstandsbereich Gültigkeit besitzt aufgezeigt werden. Die Stichprobenauswahl erfolgt nach dem Kriterium der "Proven Theoretical Relevance" (Strauss & Corbin, 1990, S. 176). Damit ist gemeint, daß Kategorien als theoretisch bedeutsam erachtet werden können, wenn die auf sie verweisenden Phänomene bei der vergleichenden Analyse wiederholt identifizierbar oder eben nicht identifizierbar sind und diese Kategorien daher den Stellenwert eines theoretisch relevanten Konzeptes erhalten. Das T.S. kann abgeschlossen werden, wenn

eine "Sättigung" der theoretischen Konzepte erreicht ist. Mit dem Kriterium der "theoretischen Sättigung" sind drei Aspekte angesprochen. Zum einen, daß auch die Einbeziehung weiterer Fälle nicht zu einer Modifikation der erarbeiteten theoretischen Konzepte führt, zum zweiten, daß die Kategorienentwicklung insgesamt vollständig ist, indem alle wesentlichen Gesichtspunkte des untersuchten Gegenstands-bereiches einschließlich ihrer Variationen berücksichtigt wurden und schließlich, daß die Beziehungen zwischen den theoretischen Konzepten als bestätigt gelten können. 3. Methodische Stärke Das T.S. ist in der Lage, zu dem Untersuchungsgegenstand eine seiner Konzeptualisierung angemessene Stichprobenauswahl zu liefern. Die sukzessive Ermittlung relevanter Untersuchungseinheiten durch die fortschreitende Datenanalyse sowie umgekehrt die Berichtigung und Differenzierung der sich entwickelnden Konzeptualisierungen durch den gezielten Vergleich mit weiteren Fällen des Untersuchungsbereiches gewährleisten einen optimalen Bezug zwischen der sozialen Realität und ihrer Konzeptualisierung. Zudem kann der Umfang der Stichprobe(n) sinnvoll begrenzt werden. 4. Problematische Aspekte Da die Möglichkeiten zur Vergleichsbildung prinzipiell unbegrenzt sind, besteht das wesentliche Problem in der Formulierung sinnvoller Kriterien, nach denen die Untersuchungseinheiten einbezogen werden. Theoretischer Bezugspunkt sind die sich entwickelnde Theorie und die daraus abgeleiteten Annahmen zur Plausibilität und Relevanz der anvisierten nächsten Fälle. Die Stimmigkeit bei der Auswahl, der theoretisch relevanten Untersuchungseinheiten und dementsprechend die Erklärungsrelevanz der zu entwickelnden Theorie hängt in hohem Maße von der Fähigkeit des Forschers ab, die für den Gegegenstandsbereich tatsächlich relevanten Zusammenhänge, Fälle und Ereignisse zu entdecken. Ein problematischer Aspekt des T.S. auf forschungspraktischer Ebene besteht darin, daß aufgrund der sich nach theoretischen Kriterien vollziehenden Stichprobengewinnung sowohl der Stichprobenumfang als auch der zeitliche Rahmen eines Forschungsvorhabens im voraus schlecht abgeschätzt werden kann. 5. Anwendung s. Theoretisches Kodieren. Literatur Flick, U. (1991). Fallorientierte Auswahl: Erfahrungen und Verfahrensvorschläge zum "theoretical sampling" bei Interviewstudien. Forschungsbericht aus dem Institut für Psychologie, 91-2. Berlin: Technische Universität. Glaser, B. & Strauss, A. (1967). The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research. Chicago: Aldine. Lamnek, S. (1993). Qualitative Sozialforschung. Bd. 1: Methodologie. (2., überarbeitete Aufl.). Weinheim: Beltz, Psychologie Verlags Union. Strauss, A. & Corbin, J. (1990). Basics of Qualitive Research. Grounded Theory Procedures and Techniques. Newbury Park: Sage. Wiedemann, P. (1995). Gegenstandsnahe Theoriebildung. In U. Flick, E. v. Kardorff, H. Keupp, L. v. Rosenstiel & S. Wolff (Hrsg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung (2. Aufl.) (S. 440-445). Weinheim: Beltz, Psychologie Verlags Union.

1. Kurzcharakteristik Biographisches Interview Mit Hilfe des B.I. wird die Erfassung der Lebensgeschichte eines Individuums angestrebt. Vertreter der biographischen Methode sind Thomae (z. B. 1987) und Fuchs (1984). Das B.I. ermöglicht ein Verständnis von Problemstellungen und Situationen aus der "entstehungsgeschichtlichen" Sicht des Einzelnen. Das Verfahren ist in der Lage, die Prozeßhaftigkeit sozialen Lebens zu analysieren. Es wird v.a. in der Erforschung der Lebensgeschichten von Mitgliedern spezieller Personengruppen eingesetzt. 2. Zentrale Aspekte Mit Hilfe des B.I. werden Lebensgeschichten erhoben. Dabei steht das individuelle Verhalten und dessen Begründung im Mittelpunkt des Forschungsinteresses (vgl. Thomae, 1987). Das B.I. wird in der Regel in der Form eines?narrativen Interviews durchgeführt, seltener als Leitfaden-Interview. Die Wahl der Methode ist auch hier vom Erkenntnisinteresse abhängig. Für die Erhebung einer möglichst umfassenden Lebensgeschichte ist eher das Narrative Interview geeignet, wohingegen sich z.b. für die Erforschung des Umgangs mit bestimmten Lebensereignissen das Leitfaden-Interview als günstiger erweisen kann. Für die spezielle Thematik des B.I. ist es in jedem Fall sinnvoll, mehrere Interviewtermine einzuplanen, damit sich ein Vertrauensverhältnis zwischen Interviewer und Befragtem entwickeln kann. Der Interviewte sollte vor Beginn des Interviews ausführlich über das Forschungsinteresse und über eine mögliche Veröffentlichung der Daten aufgeklärt werden. Insbesondere muß in diesem Zusammenhang die Anonymisierung der Daten angesprochen werden. Diese Regeln gelten selbstverständlich auch für andere Interviewformen, doch kommt ihnen im B.I. eine besondere Bedeutung zu, da hier der Befragte einer im Regelfall fremden Person umfassend von sich und seinem Leben berichten soll. Bei der Durchführung muß der Interviewer sowohl dem gebotenen Respekt vor der Person des Befragten als auch der sachlichen Notwendigkeit, hinlänglich umfassende Daten zu erheben, Rechnung tragen. Er betrachtet den Interviewpartner als Experten seiner Lebensgeschichte und greift niemals korrigierend oder beurteilend in die Erzählung ein. Neben der obligatorischen Bandaufnahme sollte im Anschluß an das Interview ein Bericht über die situativen Bedingungen des Interviews und die Beobachtungen erstellt werden (vgl. Fuchs, 1984). Darüber hinaus wird zur Unterstützung des selbstreflektierten Arbeitens eine genaue Dokumentation des Forschungsverlaufes in Form eines Forschungstagebuchs empfohlen. 3. Methodische Stärke Nach Thomae (1952) ist das B.I. in der Lage, die Differenziertheit und Variabilität psychischen Erlebens zu erfassen. Es ermöglicht ein Verständnis von Problemstellungen und Entwicklungen aus der Sicht des Einzelnen. Als Gütekriterien gelten, wie beim?narrativen Interview v.a. der Erzählcharakter der Daten und die Stimmigkeit und Nachvollziehbarkeit von biographischen Entwicklungen. Zentral zur Sicherung der Validität sind die Freiwilligkeit und Spontaneität der Aussagen. Der Befragte sollte in der Interviewsituation keinen Anlaß zu Täuschungen haben. 4. Problematische Aspekte Die Probleme des B.I. bestehen in der Hauptsache darin, daß immer Vergangenes berichtet wird, so daß die Erlebnisse im Nachhinein eine von ihrer ursprünglichen verschiedene Bewertung erfahren können. Ferner erschwert der persönlichkeitsbezogene

Charakter biographischer Daten häufig ihre Verallgemeinerung. Die jeweilige biographische Fragestellung sollte immer im Kontext der ganzen Lebensgeschichte betrachtet werden. Aus forschungsökonomischen Gründen ist aber eine Beschränkung bei der Erhebung und Auswertung des Datenmaterials nach inhaltlichen Kriterien notwendig. Weitere Schwierigkeiten können aus dem Bemühen des Interviewers erwachsen, die Vielfalt konkreter Details möglichst rasch in abstrakte Begriffe zu fassen. Auch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Schichten kann zu Verständnisschwierigkeiten zwischen Interviewer und Befragtem führen. Die Beschäftigung mit persönlichen Schicksalen kann u.u. sehr belastend sein. Fuchs (1984) empfiehlt daher, biographische Forschung nach Möglichkeit in einer Gruppe durchzuführen. 5. Anwendung Anwendungsgebiete des B.I. sind schwer zugängliche Bereiche, beispielsweise Randgruppen oder das Handeln innerhalb der Regeln von Institutionen (Schule, Gefängnis, Klinik). Weiter gestattet das B.I. den Rückschluß auf grundlegende Persönlichkeitsstrukturen sowie eine Rekonstruktion der Lebensgeschichte aus subjektiver Sicht. Untersuchungsziele können einfache Deskriptionen von Erlebnissen und Verhaltensweisen, Subsumtionen von Individuen unter Typen oder auch die Entdeckung funktioneller Verhaltensweisen sein. Anfang der achtziger Jahre führte Bude (1987) offene Interviews mit Männern, die in der Endphase des zweiten Weltkrieges zum Dienst an der Flak eingesetzt waren, nach Kriegsende ihre Ausbildung beendeten und in der Bundesrepublik Karriere machten. Bude versuchte anhand der Schilderungen ihrer Lebensgeschichte die Frage zu beantworten, wie diese Männer ihr Leben konstruieren, d.h. von welchen Überzeugungen, Einsichten und Lebensauf-fassungen diese "vaterlose, sprachlose und geschichtslose Generation" (ebda.) bestimmt ist. Bude entdeckt als typisches, sich in der Vielgestaltigkeit der individuellen Lebensgeschehen abzeichnendes Muster eine "tiefe Verunsicherung des Selbst", die durch den "kollektiven Riß" von 1945 ausgelöst wurde (ebda.). Die verschiedenen Lebenskonstruktionen interpretiert er als unterschiedliche Arten des Schutzes dieses Selbst. Literatur Bude, H. (1987). Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfergeneration. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Fuchs, W. (1984). Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Opladen: Westdeutscher Verlag. Gerhardt, U. (1985). Erzähldaten und Hypothesenkonstruktion. Überlegungen zum Gültigkeitsproblem in der biographischen Sozialforschung. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 37, 230-256. Kruse, A. (1987). Biographische Methode und Exploration. In G. Jüttemann & H. Thomae (Hrsg.), Biographie und Psychologie (S. 119-137). Berlin: Springer. Legewie, H. (1987). Interpretation und Validierung biographischer Interviews. In G. Jüttemann & H. Thomae (Hrsg.), Biographie und Psychologie (S. 138-150). Berlin: Springer. Thomae, H. (1952). Die biographische Methode in den anthropologischen Wissenschaften. Studium generale, 5, 163-177. Thomae, H. (1987). Psychologische Biographik als Synthese idiographischer und nomothetischer Forschung. In G. Jüttemann & H. Thomae (Hrsg.), Biographie und Psychologie (S. 108-116). Berlin: Springer.

Hopf, C. (1978). Die Pseudo-Exploration - Überlegungen zur Technik qualtitativer Interviews in der Sozialforschung. Zeitschrift für Soziologie, 7 (1), 97-115. Hopf, C. (1995). Qualitative Interviews in der Sozialforschung. Ein Überblick. In U. Flick, E. von Kardorff, H. Keupp, L. von Rosenstiel & S. Wolff (Hrsg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung (2. Aufl.) (S. 177-182). Weinheim: Psychologie Verlags Union. Lamnek, S. (1993). Qualitative Sozialforschung. Bd. 1: Methodologie (2., überarbeitete Aufl.). München: Psychologie Verlags Union. Wiedemann, P. M. (1987). Entscheidungskriterien für die Auswahl qualitativer Interviewstrategien. Forschungsbericht aus dem Institut für Psychologie, 87-6. Berlin: Technische Universität.

1. Kurzcharakteristik Ethnographisches Interview Das E.I. wird mit dem Ziel durchgeführt, fremde Kulturen zu beschreiben und zu verstehen. Es ist wenig strukturiert und wird in der Regel in Kombination mit teilnehmender Beobachtung im Feld angewandt. Ein prominenter Vertreter dieser Methode ist Spradley (1979). Der Aufenthalt des Forschers im Feld ermöglicht einen besonders guten Einblick in den Alltag der befragten Personen. 2. Zentrale Aspekte Das E.I. soll im Rahmen einer?teilnehmenden Beobachtung dazu beitragen, eine Kultur aus der ihr eigenen Perspektive zu verstehen. Unter Kultur versteht Spradley (1979) Wissen, das Menschen für die Interpretation von Erfahrungen und die Entwicklung sozialen Verhaltens erwerben und nutzen. Mit dem E.I. kann prinzipiell jede Gruppe untersucht werden, die für sich ein solches Wissen etabliert hat. Für eine erfolgreiche Feldforschung mit Hilfe des E.I. ist es wichtig, daß der Interviewer von den Informanten als naiv und lernbedürftig angesehen wird ("inkompetent aber akzeptabel", Lofland, 1979). Untersuchungen in Gruppen, die dem Forscher gut bekannt sind oder deren Mitglied er ist, sind daher in der Regel problematisch. Der ethnographische Interviewer ist immer auch teilnehmender Beobachter. Er ist in hohem Maße von der Auskunftsbereitschaft und vom Wohlwollen seiner Gesprächspartner abhängig, da diese für ihn die Rolle "eines Lehrers, Betreuers, Vermittlers oder Ratgebers" (Spöhring, 1989) übernehmen. Die Auswahl geeigneter Informanten ist daher entscheidend für den Erfolg einer Untersuchung. Der wesentliche Zugang zum Wissen der Mitglieder über ihre Kultur liegt in dem Erlernen und der Analyse ihrer Sprache (z.b. des Soziolekts). Sprachen kategorisieren Erfahrungen unterschiedlich und vermitteln ihren Sprechern somit eine andere subjektive Realität. Die Entdeckung des Bedeutungsgehaltes von Worten und Syntagmen ermöglicht einen Zugang zu den Bedeutungen, die die Erfahrungen für die Gruppenmitglieder haben (vgl. Spradley, 1979). Im Verlauf einer ethnographischen Untersuchung werden zunächst kulturelle Daten gesammelt und analysiert. Darauf aufbauend formuliert der Forscher Hypothesen und schreibt schließlich eine "Ethnographie". Dabei sind die Phasen der Datensammlung und der Analyse nicht voneinander zu trennen, da erste Auswertungen bereits durchgeführter Interviews den weiteren Gang der Datenerhebung bestimmen. Spradley (1979) empfiehlt, ein Forschungstagebuch anzulegen, in dem Beobachtungen, Entdeckungen und erste Interpretationen festgehalten werden. Die abschließende Ethnographie sollte möglichst in der Sprache der untersuchten Gruppe geschrieben werden. Dies ist natürlich im Hinblick auf die Adressaten einer solchen Arbeit nur begrenzt möglich. Jede ethnographische Beschreibung verlangt also in der Regel eine Übersetzung. Das Verfassen einer Ethnographie erfordert somit die Vertrautheit sowohl mit der Kultur der untersuchten Gruppe als auch mit der der Adressaten. 3. Methodische Stärke E.I. gewährleisten durch ihre Kombination mit der?teilnehmenden Beobachtung einen guten Einblick in den Alltag der befragten Personen. Weiter erlaubt es die Flexibilität der ethnographischen Methode die Strategien und die Richtung der Untersuchung kurzfristig zu ändern, wenn dies vielversprechend scheint. Als wesentliches Gütekriterium der ethnographischen Methode gilt die ökologische Validität, die durch die Teilnahme des Forschers an dem Alltagsleben der Gruppe weitgehend gewährleistet ist. Darüberhinaus soll die Übereinstimmung der Daten aus der Beobachtung und der Befragung deren Validität bestätigen (Hammersley & Atkinson, 1983). Häufig wird zusätzlich eine

"Respondenten-Validierung" (ebda.) vorgenommen, indem der Informant aufgefordert wird, Deutungen des Interviewers zu bestätigen oder ihnen zu widersprechen (vgl. auch Spradley, 1979). 4. Problematische Aspekte Der in vielen Fällen allein arbeitende Forscher beeinflußt schon mit seiner Persönlichkeit den Gang des Untersuchungsprozesses. Dadurch können verschiedene zeitgleiche Untersuchungen einer Kultur zu verschiedenen Ergebnissen kommen (vgl. Aster, Merkens & Repp, 1989). Ein häufiges Problem in der Anwendung der ethnographischen Methode ist der Zugang zu den Daten. Oft ist es nicht möglich, Zutritt zu Gruppen zu erhalten oder mit bestimmten Personen zu sprechen. In einem solchen Setting ist der Forscher vergleichsweise machtlos, und seine Informanten haben eventuell Gründe sich wenig kooperativ zu zeigen. Solche Zugangsschwierigkeiten können dazu führen, daß ein Forschungsvorhaben aufgegeben werden muß (vgl. z.b. Berk & Adams, 1979; Wax, 1979). Eine weitere Gefahr ist die des "going native", d.h. der Forscher verliert seine Distanz zu der untersuchten Gruppe. In jedem Fall ist eine Beschreibung der Kultur schwieriger, wenn ihre Perspektive unreflektiert übernommen wird (vgl. Hammersley & Atkinson, 1983). 5. Anwendung Der zentrale Anwendungsbereich der ethnographischen Methode liegt in der Beschreibung der Lebensweise fremder Kulturen. Neben der Deskription sehen Hammersley & Atkinson (1983) die Einsatzmöglichkeiten auch in der Theorieentwicklung und -prüfung. Molgaard & Byerley (1981) führten eine Studie in einer aus der Jugendbewegung der 60er Jahre hervorgegangenen "New Age"-Gemeinschaft im Bundesstaat Washington durch, die sie über zehn Monate beobachteten. Während dieser Zeit interviewten sie 23 Personen mit Hilfe ethno-wissenschaftlicher Methoden. Das besondere Interesse dieser Untersuchung galt dem Verständnis von Gesundheit und Heilmethoden in einer Gemeinschaft, die durch die Abgeschiedenheit ihrer Lebensweise für die staatliche Gesundheitsversorgung schwer zu erreichen ist. Ihre Ergebnisse leisteten einen Beitrag zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Schulmedizinern und den Mitgliedern einer alternativen Lebensgemeinschaft. Literatur Aster, R., Merkens, H. & Repp, M. (Hrsg.). (1989). Teilnehmende Beobachtung. Werkstattberichte und methodologische Reflexionen. Frankfurt/M.: Campus. Berk, R. A. & Adams, J. M. (1979). Kontaktaufnahme mit devianten Gruppen. In K. Gerdes (Hrsg.), Explorative Sozialforschung (S. 94-109). Stuttgart: Enke. Gerdes, K. (Hrsg.). (1979). Explorative Sozialforschung. Stuttgart: Enke. Hammersley, M. & Atkinson, P. (1983). Ethnography - Principles in practice. London: Tavistock. Lofland, J. (1979). Der Beobachter: inkompetent aber akzeptabel. In K. Gerdes (Hrsg.), Explorative Sozialforschung (S. 75-76). Stuttgart: Enke. Molgaard, C. & Byerley, E. (1981). Applied ethnoscience in rural America: New Age health and healing. In D. A. Messerschmidt (Hrsg.), Anthropologists at home in North America: Methods and Issues in the Study of One s Own Society (S. 153-166). Cambridge University Press. Spöhring, W. (1989). Qualitative Sozialforschung. Stuttgart: Teubner. Spradley, J. P. (1979). The ethnographic interview. New York: Holt, Rinehart & Winston.

Wax, S. (1979). Das erste und unangenehmste Stadium der Feldforschung. In K. Gerdes (Hrsg.), Explorative Sozialforschung (S. 68-74). Stuttgart: Enke.

1. Kurzcharakteristik Experteninterview Das E. ist ein offenes, leitfadenorientiertes Interview mit einer Person, die bezüglich einer speziellen Fragestellung Experte ist oder diese Rolle vom Forscher zugeschrieben bekommt. Der Gegenstand von E. sind Handlungen und Wissensbestände von Experten im Sinne von Erfahrungsregeln, die das Funktionieren von sozialen Systemen bestimmen. Eine Monographie zu E. liegt von Dexter (1970) vor. 2. Zentrale Aspekte Gegenstände des E. sind die Aufgaben, Tätigkeiten, Verantwortlichkeiten und die sich daraus ergebenden Erfahrungen und Wissensbestände von Experten. In Abgrenzung zu anderen Interviews ist beim E. der Experte nicht als Gesamtperson Gegenstand des Verfahrens. Er ist ausschließlich in seiner Funktion im institutionellen Kontext für den Forscher von Interesse. Als Experten können vom Forscher Personen identifiziert werden, die über einen privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen oder Entscheidungsprozesse verfügen, oder die in irgendeiner Weise Verantwortung für die Planung, die Implementierung oder die Kontrolle einer Problemlösung tragen. Zur Identifikation von Experten sind die Methoden nach Drewe (1974) hilfreich. Er unterscheidet im Bereich der Eliteforschung zwischen drei verschiedenen Methoden der Identifizierung von Eliten: Mit der Reputationstechnik werden Personen einer Elite zugerechnet, die anderen System-mitgliedern als einflußreich gelten. Mit der Entscheidungstechnik werden Personen, die erfolgreich an einem Entscheidungs-prozeß teilgenommen haben, einer Elite zugerechnet. Die Positionstechnik identifiziert diejenigen Personen als einer Elite zugehörig, die aufgrund ihrer Position Einflußmöglichkeiten in einem sozialen System haben. Der Experte wird nicht als externer Gutachter herangezogen, sondern ist Teil eines Handlungsfeldes. Er (re)präsentiert eine Institution bzw. ein soziales System. In industriesoziologischen Untersuchungen handelt es sich oft um Personen der mittleren Führungsebene, da diese Personen über das größte und detaillierteste Wissen über interne Strukturen verfügen, betriebsrelevante Entscheidungen planen und durchsetzen. Experten müssen aber nicht zu einer Funktionselite gehören. So ist ein Sachbearbeiter Experte für Fragen, die seinen Arbeitsplatz betreffen. Nach Meuser und Nagel (1991) lassen sich E. nach ihrer Stellung und Funktion im Forschungsdesign unterscheiden. E. können eine explorativ-felderkundende Funktion haben. Die Experten liefern dem Forscher Kontextwissen für eine andere Zielgruppe. Es soll dem Forscher erlauben, seine Untersuchung vorzustrukturieren. Nicht theoretische Erklärungen und Generalisierungen der empirischen Tatsachen sind das Ziel dieser Form von E., sondern "dichte" Beschreibungen. Wenn die Experten die Zielgruppe der Untersuchung sind, dann nennen Meuser und Nagel deren Erfahrungswissen Betriebswissen. Die Analyse von Wissens- und Handlungsstrukturen der Experten erfolgt anhand analytischer Kategorien für die jeweiligen Handlungssysteme. Ein auf das untersuchte soziale Feld bezogener Aussagenkomplex kann mit E. auf seinen Geltungsbereich geprüft werden. Die Untersuchung soll Hypothesen, theoretische Erklärungen und Generalisierungen der empirischen Tatsachen liefern. Diese forschungslogische Unterscheidung von E. beeinflußt die Entwicklung des Interviewleitfadens und die Tiefe der Auswertung. Meuser und Nagel (ebda.) betonen, daß das E. nicht ohne Leitfaden durchgeführt werden sollte. Zum einen eignet sich der Forscher bei der Leitfadenentwicklung Wissen über das

betreffende Thema an. Zum anderen wird ein Leitfaden dem thematisch begrenzten Interesse des Forschers an dem Experten gerecht. 3. Methodische Stärke Eine methodische Stärke des E. liegt in seinen vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten. Durch die Befragung verschiedener Experten über identische Sachverhalte ("Mehrperspektiven-ansatz") können alternative Wahrnehmungsmuster in einem sozialen System kontrastiert und so die objektiven Bedingungen in dem betreffenden System ermittelt werden. 4. Problematische Aspekte Zu Beginn der Untersuchung gibt es meist ein starkes Informationsgefälle zwischen Experten und Interviewer. Spezielle Themen und die Fachsprache der Experten erschweren das Verständnis. Gezieltes Nachfragen ist daher schwierig; Informationen können, vom Interviewer unbemerkt, zurückgehalten oder verzerrt werden. Der Interviewer sollte gewisse Fachkenntnisse mitbringen, um vom Experten als Gesprächspartner ernstgenommen zu werden. Auch beim E. birgt ein Leitfaden die Gefahr, daß der Interviewpartner sich der Sprache und Logik des Forschers anpaßt, statt seiner eigenen Logik zu folgen. Personen, die nicht zur Funktionselite in einer Organisation gehören, fällt es oftmals schwer, die Rolle des Experten im Interview einzunehmen, da sie es nicht gewohnt sind, eine Gesprächssituation zu strukturieren, Probleme zu benennen und Fragen aufzuwerfen. Mitglieder der Funktionselite dagegen neigen oft zur Selbstdarstellung. Eine spezielle Gefahr bei E. ist das Abschweifen des Interviewpartners in Erzählungen, die nichts mit seiner Funktion in der interessierenden Institution zu tun haben. Der Auswertung von E. wird in der Literatur, im Gegensatz zum Feldzugang und der Gesprächsführung, noch wenig Aufmerksamkeit gewidmet. 5. Anwendung E. werden zur Erfassung und Analyse von Expertenhandeln und -wissen (Betriebswissen) eingesetzt. Bei industriesoziologische Untersuchungen (vgl. Kern & Schumann, 1985) gilt das E. als Standardverfahren. E. werden oft in der Verwendungsforschung, der Implementierungsforschung, der Elitenforschung, der Professionalisierungsforschung und der Bildungs-forschung angewendet. Darüber hinaus sind sie dann indiziert, wenn ein soziales Feld exploriert werden soll (Kontextwissen). Meuser führte eine Untersuchung zur Implementierungspraxis frauenförderlicher Maßnahmen in der öffentlichen Verwaltung durch. Zur Datenerhebung wurden Interviews mit Entscheidungsträgern in der öffentlichen Verwaltung und in Weiterbildungsinstitutionen erhoben. Das Forschungsinteresse lag auf dem Betriebswissen der für die Implementierung der Gleichstellungsklausel zuständigen Verwaltungsbereiche. Dazu gehören Entscheidungs-abläufe in den entsprechenden Kommissionen, organisationsspezifische Barrieren und Versuche, die Gleichstellungsklausel zu mißachten oder durchzusetzen (vgl. Meuser, 1989). Literatur Dexter, L. A. (1970). Elite and Specialized Interviewing. Evanston: Northwestern University Press. Drewe, P. (1974). Methoden zur Identifizierung von Eliten. In J. v. Koolwijk & M. Wieken- Mayser (Hrsg.), Techniken der empirischen Sozialforschung (Bd. 4) (S. 162-176). München: Oldenbourg Verlag.

Kern, H. & Schumann, M. (1985). Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion.. München: Beck Verlag. Meuser, M. & Nagel, U. (1991). ExpertInneninterviews - vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In D. Garz & K. Kraimer (Hrsg.), Qualitativ-empirische Sozialforschung: Konzepte, Methoden, Analysen (S. 441-471). Opladen: Westdeutscher Verlag. Meuser, M. (1989). Gleichstellung auf dem Prüfstand. Frauenförderung in der Verwaltungspraxis. Pfaffenweiler: Centaurus.

1. Kurzcharakteristik Fokussiertes Interview Das F.I. nach Merton, Fiske und Kendall (1956) ist ein leitfadengestütztes, halbstrukturiertes Einzel- oder Gruppeninterview, in dem subjektives Erleben zu einer zuvor präsentierten Situation erfragt wird. Es wurde im Rahmen der Kommunikationsforschung und Propaganda-analyse der 40er Jahre entwickelt. Neuere Formen des F.I. werden beispielsweise im Rahmen?Teilnehmender Beobachtung zu spezifischen, gemeinsam erlebten Situationen eingesetzt. 2. Zentrale Aspekte In seiner ursprünglichen Form ist das F.I. ein Gruppeninterview, es ist jedoch nicht an die Gruppensituation gebunden. Eingangs werden die Befragten mit einer bestimmten Situation (einem Film, einer Radiosendung o.ä.) konfrontiert. Das Interview wird zu dem Zweck durchgeführt, das Erleben dieser Situation zu erfragen. Der Interviewer stützt sich dabei auf einen Leitfaden, der mittels einer Inhaltsanalyse der Situation erstellt wird. Diese Inhaltsanalyse dient darüberhinaus der Entwicklung von Hypothesen über das mögliche Verhalten und Erleben der Probanden in der Ausgangssituation. Nach Merton et al. (1956) muß das Interviewmaterial vier Kriterien genügen: es soll valide sein, spezifisch sein, ein breites Spektrum erfassen sowie den Bezugsrahmen des Interviewten widerspiegeln ("Tiefgründigkeit"). Um die Einhaltung der Kriterien zu gewährleisten, schlagen sie verschiedene Techniken vor. Dabei steht ein nicht-direktives Verhalten des Interviewers im Vordergrund. Um dem Informanten die genaue Beschreibung der ursprünglichen Situation zu erleichtern, können z.b. Ausschnitte noch einmal präsentiert werden. In den Formulierungen der Fragen soll ausdrücklich die Ausgangssituation und die Reaktion darauf angesprochen werden. Dabei soll dem Befragten die Chance gegeben werden, auch unerwartete Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen, um die Überprüfung der Hypothesen und die Generierung von neuen Hypothesen zu ermöglichen. 3. Methodische Stärke Hopf (1991) sieht die Vorteile des F.I. v.a. darin, daß durch die Verbindung von gegenstandsbezogener Explikation und nicht-direktiver Gesprächsführung sowohl sehr spezifische Informationen zugänglich werden als auch unerwartete Reaktionen des Betroffenen möglich sind. Nach Merton et al. (1956) wird das F.I. den Ansprüchen an Nicht-Beeinflussung, Spezifität, Erfassung eines breiten Spektrums sowie Tiefgründigkeit in hohem Maße gerecht (vgl. auch Wiedemann, 1987). 4. Problematische Aspekte Das F.I. stellt recht hohe Anforderungen an den Interviewer. Er muß zum einen die Breite des Spektrums der Reaktionen berücksichtigen und zum andern diese Reaktionen im einzelnen analysieren. Merton und Kendall (1984) empfehlen zur Vermeidung von Interviewerfehlern eine Schulung an transkribiertem Interviewmaterial. Wiedemann (1987) vertritt die Ansicht, daß die von Merton und Kendall an das Interviewmaterial angelegten Kriterien sich nicht gleichzeitig einlösen lassen, vielmehr könnten immer nur Kompromisse, etwa zwischen "Reichweite" und "Spezifität", angestrebt werden (vgl. auch Hopf, 1978). Er hält deshalb die fokussierenden Interviewstrategien zwar für angemessen, wenn das Kriterium der Spezifität im Vordergrund steht, doch wäre zur Abbildung eines personalen Bezugsrahmens seiner Ansicht nach das??arrative Interview vorzuziehen. 5. Anwendung

Das F.I. wurde im Rahmen der Erforschung sozialer und psychologischer Wirkungen von Massenkommunikationsmitteln entwickelt. Neuere Anwendungsgebiete liegen in Gesprächen über Aufzeichnungen zum Tagesablauf oder über andere persönliche Dokumente, sowie in Interviews zu spezifischen, gemeinsam erlebten Situationen im Rahmen?Teilnehmender Beobachtung (vgl. Hopf, 1995). Hargreaves et al. (1981) führten in zwei Schulen eine Studie durch, die der Frage nachging, wie ein Lehrer zur Beurteilung einer bestimmten Schülerhandlung bzw. eines Schülers als "abweichend" gelangt. Die in der Tradition der Labelling-Theorie stehende Untersuchung kombinierte Teilnehmende Beobachtung mit F.I., in denen die Lehrer aufgefordert wurden, zu Unterrichtssituationen, in denen die Forscher eine Devianzzuweisung vermuteten, Stellung zu nehmen. Im Ergebnis konnte die Studie Aussagen über Regeln, die in der Schule und speziell im Unterricht gelten, über die Reaktionen der Lehrer auf abweichendes Verhalten, sowie über die Prozesse der Devianzzuweisung und der Typisierung abweichender Schüler treffen. Literatur Hargreaves, D. H., Hester, S. K. & Mellor, F. J. (1981). Abweichendes Verhalten im Unterricht. Weinheim: Beltz. Hopf, C. (1978). Die Pseudo-Exploration - Überlegungen zur Technik qualitativer Interviews in der Sozialforschung. Zeitschrift für Soziologie, 7, 97-115. Hopf, C. (1995). Qualitative Interviews in der Sozialforschung. Ein Überblick. In U. Flick, E. v. Kardorff, H. Keupp, L. v. Rosenstiel, L. & S. Wolff (Hrsg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung (2. Aufl.) (S. 177-182). Weinheim: Psychologie Verlags Union. Merton, R. K., Fiske, M. & Kendall, P. L. (1956). The focused interview. A manual of problems and procedures. Glencoe, Ill.: The Free Press. Merton, R. K. & Kendall, P. L. (1984). Das fokussierte Interview. In C. Hopf & E. Weingarten (Hrsg.), Qualitative Sozialforschung (S. 171-204). Stuttgart: Klett-Cotta. Wiedemann, P. M. (1987). Entscheidungskriterien für die Auswahl qualitativer Interviewstrategien. Forschungsbericht aus dem Institut für Psychologie, 87-1. Berlin: Technische Universität.

1. Kurzcharakteristik Gruppendiskussion Die G. ist ein Gespräch einer Gruppe von Untersuchungsteilnehmern zu einem Thema, das der Diskussionsleiter benannt hat. Lewin (1936 / 1969) setzte erstmals das Verfahren der G. in sozialpsychologischen Kleingruppenexperimenten mit dem Ziel gruppenprozessuraler Analysen ein. Die G. als Methode der Sozialforschung steht in der Tradition der soziologischen Meinungsforschung. Für Pollock (1955) ist die G. ein Verfahren zur Erfassung individueller Einstellungen und Meinungen. Mangold (1960) sieht die G. als ein Verfahren zur Erfassung informeller Gruppenmeinungen. Aus interaktionistischer Perspektive sieht Nießen (1977) die G. als Verfahren zur Erfassung situationsgebundener Aushandlungsprozesse. Für Krüger (1983) dient die G. der Beschreibung und Interpretation der sozialen Wirklichkeit, wie sie sich in der Sicht der Betroffenen als Handlungszusammenhang präsentiert. 2. Zentrale Aspekte Pollock (1955) entwickelte aus der Kritik an der Validität und Relevanz der Ergebnisse von Einzelbefragungen das "Gruppenexperiment". Dabei interessierte ihn die individuelle Meinung und die tieferliegenden Bewußtseinsinhalte, die seiner Auffassung nach nur im Kontext alltäglicher, konkreter Kommunikationsprozesse aufzudecken sind. Die G. ist eine dem Alltag ähnliche Kommunikationssituation, in der Meinungen entstehen und erfaßt werden können. Es lassen sich im wesentlichen folgende Weiterentwicklungen unterscheiden: Mangold (1960) hält die G. zur Erfassung von Einzelmeinungen nicht für geeignet, da sie der Anforderung, einen objektiven Vergleich von Einzelergebnissen in und zwischen den Gruppen zu gewährleisten, nicht entsprechen könne. Er sieht die G. als Verfahren zur Erfassung der informellen Gruppenmeinung. Eine Zerlegung des kollektiven Prozesses der Meinungsäußerung in die Meinungen einzelner ist nicht möglich. Die Gruppenmeinung ist das Produkt kollektiver Interaktionen unter Gruppenkontrolle. Meinungen sind bereits in der Realität unter Menschen der gleichen sozialen Situation ausgebildet und werden in der Dis-kussionssituation lediglich aktualisiert. Um Alltagsnähe zu gewährleisten, fordert Mangold sozial homogene Gruppen, denn die Funktion informeller Gespräche, Maßstäbe für die eigene Meinungsbildung zu finden, erfordert Gesprächspartner der gleichen sozialen Situation. Nießen (1977) kommt aus interaktionistischer Perspektive zu der Auffassung, daß die informelle Gruppenmeinung in der Situation der G. erst generiert wird. Die G. bietet die Möglich-keit, soziale Konstitutionsprozesse von Einstellungen, Deutungs- und Handlungsmustern über die in der Erhebungssituation auftauchenden Sinnzusammenhänge und Bedeutungszu-schreibungen zu erschließen. Nach Nießen ist es für die Anwendung der G. unerläßlich, daß die Teilnehmer eine reale Gruppe darstellen und vom Gegenstand der Diskussion als Gruppe betroffen sind. Dreher und Dreher (1982) sehen in der Diskussion eine Handlung zur Klärung eines Sachver-haltes. Sie nennen folgende Sonderformen der G.: 1. Eine Kombination von Einzelbefragung und G., die v.a. in der Familienforschung angewendet wird: die Übereinstimmungstechnik (consensus interview): Nach einer G. werden Einzelbefragungen mittels Fragebogen durchgeführt, um herauszufinden, bei welchen Inhalten und in welchem Ausmaß Übereinstimmungen bzw. Abweichungen vorliegen. die Widerspruchstechnik (diffence reveal technique): Nach Einzelbefragungen wird eine G. durchgeführt, um vorgefundene Widersprüche in Anwesenheit des Interviewers zu klären.

2. Delphi-Technik: Ohne direkte Interaktion der Teilnehmer wird der Diskussionsprozeß und der eventuelle Konsensus simuliert, indem mehrere Einzelbefragungen mit den Teilnehmern durchgeführt werden. Diese Form des Verfahrens ist alltagsfern und stellt keine Diskussion im eigentlichen Sinne dar. Krüger (1983) kritisiert die Beschränkung der theoretischen und methodischen Diskussion auf die Erfassung von Meinungen, Einstellungen und Bewußtsein. Mit dem Verfahren der G. sei es möglich, die soziale Wirklichkeit, die die Gruppenmitglieder als bewußtseins- und handlungsrelevant diskutieren, zu erfassen. Krüger setzt G. auch in Verbindung mit Tiefen- oder Intensivinterviews ein. Die G. wird in der Methodentriangulation v.a. mit der Beobachtung und mit dem Einzelinterview kombiniert. Für das Gelingen von G. ist die Auswahl der Teilnehmer entscheidend. Vor- und Nachteile von existierenden Realgruppen gegenüber ad hoc zusammengesetzten Gruppen müssen je nach Erkenntnisinteresse abgewogen werden. Die optimale Anzahl von Teilnehmern wird in der Literatur meist mit fünf bis zehn angegeben. In einer zu kleinen Gruppe kommen keine Gegensätze auf. Die Teilnehmer empfinden eventuell einen Kommunikationszwang. In einer zu großen Gruppe dagegen kann der informelle Charakter der Gesprächssituation beeinträchtigt werden. Weitere entscheidende Elemente einer G. sind die Rolle des Diskussionsleiters und das Thema der Diskussion. Nach Dreher und Dreher (1982) liegen die Aufgaben des Diskussionsleiters entweder in der formalen Leitung, in der thematischen Steuerung oder in der Steuerung der Dynamik der Interaktionen. 3. Methodische Stärke Nach Pollock (1955) sind Gruppensituationen alltagsähnlicher als Einzelinterviews, da handlungsrelevante Meinungen und Einstellungen sich erst in sozialen Situationen konstituieren. Die Diskussionssituation trägt zum Abbau psychischer Kontrollen bei und provoziert spontane, unkontrollierte Reaktionen, die auf den latenten Inhalt geäußerter Meinungen schließen lassen. Entsprechend den Postulaten der Offenheit und der Kommunikativität qualitativer Methodologie ist in der G. der Untersuchungsteilnehmer Subjekt einer Unter-haltung. Lamnek (1993) betont drei Vorzüge dieses Verfahrens: die Möglichkeit, gruppendynamische Prozesse zu untersuchen, die größere Tiefenwirkung im Gegensatz zu anderen Verfahren, der relativ geringe ökonomische Aufwand, da im Vergleich zum Einzelinterview ein größerer Bereich verschiedener Reaktionsweisen erfaßt werden kann. Nach Krüger (1983) hat das Verfahren der G. gegenüber der Einzelbefragung den methodischen Vorzug, daß die Diskussionsteilnehmer teamartig die Diagnose und Rekonstruktion der Handlungssituation erarbeiten. Der theoretische Vorzug der G. besteht darin, daß die Forschungsleistung primär von den Gruppenmitgliedern selbst geleistet wird. Der Forscher übersetzt und faßt lediglich diese Gruppenleistung in Kategorien zusammen und entwickelt daraus ein theoretisches Begriffssystem. Die G. läuft so weniger als die Einzelbefragung Gefahr, die handlungs- und bewußtseinsrelevante Umwelt der Betroffenen zu übersehen. 4. Problematische Aspekte Dreher und Dreher (1982) nennen als zentrales theoretisches Problem den ungeklärten Begriff der "Gruppe". Ein weiteres theoretisches Problem stellt der Einfluß des Diskussionsthemas dar. Dazu gehört der Grad der Informiertheit über bestimmte Themen, das Ausmaß der subjektiven Betroffenheit, die jeweilige Zielsetzung der Diskussion und die Konfundierung von Aufgaben und Gruppeneffekten. Bei der Kontaktaufnahme mit Gruppen und bei der Absicherung der technischen und räumlichen Voraussetzungen zur Durchführung und Aufnahme einer G. können organisatorische Probleme auftreten. Die

Moderation einer G. und das korrekte Verfassen von Wortprotokollen, z.b. die Zuordnung von Sprecher und Beitrag können schwierig sein. Für Krüger (1983) ist die Auswertungsproblematik nicht gelöst. Sie kritisiert das Mißverhältnis von differenziertem Material und zu kurz greifenden Aus-wertungsmethoden. Verfahren, wie die?inhalts- und Interaktionsanalyse eliminieren den Kontext, der erfaßt werden soll. Bohnsack greift die Auswertungsproblematik auf und entwickelt neuere Verfahren der Textinterpretation weiter (vgl. Bohnsack, 1993). 5. Anwendung Dreher und Dreher (1982) nennen folgende Anwendungsbereiche der G.: Die Erhebung von Individualdaten über Meinungen und Einstellungen. Die Exploration mit dem Ziel, die Konstruktion von Erhebungsinstrumenten vorzubereiten. Ferner wird die G. als Ergänzung zur Fragebogenerhebung eingesetzt. Die Erhebung informeller Gruppenmeinungen. Darüber hinaus ist die G. ein Verfahren zur Erforschung von Gruppenprozessen. Bohnsack und Mangold untersuchten Mitte der 80er Jahre kollektive Lebensorientierungen in Jugendgruppen. Dazu führten sie G. mit Jugendlichen in einer fränkischen Kleinstadt durch. Die Jugendlichen berichteten über ihr gemeinsames Erleben in verschiedenen Bereichen (Schule, Beruf) und machten ihre handlungsrelevanten Lebensorientierungen deutlich. Bohnsack (1993) betont, daß die Jugendlichen durch das Verfahren der G. in ihrer Sprache und Metaphorik und in ihren milieu- und geschlechtsspezifischen Diskursstilen bleiben konnten. Zur Interpretation wurden thematisch relevante Passagen und solche, in denen ein ausgeprägtes Engagement der Gruppe dokumentiert war, ausgewählt (vgl. ebda.). Literatur Bohnsack, R. (1993). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung (2., überarbeitete Aufl.). Opladen: Leske & Budrich. Dreher, M. & Dreher, E. (1982). Gruppendiskussion. In G. L. Huber & H. Mandl (Hrsg.), Verbale Daten. Eine Einführung in die Grundlagen und Methoden der Erhebung und Auswertung (S. 141-164). Weinheim: Beltz. Krüger, H. (1983). Gruppendiskussionen. Überlegungen zur Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit aus der Sicht der Betroffenen. Soziale Welt, 34, 90-109. Lamnek, S. (1993). Qualitative Sozialforschung. Bd. 2: Methoden und Techniken (2., überarbeitete Aufl.). Weinheim: Psychologie Verlags Union. Lewin, K. (1969). Grundzüge der topologischen Psychologie. Stuttgart: Huber. Mangold, W. (1960). Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt. Mangold, W. (1962). Gruppendiskussion. In R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung (Bd. 1) (S. 209-225). Stuttgart: Enke Verlag. Nießen, M. (1977). Gruppendiskussion. München: Wilhelm Fink Verlag. Pollock, F. (1955). Gruppenexperiment - Ein Studienbericht. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt.