Innerdiskursive Kontroversen

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Transkript:

Innerdiskursive Kontroversen Der Diskurs über die Aufnahme von Flüchtlingen zwischen Bürgerkrieg und Eine linguistische Diskursgeschichte Von der Philosophischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen zur Erlangung des akademischen Grades einer Doktorin der Philosophie genehmigte Dissertation vorgelegt von Regina Ryssel, geb. Kind Berichter: Universitätsprofessor Dr. Thomas Niehr Universitätsprofessor Dr. Martin Wengeler Tag der mündlichen Prüfung: 11.12.2014 Diese Dissertation ist auf den Internetseiten der Hochschulbibliothek online verfügbar

III Vorwort Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war. Wenn Sie ein Buch beginnen und wissen am Anfang, was Sie am Ende sagen werden, hätten Sie dann den Mut, es zu schreiben? Was für das Schreiben gilt und für eine Liebesbeziehung, das gilt für das Leben überhaupt. Das Spiel ist lohnend, weil wir nicht wissen, was am Ende dabei herauskommt Michel Foucault in einem Gespräch mit Rux Martin (25.Oktober 1982) in Dits et Ecrits III, Nr. 193, S. 124. Mit einer Idee fing es an und endete mit einer Dissertation über Kontroversen innerhalb eines Diskurses. Am Anfang hatte ich völlig andere Vorstellungen von dem, was dabei herauskommen sollte, und heute bin ich dankbar für die Zeit der Neugierde, der Zweifel und Fragen, der Aha-Erlebnisse und Erkenntnisse. Ich bin dankbar für die Erfahrung des Perspektivenwechsels sowie für das Wissen um die möglichen kontroversen Sichtweisen, die einen Diskurs beleben und das Spiel lohnend machen. Es ist eine schöne Tradition, sich am Anfang einer Veröffentlichung bei den Menschen zu bedanken, die einen begleitet, unterstützt und ermutigt haben. So möchte ich mich hier und jetzt von Herzen bei meinem Mann Gregor bedanken, der in endlosen Diskussionen meine Themen mit durchleuchten musste und mir mit Geduld und Liebe immer wieder Motivation zum Weitermachen gab. Bedanken möchte ich mich auch bei meinen Kindern, Simon-Thaddeus, Gereon und Lili- Sophie, die mir mit liebevollem Verständnis die Zeit für meine innerdiskursiven Kontroversen ließen und mich mit Humor durch so manche Durststrecke brachten. Bedanken möchte ich mich besonders bei meinen Eltern, die mich immer darin bestärkten, weiterzumachen und bei meinen Schwiegereltern, die nie an dem Projekt zweifelten. Schließlich möchte ich auch meinen beiden Gutachtern Prof. Dr. Thomas Niehr und Prof. Dr. Martin Wengeler dafür danken, dass sie mich zu dem Thema inspiriert haben und meine Neugierde für die Diskursanalyse weckten. Prof. Dr. Niehr hat meine Arbeit lange und geduldig begleitet und mir die Zuversicht gegeben, dass man auch mit drei Kindern und sechs Umzügen auf drei Kontinenten eine wissenschaftliche Arbeit zu Ende bringen kann. Danke. Regina Maria Ryssel

V Inhaltsverzeichnis Einleitung... 1 I. Diskursgeschichtliche Rahmenbedingungen... 6 1. Außenpolitische Konditionen: Jugoslawien ein Konstrukt... 6 1.1 Der erste jugoslawische Staat (1918-1929): Vom Nationalstaat der Slowenen, Kroaten und Serben zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen... 6 1.2 Die Königsdiktatur (1929-1934)... 8 1.3 Auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie (1934-1941)... 8 1.4 Unter deutscher Besatzung (1941-1945)... 10 1.5 Die Föderative Republik Jugoslawien unter Josip B. Tito (1945-1980)... 12 1.6 Die Jahre nach Tito bis zum Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (1980-1990)... 15 1.7 Die Vorbereitungen zum Bürgerkrieg... 16 1.7.1 Die Wirtschaft... 16 1.7.2 Der Auflösungsprozess des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ)... 19 1.7.3 Das Kosovo... 22 1.8 Der Ausbruch des Krieges in Bosnien-Herzegowina und die Flüchtlingswellen 1991/1992... 23 1.9 Fazit... 26 2. Innenpolitische Konditionen: Deutschland das Asylgesetz... 27 2.1 Die Asyldiskussion Anfang der 90er Jahre... 27 2.2 Internationale Verpflichtungen und die Transformation in nationales Recht... 29 2.3 Der Diskurs um die (1992)... 31 2.4 Fazit... 33 II. Theoretische Voraussetzungen... 35 3. Sprachtheoretisches Grundverständnis... 35 3.1 Die Organisation der Forschungslinie... 35 3.2 Sprachphilosophische Grundlagen der diskurslinguistischen Theoriebildung... 41 3.2.1 Die sprachliche Konstruktion von Wirklichkeit... 41 3.2.2 Die Rezeption sprachtheoretischer Grundgedanken Wilhelm von Humboldts im Hinblick auf die Theoriebildung der historischen Semantik und Diskursgeschichte... 41 3.2.3 Die Rezeption der Sprachspieltheorie Ludwig Wittgensteins im Hinblick auf die Theoriebildung der historischen Semantik und Diskursgeschichte... 44 Exkurs I: Leo Weisgerbers Zwischenwelten... 48 3.2.4 Die Rezeption Ferdinand des Saussures im Hinblick auf die Theoriebildung der historischen Semantik und Diskursgeschichte: la langue est un fait sociale... 50 Exkurs II: Ergänzende Überlegungen zur diskurstheoretischen Saussure- Rezeption... 53 3.2.5 Sprechhandlungskonzepte als Elemente der diskurslinguistischen Theoriebildung... 55 3.2.6 Die Rezeption von Karl Bühler: Situationalität und Kontextualität als Faktoren der Wirklichkeitskonstruktion... 55 3.2.7 Die Rezeption von John L. Austin: Die Dimension der Beurteilung... 56 3.2.8 Die Rezeption von Paul Grice: Die Dekodierung der Bedeutung... 58 3.3 Sozialphilosophische Grundlagen der diskurslinguistischen Theoriebildung... 60 Exkurs III: Die Diskursethik von Jürgen Habermas: Lebenswelt und Ideal... 60

VI Inhaltsverzeichnis 3.3.1 Die Rezeption Michel Foucaults: Der Kick für die Diskurslinguistik... 63 3.3.1.1 Der Stoff, aus dem Diskurse sind... 64 3.3.1.2 Diskursanalyse... 68 3.3.2. Zusammenfassung... 69 4. Sprachgeschichte im Rahmen einer sozialwissenschaftlich orientierten Sprachwissenschaft: Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit... 73 4.1 Der Diskursbegriff als sprachwissenschaftliches Objekt... 73 4.2 Wort- und Begriffsgeschichte... 74 4.3 Historische Semantik als Diskursgeschichte... 79 4.3.1 Historische Semantik als Modell kommunikativer Interaktion... 80 4.3.2 Methodische Überlegungen zur Entwicklung einer linguistischen Diskursanalyse (Dietrich Busse/Wolfgang Teubert)... 84 Diskurse als Textkorpora... 85 4.4 Begriffsgeschichte ist Mentalitätsgeschichte (Fritz Hermanns)... 87 4.5 Der diskursgeschichtliche Ansatz der Düsseldorfer Schule... 89 4.5.1 Sprachthematisierungen (Georg Stötzel)... 89 4.5.2 Das DFG-Projekt: Kontroverse Begriffe... 91 4.5.3 Methodische Überlegungen: Die drei linguistischen Analyseebenen... 92 4.5.3.1 Lexemebene... 92 4.5.3.2 Metaphernebene... 93 4.5.3.3 ationsebene... 94 4.5.4 Diskurse als Aussagenkomplexe (Matthias Jung)... 96 4.5.5 Diskurslinguistische Metaphernanalyse (Karin Böke)... 100 Methodische Überlegungen zur Metaphernanalyse... 102 4.5.6 Die ationsanalyse als Toposanalyse (Martin Wengeler)... 105 Zur Theorie der Toposanalyse... 108 4.5.7 Die vergleichende diskursgeschichtliche ationsanalyse (Thomas Niehr)... 114 4.5.7.1 Zur Methodik der Diskursanalyse auf ationsebene... 116 4.5.7.2 Die prototypischen e... 117 4.5.8 Zusammenfassung... 119 III. Die Analyse des Aufnahmediskurses... 120 5. Einführung in die Analyse... 120 5.1 Angewandte Methodik der Diskursanalyse auf der ationsebene... 120 5.1.1 Das Korpus... 120 5.1.2 Die Access-Datenbank... 121 5.1.3 Textsorten und Mischformen... 122 5.1.3.1 Der Kommentar... 123 5.1.3.2 Der zitierte Kommentar... 124 5.1.3.3 Der Leserbrief... 124 5.1.3.4 Das Presse-Interview... 124 5.1.4 Die Diskursorganisation: Eine Leitfrage und mehrere zentrale Fragen... 125 5.1.5 Die inhaltliche Zusammensetzung des Aufnahmediskurses... 127 5.1.6 Themenschwerpunkte und Teildiskurse... 132 6. Die ationsanalyse des Kriegsflüchtlingsdiskurses (a)... 135 6.1 Die Identifikation der... 136 6.2 Die prototypisch formulierten e des Kriegsflüchtlingsdiskurses 1992... 139 6.2.1 Liste der prototypisch formulierten e des Kriegsflüchtlingsdiskurses 1992... 140

Inhaltsverzeichnis VII 6.2.2 Maßnahmen als Stützungen... 143 6.2.3 Die prototypisch formulierten Einzelargumente des Kriegsflüchtlingsdiskurses 1992... 144 6.2.4 Die Pro-e für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen in die Bundesrepublik Deutschland... 145 Maßnahmen: pro Aufnahme... 154 6.2.5 Die Contra-e gegen die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen in die Bundesrepublik Deutschland... 156 6.3 Quantitative Auswertung der Relation /... 166 6.4 Qualitative Analyse der Relation /Verwendung... 169 6.4.1 Die Verwendung von en... 169 6.4.1.1 Die originäre (argumentative) Verwendung... 169 6.4.1.2 Die positiv zitierende Verwendung... 170 6.4.1.3 Die neutral zitierende Verwendung... 170 6.4.1.4 Die negativ zitierende Verwendung... 170 6.4.2 Beispiel für eine Textanalyse... 171 6.5 Qualitative Analyse der Relation /Verwendung... 176 6.6 Auswertung des Kriegsflüchtlingsdiskurses 1992... 177 7. Die ationsanalyse des sdiskurses (b)... 182 7.1 Die Identifikation der des sdiskurses... 184 7.2 Die prototypischen e des sdiskurses 1992... 188 7.2.1 Liste prototypisch formulierter e des sdiskurses 1992... 189 7.2.2. Varianten eines prototypisch formulierten s des sdiskurses... 190 7.2.3 Die Pro-e für die Änderung des Artikels 16 Grundgesetz (zur Begrenzung der Aufnahme von Asylsuchenden und Flüchtlingen)... 192 7.2.4 Die Contra-e gegen die Änderung des Artikels 16 Grundgesetz... 211 7.3 Quantitative Analyse der Relation /... 225 7.4 Qualitative Analyse der Relation /Verwendung... 227 7.5 Auswertung des sdiskurses 1992... 228 8. Innerdiskursive Kontroversen: Die Analyse des Aufnahmediskurses... 235 8.1 Die Analyse des Schnittmengenkorpus der beiden Teildiskurse des Aufnahmediskurses... 237 8.1.1 Die Pro-Kriegsflüchtlingsaufnahme/Pro-s- Kombination (pro/pro) (8 Artikel)... 238 8.1.2 Die Pro-Kriegsflüchtlingsaufnahme/Contra-s- Kombination (pro/contra) (5 Artikel)... 239 8.1.3 Die Pro-Kriegsflüchtlingsaufnahme/Neutral-s- Kombination (pro/neutral) (2 Artikel)... 241 8.1.4 Die Pro-Kriegsflüchtlingsaufnahme/Keine-s- Kombination (1 Artikel)... 242 8.1.5 Die Contra-Kriegsflüchtlingsaufnahme/Pro-s- Kombination (1 Artikel)... 242 8.1.6 Die Contra-Flüchtlingsaufnahme/Contra-s- Kombination (contra/contra), die Contra-Aufnahme/Neutral- s-kombination (contra/neutral) und die Contra- Aufnahme/Keine-s-Kombination (contra/keine)... 243 8.1.7 Die Neutral-Kriegsflüchtlingsaufnahme/Pro-s- Kombination (3 Artikel)... 244

VIII Inhaltsverzeichnis 8.1.8 Die Neutral-Kriegsflüchtlingsaufnahme/Contra-s- Kombination (neutral/contra) (1 Artikel)... 245 8.1.9 Die Neutral-Aufnahme/Neutral-s-Kombination (neutral/neutral) (2 Artikel)... 246 8.1.10 Keine-Kriegsflüchtlingsaufnahme/Contra-s- Kombination (keine/contra) (2 Artikel)... 247 8.2 Zusammenfassung... 247 IV. Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit... 251 9. Linguistische Diskursanalyse zwischen Darstellung und Kritik... 251 Exkurs IV: Aspekte kritischer Diskursanalysen: Critical Discourse Analysis (CDA) und Kritische Diskursanalyse (KDA)... 252 9.1.1 Die Critical Discourse Analysis nach Norman Fairclough... 252 9.1.2 Die Kritische Diskursanalyse nach Ruth Wodak (Wiener Schule)... 255 9.1.3 Die Kritische Diskursanalyse nach Siegfried Jäger (Duisburger Schule)... 255 9.2 Anmerkung zu einer moderat-kritischen Ergebnisanalyse... 257 9.3 Der Aufnahmediskurs als Beispiel innerdiskursiver Kontroversen... 258 9.4 Zusammenfassung... 260 Anhang... 265 10. Qualitative Analyse der Korpustextes des Kriegsflüchtlingsdiskurses 1992... 265 11. Qualitative Analyse der Korpustexte des sdiskurses 1992:... 292 12. Qualitative Analyse des Schnittmengenkorpus beider Teildiskurse... 345 13. Siglenverzeichnis... 357 14. Verzeichnis der Abbildungen... 359 15. Bibliografie... 360

1 Ostajte ovdje! Sunce tućeg neba- neće vas grijat kó što ovo grije; Grki su tamo zalogaji hljeba Gdje svoga nema I gdje brata nije Aleksa Šantic (1868-1924) Bleibt hier! Bleibt hier! Es wärmt am fremden Himmel die Sonne so nicht, wie sie hier euch labt Und bitter schmeckt das Brot Wo im Gewimmel Ihr nicht den Euren, nicht den Bruder habt übersetzt von Hermann Wendel (1884-1936) 1 Einleitung Als Anfang der 90er Jahre die Wirtschaftskrise in Jugoslawien den Zerfall des Landes einläutete und die Konflikte unter den Republikführungen vermeintlich kriegerische Schatten vorauswarfen, bestand in Deutschland die Hoffnung, die reformwillige Regierung Ante Markovićs könnte das Erbe Titos in seiner Einheit, wenn auch als Konföderation, erhalten. Als geografisches Bollwerk gegen den Ostblock war Jugoslawien seit seiner Existenz für Westeuropa von besonderem politischem Gewicht. Die strategische Bedeutung potenzierte sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre. Doch Markovićs Reformversuche, das Land politisch wie wirtschaftlich zu stabilisieren, griffen nicht. Die Destabilisierung des Staates leistete den Separationsbestrebungen der Republiken Vorschub; der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KP) kamen die Mitglieder abhanden und im Kosovo brodelte der Konflikt zwischen der albanischen Bevölkerungsmehrheit und der serbischen Minderheitsregierung. Auch suppressionspolitische Mittel konnten den zentrifugalen Kräften nicht entgegenwirken. Mit der Souveränitätserklärung Sloweniens im Juli 1990 wurde der Zerfall Jugoslawiens eingeleitet. Jugoslawien war plötzlich zu einem explosiven Mikrokosmos [ ] vor der Tür des europäischen Hauses, an der Adria 2 geworden. Jugoslawien stand auch deswegen im bundesdeutschen Interesse, weil es viele Deutsche aus diversen Urlaubsreisen in liebevoller Erinnerung hatten und durch die jugoslawischen Gastarbeiter, die in Deutschland lebten und arbeiteten, viele Kontakte mit Jugoslawen bestanden. Anzeichen für einen Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien wurden schon 1990 in der deutschen Tagespresse kommentiert. 3 Der Ausbruch 1991 traf die Deutschen folglich nicht 1 2 3 Aus Oschlies (1997: 17). FAZ 26.01.1990: Explosiver Mikrokosmos, La Stampa (Turin). FAZ 16.01.1990: Was nationale Minderheiten brauchen; SZ 20/21.01.1990: Titos Staat droht das Ende; FAZ 25.01.1990: Die Kosovo-Frage rührt an den Grundfesten Jugoslawiens; SZ 31.01.1990: Belgrad schwimmt gegen den Strom; FAZ 02.02.1990: Zur Katastrophe; SZ 06.02.1990: Aufbruch zu einem anderen Stern; SZ 10/11.02.1990: Balkan-Manöver; SZ 18.04.1990: Der slowenische Trend; SZ 03.05.1990: Der zweite Tod des Josip Broz Tito; SZ 17.05.1990: Jugoslawiens Staatschef warnt vor Bürgerkrieg.

2 Einleitung überraschend, doch gab er als diskursrelevantes Ereignis den Anstoß zu einer Reihe von Debatten, in deren Folge sich die Bundesrepublik Deutschland in ihren politischen Grundfesten nachhaltig veränderte ( Art. 16/1993 (Asyl); Einsatz der Bundeswehr: Entschließungsantrag vom 28.06.1995). 4 Teil I der Arbeit dient der Darstellung der diskursgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Aufnahmediskurses 5. In diesem Zusammenhang gilt es außenpolitische (Jugoslawienkonflikt) und innenpolitische () Konditionen des Aufnahmediskurses zu unterscheiden. Ausführlich werden die historischen Hintergründe des Jugoslawienkonfliktes aufgearbeitet, weil Diskursgeschichte ein linguistisches Verfahren bezeichnet, bei welchem der inhaltliche sozialpolitische Hintergrund, vor dem sich ein Diskurs entwickelt hat, berücksichtigt wird. Ein historischer Rückblick auf die jüngere Geschichte Jugoslawiens zeigt, dass viele Ursachen des Bürgerkriegs in der Konstruktion des ersten jugoslawischen Staates (1918) zu finden sind und nicht allein auf nationale bzw. ethnisch-kulturelle Unterschiede im Allgemeinen reduziert werden können. 6 [ ] die jugoslawischen Kriegsherren der 1990er Jahre taten alles, um der Welt den Gedanken aufzudrängen, dass hier ein altes Stück noch einmal aufgeführt würde. (Mappes-Niediek 2005: 19) Es gilt besonders die Konfliktpartner zu erkennen: nicht nur jene, die sich wie immer wieder erwähnt wird schon auf dem Amselfeld gegenüberstanden, sondern gerade diese, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltsam gegeneinander vorgingen. In der Erinnerung der älteren Generation und im sozialen Gedächtnis jeder beteiligten Volksgruppe sind diese nicht aufgearbeiteten Realitäten präsent. Vor dem Hintergrund dieser Faktoren müssen die publizierten Kommentare hinsichtlich der Konfliktursachen und Konfliktparteien kritisch gelesen werden. In der Relation zu den dargestellten außenpolitischen Konditionen (1) bekommen die innenpolitischen Konditionen (2), welche die Kontroverse um die Artikel 16 (Asylgesetzänderung) 1992/1993 beeinflusst haben, einen themenbezogenen Stellenwert. Die Zusammenhänge sind für die Entstehung und Entwicklung des Aufnahmediskurses insofern von Bedeutung, als hier nicht der Diskurs über die Aufnahme von Flüchtlingen im Allgemei- 4 5 6 Bundestagsdebatte vom 30.06.1995. Der Diskurs über die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen aus der zerfallenen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien in die Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit der kontrovers diskutierten Änderung des Asylrechtsartikels 16 des Grundgesetzes wird hier im Folgenden als Aufnahmediskurs bezeichnet. Zur Kulturkampf-These vgl. Calic (1996: 20 f.).

Einleitung 3 nen beleuchtet wird, sondern der Diskurs über die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem benachbarten europäischen Bürgerkriegsgebiet im Besonderen. 1992 galt es als vorausgesetzt, dass das wiedervereinigte Deutschland in der historischen und ethischen Verpflichtung stünde, die Flüchtlinge des geografisch nahegelegenen Bürgerkriegslandes aufzunehmen (im Folgenden als Kriegsflüchtlingsdiskurs 7 bezeichnet). Anderslautende Meinungsäußerungen gehörten einem Tabu-Diskurs an, der vielleicht in mehr oder weniger ernstzunehmenden rechtsradikalen Publikationen seinen öffentlichen Platz hatte, in der seriösen Tagespresse gab es ihn nicht. Dennoch fanden ationen, die als konträr zu der verbalisierten Aufnahmebereitschaft verstanden werden konnten, innerhalb eines anderen Diskurses ihren Ausdruck. Dies geschah in Auseinandersetzungen über die Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (im Folgenden als sdiskurs bezeichnet). Die des Asylartikels 16 führte in den Jahren 1994-1998 zu einer Verringerung der Aufnahmezahlen. 8 Aus diesem Widerspruch ergibt sich nun die Frage, wie die Aufnahme von Flüchtlingen im Spannungsfeld historischer Verpflichtung und innerdeutscher Asylpolitik 1992 öffentlich diskutiert wurde. Im zeitgeschichtlichen Rahmen des Jahres 1992 sind hier also zwei inhaltliche Bereiche für das im Folgenden zu erörternde Thema interessant: a) der Jugoslawienkonflikt und die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen als außenpolitischer Einflussfaktor (Kriegsflüchtlingsdiskurs) und b) die innenpolitisch motivierte Asyldiskussion (sdiskurs). Dies verdeutlicht, dass Außen- und Innenpolitik vielfach ineinandergreifen und sich diskursive Schnittmengen ergeben. Aus der Schnittmenge der genannten Themenfelder konstituiert sich der Aufnahmediskurs, der Diskurs zu der zentralen Frage nach der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem zerfallenden Jugoslawien in die Bundesrepublik Deutschland in der Kontroverse zur Asylrechtsänderung im Grundgesetz. Für die Mentalitätsgeschichte der Deutschen ist dieser Aufnahmediskurs von wesentlicher Bedeutung, markiert er doch die Grenze zwischen Intervention und Integration. 7 8 Als Kriegsflüchtlingsdiskurs wird hier der Diskurs über die Aufnahme von Flüchtlingen aus den umkämpften Gebieten der zerfallenen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, besonders aus Bosnien und Herzegowina (BuH) und Kroatien, in die Bundesrepublik Deutschland bezeichnet. Ulrich Herbert (2001: 289) gibt aus dem Bericht der Beauftragten (2000) für 1992 ca. 300.000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien in Deutschland an, für 1993 350.000. Für das Jahr 1995, das Jahr des Vertrags von Dayton, werden 320.000 registrierte Kriegsflüchtlinge aus der betroffenen Region aufgeführt.

4 Einleitung In dem Artikel Der deutsche Diskurs über den Jugoslawienkrieg (Schwab-Trapp 2000) verfolgt Michael Schwab-Trapp die These, dass im Diskurs über den Jugoslawienkrieg [ ] sich der Diskurs über den Krieg mit einem Diskurs über die nationalsozialistische Vergangenheit [verbindet], in dem die Bedeutung dieser Vergangenheit für das politische Handeln verändert und das Gebot Nie wieder Krieg aufgehoben wird. (Schwab-Trapp 2000: 97) Dies im Hintergrund wird hier die These aufgestellt, dass auch in diesem Fall im Verlauf des Jahres 1992 innerhalb des Kriegsflüchtlingsdiskurses und des sdiskurses politische Wirklichkeiten neu definiert wurden. Damit ist gemeint, dass im Zusammenspiel beider Diskurse komplexen en die Funktion zukam, die Einstellung zu Flüchtlingen dahingehend zu beeinflussen, dass die deutsche Politik sich von geschichtlichen Verbindlichkeiten lossprechen und eine bündnisorientierte Außenpolitik sowie eine wirtschaftsgebundene Asylpolitik betreiben konnte. Im zweiten Teil (II. Theoretische Voraussetzungen) wird das sprachtheoretische Verständnis dargestellt, welches dem hier vertretenen diskursgeschichtlichen Ansatz zugrunde liegt. Dazu wird die Rezeption wesentlicher sprachphilosophischer Grundgedanken Wilhelm von Humboldts, Ludwig Wittgensteins und Ferdinand de Saussures aufgegriffen und im Rahmen der Theoriebildung der historischen Semantik und der Diskursgeschichte erörtert. Über die Bedeutung der kommunikativen Sprechhandlungsmodelle Bühlers, Austins und Grices wird der Bogen zu den sozialphilosophischen Grundlagen diskurslinguistischer Theoriebildung geschlagen, die im Besonderen von der Rezeption Michel Foucaults geprägt ist. Diskursanalyse im hiesigen Verständnis ist immer auch Diskursgeschichte, werden doch sowohl synchrone als auch diachrone Aspekte eines relevanten Themas der öffentlichen Diskussion zum Untersuchungsgegenstand gemacht. Diskursgeschichte als Sprach- bzw. Mentalitätsgeschichte wird im Rahmen einer sozialwissenschaftlich orientierten Sprachwissenschaft diskutiert. Dabei werden, von der Wort- und Begriffsgeschichte ausgehend, Aspekte der historischen Semantik als Diskursgeschichte aufgegriffen und in einen Bezug zum diskursgeschichtlichen Ansatz und der Methodik der Düsseldorfer Schule gesetzt (Kap. 4: Sprachgeschichte im Rahmen einer sozialwissenschaftlich orientierten Sprachwissenschaft: Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit). Nicht nur methodisch wird diese Arbeit beim diskursanalytischen Ansatz der Düsseldorfer Schule verortet, auch bei der Wahl des thematischen Rahmens bleibt die Fragestellung am Themenkreis der Flüchtlings-, Asyl- und Migrationsproblematik 9 ausgerichtet. 9 Niehr/Böke (2004: 325-351).

Einleitung 5 Im Unterschied zu den internationalen Vergleichen öffentlichen Sprachgebrauchs 10 bleibt die Analyse des Kriegsflüchtlingsdiskurses intranational, d. h., das Korpus setzt sich aus Kommentaren deutscher Zeitungen zusammen. Folglich ist es vornehmlich die deutsche Perspektive, von der aus die Diskursgeschichte zugänglich gemacht wird. Im dritten Teil (III. Die Analyse des Aufnahmediskurses) der vorliegenden Arbeit werden auf der Grundlage des argumentationsanalytischen Verfahrens Thomas Niehrs (2004) und vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des Jahres 1992 die genannten Teildiskurse des übergeordneten Aufnahmediskurses (Kriegsflüchtlingsdiskurs und sdiskurs) analysiert. Dabei werden die innerdiskursiven Kontroversen des Aufnahmediskurses offensichtlich. In Abgrenzung zu kritischen Ansätzen von Diskursanalyse (Exkurs IV: Aspekte kritischer Diskursanalysen; Critical Discourse Analysis, CDA, und Kritische Diskursanalyse, KDA) wird hier in methodischer Nähe zum epistemologisch-deskriptiven bzw. diskurssemantischen Ansatz eine moderat-kritische Interpretation der Analyseergebnisse vorgelegt. Ziel ist es, den Wandel im Denken der deutschen Öffentlichkeit hinsichtlich ihrer Einstellung zur Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien in die Bundesrepublik Deutschland im zeitgeschichtlichen Rahmen der sdiskussion (1992) sichtbar zu machen. Diskursgeschichtliche Rahmenbedingungen Sprachphilosophisches Forschungsparadigma Diskurstheorie Diskursanalyse Abb. 1: Inhaltlicher Aufbau 10 Niehr (2004).

6 Die Welt ist ein Feld kulturellen Wettstreits der Völker Goce Delčev (makedonischer Nationalheld) I. Diskursgeschichtliche Rahmenbedingungen 1. Außenpolitische Konditionen: Jugoslawien ein Konstrukt 1.1 Der erste jugoslawische Staat (1918-1929): Vom Nationalstaat der Slowenen, Kroaten und Serben zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen Schon die Gründung des ersten jugoslawischen Staates, des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, 1918, war der Versuch, die vielen verschiedenen südslawischen Völker in einem Staat zu vereinen und sich auf die gemeinsamen kulturellen und geschichtlichen Wurzeln zu besinnen. 11 Wie jede Idee, die eine Interessengemeinschaft verkündet, etwa die Idee der europäischen Einheit, ging auch die jugoslawische Idee auf reale oder eingebildete äußere Bedrohungen zurück; als die Bedrohungen von innen kamen, geriet sie hingegen ins Wanken. (Banac 2007: 153) Die ursprünglich in Kroatien vorangetriebene Idee des Illyrismus hatte Mitte des 19. Jahrhunderts noch eine integrationistische Ausrichtung, die das Königreich Kroatien als politischen Ausdruck der illyrischen Nation (Banac 2007: 153) verstand. Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich daraus der politische Jugoslawismus, der nun eine Überwindung der ethnischen, religiösen und kulturellen Unterschiede durch den Willen zur nationalen Einheit für möglich hielt und nicht mehr notwendig an das kroatische Staatsrecht gebunden sein musste (jugoslawischer Unitarismus). 12 Die hegemoniale Expansionspolitik des Königreichs Serbien hingegen strebte den Zusammenschluss aller Serben in der südslawischen Vereinigung an, was für Serbien einen großen regionalen Zugewinn bedeutet hätte. Durch den Zusammenbruch der Habsburger Monarchie, das Kriegsende und anhaltende Übergriffe der italienischen Armee auf die Küsten Kroatiens nahmen die Unitarisierungspläne konkrete Züge an. Kroatien brach mit Österreich-Ungarn. Am 29. Oktober 1918 akzeptierte der kroatische Sabor (Landtag), der slowenische Nationalrat sowie der Nationalrat Bosnien-Herzegowinas den Verbund zum souveränen Nationalstaat der Slowenen, Kroaten und Serben 13, der aus den südslawischen Gebieten der zerfallenen 11 12 13 Zum Illyrismus und Jugoslawismus vgl. Calic (1996: 13 ff.) sowie Banac (2007: 153 f.). Zu den verschiedenen Interpretationen des Jugoslawismus vgl. Sundhausen (2007: 240 ff., 251); Melčić (2007: 210-231). Gemeint sind die Serben, die auf den genannten Gebieten Österreich-Ungarns lebten.

I. Diskursgeschichtliche Rahmenbedingungen 7 habsburgischen Doppelmonarchie hervorgehen sollte. Die Machtbefugnisse gab man an den zentralen Nationalrat in Zagreb ab. 14 Noch dominierte die Hoffnung auf einen gleichberechtigten Zusammenschluss der südslawischen Völker, doch wurde diese Vereinigung von den Alliierten nicht anerkannt. 15 Ohne Militär und ohne internationale Anerkennung den italienischen Übergriffen ausgeliefert, war das neue Staatsgebilde Spielball der ansonsten französisch dominierten Balkanpolitik. Das führte dazu, dass die Vertreter des Nationalrates den Forderungen des Königreichs Serbien mehr und mehr nachgaben. Der Nationalrat wurde zudem von jenen Politikern dominiert, die eine Vereinigung mit Serbien befürworteten. So kam es im Dezember 1918 zur Vereinigung mit dem Königreich Serbien und zur Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, in dem trotz anderer Vereinbarungen die Dominanz der serbischen Krone unter Prinzregent Aleksandar Karađorđević und die Monarchie als Staatsform vorweggenommen waren. Verbunden wurden die Königreiche Serbien und Montenegro, welche unabhängig waren und orthodoxen Glaubens, sowie die slawischen Regionen der katholischen Habsburger Monarchie Österreich-Ungarn (Slowenien/Kroatien) und muslimische Landesteile des osmanischen Reiches. Die Vereinigung der südslawischen Völker sollte also auch eine Vereinigung der katholischen und orthodoxen Kirchen nach sich ziehen (vgl. Banac 2007: 153 ff.). Das Vielvölkerproblem barg allerdings nicht nur religiöse Unvereinbarkeiten. Bereits gewachsene gesellschaftliche Staatsordnungen in der Rechtsprechung und Verwaltung sowie wirtschaftliche Systeme mussten aufeinander abgestimmt werden. Auch gab es schon vor dem Zusammenschluss ein deutliches soziales Nord-Süd-Gefälle und nationale Widerstände. 16 Unter dem serbischen Monarchen Karađorđević entstand eine zentralistische Verfassung 17, die die Dominanz serbischer Institutionen (Monarchie, Armee, Verwaltungsapparat, orthodoxe Kirche) festigte. Slowenien und Kroatien fühlten sich wirtschaftlich ausgenommen und politisch kaltgestellt. Minderheitenschutz gab es nicht, da die Existenz von Minderheiten in dem Staat, der auf einem ethnischen Mehrheitsprinzip aufbaute, kurioserweise geleugnet wurde. 18 14 15 16 17 18 Zur Gründung des ersten jugoslawischen Staates, des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen 1917/1918, und zur Entstehung des Königreiches Jugoslawien 1929 siehe Calic (1996: 13-16), Banac (2007: 153-167) sowie Sundhausen (2007: 231-249). Zu den politischen Eigeninteressen der Alliierten vgl. Sundhausen (2007: 235 f.). Zur Rolle Stepjan Radićs, Führer der oppositionellen kroatischen Bauernpartei (HSS), vgl. Banac (2007: 157 ff.) sowie Calic (1996: 15). Zu den Wahlen der konstituierenden Versammlung und der Veitstagsverfassung vgl. Banac (2007: 159). Zum Minderheitenproblem im ersten jugoslawischen Staat vgl. Sundhausen (2007: 238 f.).

8 I. Diskursgeschichtliche Rahmenbedingungen Der Unmut warf die nationale Frage erneut auf und gab den oppositionellen Bewegungen in Kroatien, Montenegro, Makedonien und im Kosovo neuen Zulauf. Aber auch moderate Parteien in Slowenien und Bosnien, die grundsätzlich dem jugoslawischen Unitarismus zustimmten, hielten am Autonomiegedanken fest. Die innere Zerrissenheit Jugoslawiens stärkte den Kommunismus, und trotz des Verbotes der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ) 19 postulierte die kommunistische Organisation in Zagreb den kommunistischen Führungsanspruch im nationalen Kampf (Banac 2007: 161) mit dem Ziel der Autonomie der Länder. Nach mehreren Unruhen in den Regionen und der Ermordung der kroatischen politischen Führung 20 im Parlament durch serbische Deputierte wurden die kroatisch-serbischen Spannungen unüberwindlich. Kroatien forderte die Unabhängigkeit. 1.2 Die Königsdiktatur (1929-1934) Um die nationale Einheit von Serben, Kroaten und Slowenen zu bewahren, setzte 1929 der Monarch Alexandar Karađorđevic die Verfassung außer Kraft, löste das Parlament sowie die Parteien auf und führte die Königsdiktatur ein, in deren Verlauf er eine autoritäre Regierung einsetzte. Das nun ausgerufene Königreich Jugoslawien entwickelte sich zu einer Diktatur, in der sich der jugoslawische Unitarismus tatsächlich zu einer totalitären Ideologie faschistischer Ausprägung [wandelte] (Banac 2007: 162). Die Repression führte allerdings zum Erstarken aufständischer Gruppierungen, darunter der Ustaša in Kroatien, die aufgrund ihrer faschistischen Haltung zwar keine breite Akzeptanz in der Bevölkerung fand, durch ihr militantes Wirken aber gefürchtet war. Auch die Kommunisten gewannen durch ihr Beharren auf der Souveränität der Länder vermehrt Zuspruch in der Bevölkerung. 1.3 Auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie (1934-1941) Nach der Ermordung Karađorđevics (im Auftrag der Ustaša) wurde das Königreich Jugoslawien unter Prinz Paul wieder offen für eine parlamentarische Regierungsform. Aus eher antisowjetischen Gründen schien die Regierung für faschistisch-ideologische Einflüsse aus Deutschland empfänglich, zumindest wand sich die jugoslawische Außenpolitik den westlichen Ländern zu. 19 20 Zu den antikommunistischen Gesetzen von 1921 vgl. Banac (2007: 161). Zur Ermordung Stepjan Radićs vgl. Banac (2007: 162).

I. Diskursgeschichtliche Rahmenbedingungen 9 Darüber hinaus versuchte der gewählte serbische Politiker Milan Stojadinović den Brückenschlag zu den Katholiken 21, zog sich aber damit den Zorn der orthodoxen Nationalisten zu und beschleunigte damit das Ende seines pseudoparlamentarischen Regimes (Banac 2007: 163). Die Wahl von 1938 war ein erster Schritt auf dem Weg zu einer parlamentarischen Demokratie, denn die Oppositionsparteien darunter auch die serbische Opposition gewannen im Verbund unter dem Führer der kroatischen Bauernpartei (HSS) Vlakdo Maček fast die Hälfte der Stimmen (trotz massiver Wahlfälschungsversuche). Das schwächte Stojadinović so sehr, dass Prinz Paul den moderaten Politiker Dragisa Cvetković zum neuen Premierminister machte und damit den Kroaten zu einer föderativen Autonomie in den Grenzen des Königreichs Jugoslawiens verhalf. 22 Dadurch hatte Prinz Paul die kroatischen Nationalisten beschwichtigt, die Ustaša geschwächt und auch die Westmächte beruhigt, die nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt (1939) einen Krieg mit dem nationalsozialistischen Deutschland fürchteten und ein starkes Jugoslawien in dieser Region brauchten. In den Vorkriegsjahren wurden die Kommunisten zunehmend stalinistisch geprägt. Unter der Führung Josip Titos sollte die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) eine einheitliche bolschewistische Partei werden, in der für kommunistische Splittergruppen kein Platz mehr war. In den Vertretern der linken Intelligenzija sowie den Befürwortern einer Koalition mit den anderen Oppositionsparteien (Volksfront) sah Tito eine Gefahr und begann abweichende Ideenträger radikal aus der Partei auszuschließen. Als 1941 Jugoslawien dem Dreierpakt Deutschland-Italien-Japan beitrat, wurde Prinz Paul von einer revolutionären Gruppe der serbischen Armee gestürzt und der noch minderjährige König Petar eingesetzt. Um die Mitglieder des Dreierpaktes nicht zu provozieren, bestätigten die Putschisten die Gültigkeit des Beitritts. Hitler akzeptierte das nicht. 23 Deutschland und seine Verbündeten (Italien, Ungarn und Bulgarien) besetzten Jugoslawien und teilten große Flächen des Landes untereinander auf. 24 Die königliche Regierung sowie viele Oppositionelle der HSS flohen ins Exil. Serbien blieb deutsche Besatzungszone. Bosnien-Herzegowina und der nicht besetzte Teil Kroatiens wurden als unabhängiger Staat Kroatien zum Verbündeten gemacht. Konkret aber herrschten dort Deutschland und Italien durch die Schergen der Ustaša. 25 21 22 23 24 25 Zum Konkordat mit dem Heiligen Stuhl vgl. Banac (2007: 163) sowie Bremer (2007: 244 f.). Zum Sporazum (Abkommen zwischen Cvetković und Maček), der eine kroatische Bannschaft mit weitreicher Verwaltungsautonomie zur Folge hatte, vgl. Banac (2007: 164) sowie Calic (1996: 16). Zur Weisung Nr. 25 (März 1941) vgl. Goldstein (2007: 170). Zur Aufteilung Jugoslawiens unter den Besatzern vgl. Goldstein (2007: 171 f.). Zum Terror der Ustaša siehe Banac (2007: 166).

10 I. Diskursgeschichtliche Rahmenbedingungen Der erste jugoslawische Staat war für das größere südslawische Drama wichtig, weil er das Element des Stillstandes einführte, der auch nach 1944 die beständige Eigenschaft der kommunistischen Föderation blieb. (Banac 2007: 166). 1.4 Unter deutscher Besatzung (1941-1945) Schon 1941 setzten landesweit Massendeportationen zur Entnationalisierung ein. Tausende Slowenen flohen vor dem brutalen Vorgehen der deutschen Besatzungsmacht aus Slowenien (besonders aus der Steiermark) in den italienisch besetzten Teil. Die Bulgaren vertrieben die Serben aus Mazedonien; im Kosovo wurden die Serben und Montenegriner nach Serbien vertrieben, und der unabhängige Staat Kroatien ließ Tausende von Serben nach Serbien oder in eingerichtete Konzentrationslager deportieren. Dorthin wurden Juden, Roma, Oppositionellen, Kommunisten und serbische Aufständische gebracht (vgl. Goldstein 2007: 172-174). Massaker und Massenmorde an Serben auf kroatischem Territorium provozierten den Widerstand so sehr, dass die deutsche Besatzungsmacht weitere Aufstände fürchten musste und den Ustaša-Kommandanten Ante Pavelić zu einem gemäßigten Kurs aufrief. Der erklärte kurzerhand die verbliebenen Serben zu orthodoxen Kroaten, so wie er auch die muslimischen Bosnier zuvor zu Kroaten erklärt hatte. Durch die Gräueltaten verlor jedoch die Ustaša den Rückhalt in der eigenen kroatischen Bevölkerung. Nachdem der HSS-Parteiführer Maček ins Konzentrationslager gebracht und alle politischen Parteien verboten worden waren, verhielten sich die Anhänger der HSS eher abwartend, bis sich 1943 viele Mitglieder und Sympathisanten den Partisanen anschlossen oder Kontakte zu den westlichen Alliierten zu knüpfen suchten. Auch die katholische Kirche, die zunächst den unabhängigen Staat Kroatien sowie das Ustaša-Regime befürwortet hatte, wandte sich von der rigiden Gewaltpolitik ab. 26 Im bewaffneten Widerstand gegen die Terrorherrschaft der Besatzer und der Ustaša kristallisierten sich zwei große Gruppen heraus: die Četnici (Tschetniks) und die Partisanen. Die Četnici setzten sich aus Offizieren der serbisch dominierten jugoslawischen Armee zusammen, die die Kapitulation nach dem Blitzkrieg und der Besatzung durch die Deutschen und dessen Verbündeten nicht anerkennen wollten. Sie schlossen sich in kleineren Kampfeinheiten zusammen und kämpften unter dem Kommando Draža Mihajlovićs in den Bergregionen Serbiens. Diese Četnik-Bewegung verstand sich in der Tradition der Guerillakämpfer der Befreiungskriege gegen die Türken. Sie bekamen schnell Zulauf in Serbien und Montenegro. Ihr Verständnis vom Befreiungskampf stand jedoch im Zusammenhang mit der 26 Zur Haltung der katholischen Kirche im Zweiten Weltkrieg vgl. Goldstein (2007: 175).

I. Diskursgeschichtliche Rahmenbedingungen 11 hegemonialen Idee eines ethnisch reinen Großserbien und einer Säuberung des Staatsterritoriums von allen nationalen Minderheiten und nichtnationalen Elementen sowie der Schaffung einer unmittelbaren gemeinsamen Grenze zwischen Serbien und Montenegro, wie auch zwischen Serbien und Slowenien durch die Säuberung (čišćenije) der muslimischen Bevölkerung aus dem Sandžak und der muslimischen und kroatischen Bevölkerung aus Bosnien (Goldstein 2007: 177). 27 Ähnlich wie die von den Ustaša-Anhängern begangenen Greuel an Serben und Muslimen hinterließen die Untaten der Četnici an Kroaten und Muslime tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis der jugoslawischen Völker. (Calic 1996: 53) In der Partisanenbewegung, die von dem Kommunisten Josip Tito angeführt wurde, waren nicht nur Kommunisten. Sie rekrutierte sich überwiegend aus Nicht-Kommunisten, Nationalisten und Demokraten, doch besetzten die Kommunisten nach dem strategisch-militärischen Umbau der Bewegung zur Volksbefreiungsarmee alle Führungspositionen. Während 1941 die Četnici und Partisanen noch gemeinsam in Kroatien gegen die Ustaša und in Serbien gegen die Deutschen kämpften, kristallisierte sich im Verlaufe des Zweiten Weltkriegs die Rivalität zwischen den beiden Widerstandsgruppen um Draža Mihailjović und Josip Tito heraus. Es ging um die Vormachtstellung nach dem Krieg. Während die Četnici sich mit den italienischen Besatzern verbündeten, einen Nichtangriffspakt mit den Deutschen schlossen und Kontakte zur Exilregierung des Monarchen in England unterhielten, standen die Partisanen mit der Komintern in Moskau in Verbindung. Beide ursprünglich dem Widerstand entsprungenen Gruppen standen sich seit 1942 in einem erbitterten Bürgerkrieg gegenüber. Durch die Kollaboration mit den Besatzern und den Kampf gegen die Partisanen verloren die Četnici an Zustimmung, sowohl bei der eigenen Bevölkerung als auch bei den Briten, die ihre Unterstützung zurückzogen. Die Partisanen hingegen gewannen an Einfluss und erstarkten militärisch mit gleichzeitiger Schwächung der deutschen Armee. Diese musste ihre Divisionen an andere Kriegsfronten verlegen. Nach der Kapitulation Italiens versorgten die Briten von Bari aus die Partisanen mit Waffen. 28 Obwohl sich die unterschiedlichen Vertreter des politischen Widerstandes (Antifaschistischer Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens, AVNOJ) der Machtpolitik der Kommunisten bewusst waren, bestimmten sie Josip Tito zum obersten Befehlshaber, Verteidigungsminister und Ministerpräsidenten Jugoslawiens (vgl. Goldstein 2007: 180; Steindorff 2007: 192). Da die Sowjetunion sehr spät in die Vojvodina einmarschierte, wurden die Bildung einer provisorischen Regierung sowie die Konstitution eines föderativen Jugoslawiens ohne sowjetische 27 28 Ebenso Calic (1996: 53). Zur Politik der Alliierten vgl. Goldstein (2007: 181 ff.).

12 I. Diskursgeschichtliche Rahmenbedingungen Federführung vollzogen. Das gab der neuen jugoslawischen Führung eine Unabhängigkeit, die alle anderen Staaten Osteuropas, die mit Hilfe der Sowjets befreit worden waren, nicht hatten. Trotzdem gingen in den Territorien, die von den Partisanen zurückerobert worden waren, die Kommunisten bald dazu über, die Staatsmacht nach sowjetischem Modell durchzusetzen. Dabei wurden politische Gegner, Kollaborateure sowie Soldaten generischer Kriegsparteien mehrheitlich umgebracht 29, darunter auch hochrangige Vertreter der verschiedenen Kirchen. Es bleibt der künftigen historischen Forschung vorbehalten, durch genaue Analyse unter anderem zu ermessen, wie sehr dieser ungesühnte staatliche Terror gegen Volks- und Klassenfeinde und seine nachhaltigen Folgen trotz beharrlichem Verschweigen die ohnehin instabile jugoslawische Konstruktion beeinträchtigte. (Melčić 2007: 199) England und die Sowjetunion verständigten sich auf einen ausgewogenen Einflussbereich in Jugoslawien 30 und vereinbarten den Aufbau einer provisorischen Regierung des Demokratischen Föderativen Jugoslawien (DFJ) mit Erweiterung des Antifaschistischen Rates der Volksbefreiung Jugoslawiens (AVNOJ) durch Delegierte der Exilregierung. Doch die innere Sowjetisierung (Steindorff 2007: 193) und der sozialistische Staatsaufbau waren schon so weit fortgeschritten, dass demokratischen politischen Kräften keine Einflussmöglichkeiten gegeben wurden und die Wahlen 1945 offiziell eine absolute Mehrheit für die Volksfront 31 ergaben. 1.5 Die Föderative Republik Jugoslawien unter Josip B. Tito (1945-1980) Am 29. November 1945 entstand die Föderative Republik Jugoslawien 32 mit den Teilrepubliken Serbien, Kroatien, Slowenien, Bosnien-Herzegowina, Makedonien, Montenegro sowie den autonomen serbischen Provinzen Vojvodina und Kosovo. 1948 war die Verstaatlichung der Wirtschaft abgeschlossen und die zentrale Planwirtschaft durchgesetzt. Zum politischen Programm gehörte aber auch die Entmachtung der Religionsgemeinschaften. Dazu wurde das kirchliche Schulwesen in Kroatien verstaatlicht und die Enteignung des kirchlichen Grundbesitzes durchgesetzt. Der Kampf um die Gleichberechtigung der jugoslawischen KP und der sowjetischen Komintern führte zum Bruch zwischen diesen kommunistischen Parteien, was dem politi- 29 30 31 32 Zu den Hinrichtungen (Massakern) nach Kriegsende durch die Partisanen vgl. Goldstein (2007: 184) sowie Melčić (2007: 198-200). Zur Drei-Mächte-Konferenz von Jalta 1945 vgl. Goldstein (2007: 183) sowie Steindorff (2007: 192 ff.). Zur Geschichte der Volksfrontbewegung und ihrem späteren Auseinanderbrechen in den Sozialistischen Bund des werktätigen Volkes auf der einen Seite und den Bund der Kommunisten auf der anderen Seite vgl. Steindorff (2007: 193, 195 f.). 1963 wurde sie in Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (SFRJ) umbenannt (serbokroat.: Socijalistiška Federativna Republika Jugoslavija ).

I. Diskursgeschichtliche Rahmenbedingungen 13 schen Bruch Jugoslawiens mit der Sowjetunion gleichkam. 33 Die damit verbundene Wirtschaftsblockade trieb die jugoslawische Außenhandelspolitik in die westliche Einflusssphäre. In den 50er Jahren führte das Prinzip der Arbeiterselbstverwaltung zur Bildung wirtschaftlicher Eliten und zu marktwirtschaftlichen Ansätzen. Die Betriebe in den verschiedenen Regionen zeigten wirtschaftliche Erfolge. Politik und Wirtschaft funktionierten zunehmend dezentral, was nicht bedeutete, dass föderative Ideen wirklich zum Tragen kamen. Die Verfassung von 1953 ließ den Nationalitätenrat in den Bundesrat aufgehen, um gerade nationalistischen Strömungen und Dezentralisierungstendenzen entgegenzuarbeiten. Es wurde allerdings dafür ein Produzentenrat aus der Taufe gehoben, der aus gewählten Vertretern der sich selbst verwaltenden Betriebe bestand. Tito versuchte mit einer gezielten Nationalitätenpolitik ein innerstaatliches Gleichgewicht zwischen den sechs Nationen, 24 Nationalitäten und drei Religionen Jugoslawiens herzustellen. Die Verfassung von 1963 ist insofern erwähnenswert, als erstmals die Muslime als eines der Völker von Bosnien-Herzegowina genannt und einige Jahre später als Nation anerkannt wurden. Durch das repressive Einparteiensystem kam es kaum mehr zu einem gesellschaftlichen Dialog. Die relativ offenen Grenzen erleichterten vielen Intellektuellen die Emigration. Überdimensionale Bürokratisierung, der Mangel an pluralistischen Lösungen sowie das Agieren einer mit diversen Privilegien ausgestatteten Machtelite lähmten nicht nur den Staatsapparat, sondern verhinderten auch das Nachrücken einer neuen Politikergeneration (vgl. Steindorff 2007: 197). Außenpolitisch schaffte es Tito, dass die Westmächte sowie die Sowjetunion Jugoslawien als blockfrei akzeptierten und eine Allianz der Blockfreien 34 entstand. Als die Sowjetunion 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierte, verstärkte das Gefühl der Bedrohung den innenpolitischen Zusammenhalt. Auf der anderen Seite beschleunigte er aber auch den Liberalisierungsprozess. Die einzelnen Republiken bekamen in den 70er Jahren mehr Eigenverantwortlichkeit und nahmen zunehmend Einfluss auf die Bundespolitik. Die Bundespartei überließ den regionalen KPs diverse Führungsfunktionen, und auch der Polizeiapparat wurde nicht mehr nur zentral gesteuert, sondern funktionierte unter den Republikführungen vermehrt dezentral. Die Armee kontrollierte die einzelnen politischen Republikpolizeien durch ihren Geheimdienst. Dadurch, 33 34 Zur Kritik an der Heroisierung Titos vgl. Viktor Meier (1968: 26 f.). Zur Bildung der Allianz der Blockfreien nach 1953 vgl. Steindorff (2007: 196).

14 I. Diskursgeschichtliche Rahmenbedingungen dass sie jedoch den Territorialverteidigungen beigeordnet wurde, verlor sie an Einfluss, was aufgrund der vormals starken Position der Armeeführung zu politischen Streitereien führte. Die Tendenz zur Föderalisierung, die im Nachhinein auch als Überföderalisierung des jugoslawischen Systems (Calic 1996: 17) gesehen wurde, stärkte die einzelnen Republikführungen und damit die Majorität der jeweiligen Nationalität. Freilich muss man hinzufügen, dass sowohl die Liberalisierung wie die Stärkung der Eigenständigkeit in allen Landesteilen, auch in Serbien, Hand in Hand ging mit einem Hervortreten nationaler und sogar nationalistischer Gefühle. (Meier 2007: 201) Gerade in Kroatien führten die Rückbesinnung auf die kroatische Kultur und das Betonen der Eigenwertigkeit der kroatischen Sprache sowie der Widerstand gegen den aufgestülpten jugoslawischen Unitarismus (Meier 2007: 203) viele Studenten und Intellektuelle zusammen. Doch ehe der Kroatische Frühling auf andere Republiken übergreifen konnte, in denen die Liberalisierung schon eingeleitet worden war, wurde er hart niedergetreten. Seine Anhänger wurden verfolgt, durch Entlassung gebrandmarkt und gegen viele wurden Strafverfahren eingeleitet. Unter ihnen befand sich auch General Franjo Tuđman. Kroatische Identität wurde erbittert bekämpft. Alles Nationale schrieb man der katholischen Kirche zu, die mehr und mehr unter Repressionen leiden musste. Doch der Wunsch der Republiken nach mehr Eigenverantwortlichkeit intensivierte den politischen Druck auf den Bund. 1974 wurde eine Verfassung verabschiedet, die den Republiken mehr Souveränität zusprach. Die Republiken wurden erstmals als Staaten definiert, denen Grenzen garantiert wurden. Trotz ihrer Mängel hätte diese jugoslawische Verfassung die Grundlage für eine stabile Entwicklung auf föderalistischer wie auf demokratischer Grundlage abgeben können, unter der Bedingung, dass sie von allen ihren Gliedstaaten, auch von Serbien, respektiert worden wäre. (Meier 2007: 206) Auf serbischer Seite haderte man mit der garantierten Autonomie der Gebiete Vojvodina und Kosovo, die beide zu Serbien gehörten, deren Vertreter nun aber auch stimmberechtigt in den Bundesgremien waren. 35 Titos anerkannte Autorität sowie die zentralen Machtapparate Partei und Armee sollten den föderalistischen Strömungen ausgleichend entgegenwirken, doch die Politik stagnierte. Nach dem Tode Titos 1980 setzte ein Prozess des Zerfalls der Partei in ihre regionalen Teile ein, und nationalistische Tendenzen kamen allerorten wieder zur Geltung. Die Ideologisierung nationaler Traditionen und die Föderalisierungsprozesse schufen somit schon in den 70er Jahren voraussehbare Probleme, denn historisch-politische Grenzen und 35 Zum Regierungsaufbau, Konsensprinzip und Vetorecht siehe Meier (2007: 205).

I. Diskursgeschichtliche Rahmenbedingungen 15 ethnische Siedlungsräume waren selten deckungsgleich. Nur in Slowenien lag der Anteil an Slowenen an der Gesamtbevölkerung bei ca. 90 %. Alle anderen Republiken waren multiethnisch. So lag Anfang der 80er Jahre der Anteil an Serben in Serbien bei nur 66,4 %, Kroaten in Kroatien bei 75,1 %. In Bosnien-Herzegowina lebten 39,5 % Muslime, 32,0 % Serben und 18,4 % Kroaten (vgl. Calic 1996: 18, Tab. 1). Die 70er Jahre waren auch wirtschaftlich wegweisend, denn Jugoslawien steuerte durch die Erdölkrise auf einen wirtschaftlichen Zusammenbruch zu, der mit hohen Auslandskrediten aufgefangen wurde (vgl. Wimmer/Braun/Spiering 1991: 59 ff.). Die Aussicht auf demokratische und marktwirtschaftliche Reformen sank nach dem Tode Titos, 1980, mit der Politik der kollektiven Nachfolgeregierung. Diese sah in Kritikern Staatsfeinde, führte zahlreiche Verhaftungen durch (darunter erneut Franjo Tuđman), verurteilte gerade in Bosnien-Herzegowina Repräsentanten der islamischen Bevölkerungsgruppe (u. a. Alija Izetbegović) und setzte verschärfte Kontrollmechanismen in Gang (z. B. die Verschärfung der Auslandsreisebedingungen und der Zollbestimmungen). 1.6 Die Jahre nach Tito bis zum Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (1980-1990) Als 1987 Slobodan Milošević gegen die moderate Fraktion in der serbischen Kommunistischen Partei auf dem 8. Plenum des Zentralkomitees den Parteivorsitz errang, war dem ein populistischer Auftritt im April auf dem Kosovo Polje (Amselfeld) vorausgegangen. Dort war der berüchtigte Satz: Niemand soll es wagen, euch zu schlagen zu den dort versammelten aufgeheizten Serben gesprochen und medienwirksam im Fernsehen übertragen worden. Damit reaktivierte er einen 600 Jahre alten politischen Mythos. 36 In der Konfrontation mit der Kosovo-Problematik kristallisierte sich Milošević als neuer nationaler Führer der Serben heraus und erlangte mit dem Versprechen, die Einheit Serbiens wiederherzustellen, landesweite Popularität. Die Lebensgeschichte Miloševićs ist auf engste verbunden mit der Zerfallsgeschichte Jugoslawiens, und sein Machtantritt markiert eine entscheidende Weichenstellung. (Rüb 2007: 328) Einige Publikationen versteifen sich auf die Agitationsfähigkeit Miloševićs, d. h. unter anderem auf die Art und Weise, wie er Medien auf seine Politik zurechtgeschnitten und 36 Doch die Geschichte wiederholt sich nie exakt. Man könnte daher das Gegenteil eines linearen Geschichtsaufbaus (wo sich Schicht für Schicht zu einer immer neuen Ge-Schichte zusammenfügt) in solchen Fällen eher mit einem historischen Spiegelkabinett vergleichen: Es hält dem Menschen, egal wohin er blickt und in welche Richtung er geht, die Allgegenwärtigkeit eines bestimmten Schlüsselereignisses vor Augen oft verzerrt, aber unentrinnbar. Für reichlich Spiegel sorgen nationale, meist ethno-nationale, Protagonisten. Denn diese Mythen übernehmen eine Funktion eine Funktion des Weltbegreifens [ ] die die empirische Wirklichkeit ersetzt (Wieland 2000: 121, Hervorhebung im Text).