Pfarrer Stefan Wanske, Friedberg Morgenfeier (katholisch) in hr2-kultur am Sonntag, 13.11.2016 Martin von Tours: Soldat, Bischof und Heiliger Grau, nass, kalt. Der November gilt für manche als der unangenehmste Monat im ganzen Jahr. In den Supermärkten türmen sich zwar schon Lebkuchen und Stollen. Aber bis zum Weihnachtsstress mit Geschenksuche, Christbaum und Familienkrach ist noch ein paar Wochen Zeit. Jemand stellte mal zynisch fest, das sei der entscheidende Pluspunkt zugunsten dieser Jahreszeit. Was heute für viele beinahe schon eine Art Unzeit im Jahreslauf ist, das brachte in früheren Zeiten, besonders auf dem Land, für die Leute eine ganz wichtige Zäsur mit sich: Den 11. November, den Martinstag. Am Martinstag begann für einen Bauern das neue Wirtschaftsjahr. Die Erntezeit mit der harten täglichen Arbeit im Weinberg und auf dem Feld war zu Ende. Die Pachten und Abgaben waren fällig, und danach konnte man mit ruhigeren und kürzeren Tagen rechnen und sich ein wenig ausruhen. Knechte und Mägde konnten ihr Dienstverhältnis wechseln. An das Gesinde wurden die Löhne ausbezahlt. Es durfte also gefeiert werden. Mitunter wurde zu Sankt Martin auch vor dem Winter noch einmal geschlachtet, wenn man wegen knapper Vorräte nicht den ganzen Winter hindurch alles Vieh füttern konnte. Dazu gehörten auch Gänse. Die Gans war ganz grundsätzlich ein gern genommenes Zahlungsmittel für Steuern und Gebühren an den Grundherrn. So ergab sich der Brauch, am Martinstag Gänsebraten zu essen. Und das hatte auch vom Kirchenkalender her seinen Sinn. Denn in früheren Zeiten hat der Advent und die ruhigere Zeit des Jahres schon in diesen schlimmsten Novembertagen angefangen: Sie begann am 12. November und war eine sechswöchige Fastenzeit, ganz ähnlich wie die Passionszeit vor Ostern. Der Martinstag - das war also an der Schwelle zur Winterzeit noch mal eine Art kleines Erntedankfest. Musik 1: Carl Philipp Emanuel Bach, Allegro assai, aus: Sinfonie C-Dur Wq 182/3 (H659); CD: C.P.E. Bach: Hamburger Sinfonien / Concerti. Freiburger Barockorchester (Andreas Staier / Hans-Peter Westermann / Thomas Hengelbrock), Label deutsche harmonia mundi LC 00761, Track 1, 02:46 Ähnlich wie zur Fastnacht im Frühjahr, gab es zum Martinstag in früheren Zeitenvor dem damals üblichen Adventsfasten ein reiches Brauchtum: Der Martinsschmaus und das Martinsgebäck daheim, die Martinsfeuer und die Martinsmärkte draußen - das waren Gründe, sich auf diese Tage zu freuen.
Der Martinstag samt Laternenumzügen, Singen und Süßigkeiten bezieht sich damals wie heute auf den Heiligen Martin von Tours. Er lebte im vierten Jahrhundert. In diesem Jahr wird an seine Geburt vor 1700 Jahren, im Jahr 316, erinnert. Martin kam im heutigen Ungarn zur Welt. Sein Vater war als Tribun ein hoher militärischer Beamter. Aufgewachsen ist Martin in der Stadt Pavia in Oberitalien, weil sein Vater dorthin versetzt wurde. Seine Eltern haben ihn christlich erziehen lassen. Sie selbst waren, wenigstens offiziell, zuerst beide noch gar keine Christen. Wahrscheinlich hätte das der Karriere des Vaters im römischen Staatsdienst anfangs zu sehr geschadet. Als Martin geboren wurde, gehörte das Christentum nämlich erst seit drei Jahren, seit der Mailänder Vereinbarung von 313, zu den offiziell erlaubten Religionen im Römischen Reich. Wegen der gesetzlichen Wehrpflicht und als Sohn eines Berufssoldaten musste Martin mit 15 Jahren ebenfalls in den Militärdienst eintreten. Die Dienstzeit im Römischen Heer dauerte damals 25 Jahre. Wahrscheinlich hat Martin sich in seinen ersten drei Jahren in der Legion auf seine Taufe vorbereitet. Mit 18 ist er dann Christ geworden. Der gläubige junge Mann war anscheinend durchaus kein unfähiger Soldat. Er wurde schon nach kurzer Zeit Offizier. Außerdem diente er in einer Art Eliteeinheit. Seinem Biographen hat das später ziemliche Kopfschmerzen bereitet. Er wollte die erbauliche Lebensbeschreibung eines Heiligen erzählen, ganz so, wie die Märtyrerlegenden, die damals vom Publikum gern gelesen wurden. Dass Martin in seiner ersten Lebenshälfte beim Militär Karriere machte, das war dem Schriftsteller wohl für einen späteren Bischof und Heiligen ein wenig peinlich. Er betont immer wieder mit spürbarem Unbehagen: Martin sei doch eigentlich gegen seinen Willen in der Armee gelandet sei. Und er hätte sich immerhin nach Kräften bemüht, auch unter diesen Umständen als Christ zu überzeugen. Den Notleidenden habe er geholfen und von seinem Sold nur das nötigste für sich selbst behalten. Bei seinen Kollegen sei er beliebt gewesen, aber nicht, weil er die Leute mit rauen Soldatenmanieren beeindruckt hätte, sondern stattdessen mit Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit. Musik 2: Andreas Hammerschmidt: Canzon à 3, Nr. XIV; CD Jörg Breiding / Himmlische Cantorey / Knabenchor Hannover / Johann Rosenmüller Ensemble: Verleih uns Frieden. Geistliche Vokalmusik von Andreas Hammerschmidt, Label Rondeau- Production (ROP7001), Track 15, 02:18 Ich finde gerade diesen scheinbaren Widerspruch in der Jugend des Heiligen Martin spannend, zwischen Christentum und Soldatenberuf. Da ist ein junger Mensch, der sich anscheinend schon früh im Job bewährt. In seiner Berufs- und Arbeitswelt kommt Gott normalerweise kaum vor. Trotzdem versteckt er weder seinen Glauben, noch zieht er sich in eine religiöse Sonderwelt zurück. Er schaut auch nicht auf andere, weniger fromme Zeitgenossen herab. Martin gestaltet sein Leben und seinen
Alltag mitten in der ganz realen Welt und der Gesellschaft seiner Zeit fast wie selbstverständlich aus seiner inneren Glaubensüberzeugung heraus. Vielleicht hätte sein Biograph lieber von irgendwelchen absonderlichen frommen Verrenkungen oder spirituellen Höchstleistungen erzählt. Stattdessen macht Martin im Alltagsleben auf eine unspektakuläre, aber authentische Weise mit seinem Glauben ernst und handelt nach dem, was er glaubt. Christliches Leben, das ist nicht nur etwas für irgendwelche abgehobenen Spezialisten. Das hat Martin von Tours in seinem Leben immer wieder bewiesen, sogar in den 25 Jahren, in denen er Soldat war. In diese Zeit fällt auch die bekannteste Geschichte, die bis heute mit Vorliebe von ihm erzählt und bei vielen Martinszügen und im Martinsspiel noch heute inszeniert wird, wobei die heutigen Martinsdarsteller meistens mit erhobenem Schwert auf Pferden sitzen, in typisch spätantiker Heldenpose. Dabei ist in der Literatur nirgends erzählt, dass Martin bei dieser besonderen Begebenheit auf einem Pferd gesessen hätte. Das haben die Künstler später so gemalt und modelliert. Wie auch immer der junge Soldat nun unterwegs war; - geschehen ist folgendes: Am Stadttor von Amiens begegnet Martin mitten in einem strengen Winter einem fast unbekleideten Bettler. Da er aber im Dienst ist und außer seiner Ausrüstung und der Uniform nichts bei sich hat, teilt er mit dem Schwert seinen Mantel und gibt die eine Hälfte dem Armen. Manche Historiker meinen, das sei auch deshalb glaubhaft, weil die Offiziere damals ihre Ausrüstung zur Hälfte selbst hätten bezahlen müssen. Darum hätte Martin korrekterweise halt auch nur über den halben Mantel verfügen können. Allerdings habe er trotzdem von seinen Vorgesetzten eine Arreststrafe erhalten; drei Tage wegen mutwilliger Beschädigung von Militäreigentum. So erzählt es sein Biograph. Bei diesem Biographen geht die Geschichte dann auch noch weiter: in der Nacht danach, so schreibt er, erschien dem Martin im Traum Jesus Christus, bekleidet mit dem halben Militärmantel. Zu den Engeln, die dabeistanden, sagte Jesus: Martinus, der noch nicht getauft ist, hat mich mit diesem Mantel bekleidet! An dieser alten Erzählung und erst recht in ihrer Deutung durch den Traum mag manches legendenmäßig überzeichnet sein. Aber sie zeigt doch Wesentliches: Der Glaube ist mehr als ein einmaliges Getauftwerden. Er erschöpft sich nicht in einer formalen Zugehörigkeit zu Rechtskörperschaften, sondern er zeigt sich im Alltag. Wenn ich mit offenen Augen durch die Straßen gehe, wenn ich die anderen Menschen sehe, statt sie gedankenlos links liegenzulassen, dann braucht es gar keine riesigen Aktionen. Oft genügt es schon, mit Intuition und Aufmerksamkeit das Nächstliegende zu tun, auch wenn es noch so wenig scheint. Für solche Alltagsbegegnungen will ich wach und bereit sein. Ein biblischer Vers aus dem Jesajabuch im Alten Testament passt darum ganz gut zum Martinstag: Mache dich auf, werde Licht, denn dein Licht kommt. (Jesaja 60, 1)
Johann Michael Bach hat als Kantor in Tann an der Rhön im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert eine Kantate zum Epiphaniefest mit diesem Titel überschrieben. Hören wir den Eingangschor. Musik 3: Johann Michael Bach: Mache dich auf, werde licht (Coro), aus: Kantate Mache dich auf, werde licht ; CD Johann Michael Bach: Friedens-Cantata, Das kleine Konzert / Hermann Max, Label cpo 999 671-2, Track 18, 03:01 Der Heilige Martin hat sich aufgemacht und ist für viele ein Hoffnungslicht geworden. Seinen Militärdienst hat er nach den 25 regulären Dienstjahren, zu denen er verpflichtet war, im Jahr 356 aufgegeben. Das war in der Gegend von Worms. Sein Biograph gestaltet dazu eine große Szene, in der Martinus heftig mit Kaiser Julian aneinandergerät. Denn seinen Ausstieg begründet er dem Kaiser gegenüber mit seinem Glauben, der für so etwas wenig Verständnis zeigt. Martin aber geht nach Poitiers, um sich dort bei Bischof Hilarius auf den Priesterberuf vorzubereiten. Wegen mancherlei Auseinandersetzungen in der Kirche mussten beide aber schon bald ins Exil. Martin lebt als Einsiedler auf einer Insel an der Riviera. Vier Jahre später können beide nach Poitiers zurückkehren, und Martin gründet vierzigjährig mit einigen Gleichgesinnten in der Nähe, bei Ligugé, ein Kloster. Zehn Jahre später, als ein neuer Bischof für Tours gesucht wurde, war er für die Leute der unbedingte Favorit. An dieser Stelle bringt die Legende nun die Martinsgänse ins Spiel: Martin habe sich, so wird überliefert, vor dem Drängen der Bevölkerung in einem Gänsestall versteckt, um nicht Bischof werden zu müssen. Durch das Geschnatter der Tiere sei er aber verraten worden. Und so setzte die Gemeinde schließlich Martin als neuen Bischof von Tours durch. Im Sommer 372 wurde er mit 56 Jahren zum Bischof geweiht. Trotz aller Bedenken hat er sich dieser Aufgabe entschlossen gestellt. Er legte aber Wert darauf, weiter wie ein Mönch in äußerster Bescheidenheit zu leben. Sein Dienst brachte ihn zwar öfter mit den Großen seiner Zeit zusammen. Aber persönlich legte er Wert auf eine gesunde Distanz zur Geschäftigkeit der großen Politik. Er stiftete weitere Klöster, unternahm fast ständig bei Missionsreisen kreuz und quer durch sein Gebiet, predigte viel in den Gemeinden und auf öffentlichen Plätzen und leistete Hilfe, wo sie vor Ort nötig war. Martin war sich für keine Arbeit und keinen Hilfsdienst zu schade und verkörperte bald viele Ideale seiner Zeit: ein Bischof als Priester, Arzt und Sozialarbeiter, aber auch als Apostel und Asket. Im Alter von 81 Jahren starb Martin auf einer seiner Seelsorge-Reisen. Er wurde am 11. November 397 in seiner Bischofsstadt Tours unter ungeheurer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt. Beinahe sofort wurde er als Heiliger verehrt. Er war damit einer der ersten, die man als Heilige betrachtete, obwohl sie nicht als Märtyrer für ihren Glauben gestorben waren. Martin galt den Menschen als heilig, weil er schlicht und einfach Tag für Tag lebte, was er predigte.
Mich begeistert der Blick auf Bischof Martin immer wieder: Sein Leben zeigt, wieviel Kraft er aus dem Glauben schöpfen konnte. Damit konnte er den täglichen Herausforderungen begegnen und sich so immer neu seinen vielen Aufgaben stellen. Ein geistliches Lied von Carl Philipp Emanuel Bach erzählt im 18. Jahrhundert von einer solchen Erfahrung. Ein Pilger bin ich in der Welt, so beginnt die erste Strophe. Das alltägliche Sorgen und Mühen wird im Lied nicht ausgespart; aber dann eröffnet es eine gläubige Perspektive der Gelassenheit: Wenn mich der Zukunft Schicksal schreckt, die Not in fernen Tagen; wenn sie die Sorg in mir erweckt, ob ich sie wird ertragen: so mildert mir die Ewigkeit die Lasten dieser Pilgerzeit und gibt dem Herzen Stärke. Musik 4: Carl Philipp Emanuel Bach: Dieses und jenes Leben. Ein Pilger bin ich in der Welt ; CD Carl Philipp Emanuel Bach Johann Christoph Friedrich Bach. Geistliche und weltliche Lieder von Gotthold Schwarz und Sabine Bauer, Label Capriccio (18 856), Track 5, 03:01 Ewigkeit, die dem Herzen Trost und Stärke gibt, die wünsche ich mir auch für mich und meinen Alltag. Der Martinstag erinnert mich daran, dass es möglich ist, den Lebensweg mit all seinen schweren und leichten Etappen, gelassen, achtsam und zugewandt zu gestalten. Wenn das gelingt, dann wird es denen, die mir Tag für Tag begegnen, danach idealerweise immer wenigstens ein bisschen besser gehen als vorher. Und daran zeigt sich letztlich, ob ich auch tue, was ich sage. Das kann dann heißen: Ich spreche die spitze Bemerkung, die mir auf der Zunge liegt, in der Sitzung eben doch nicht aus. Oder ich bringe, wenn ich eh schon in die Küche gehe, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Büro gelegentlich gleich noch eine Tasse Kaffee an den Schreibtisch. Oder ich leiste jemandem, der sich gerade mit seinem Gepäck müht, fast im Vorbeigehen auf dem Supermarktparkplatz oder im Zugabteil einen hilfreichen Handgriff. - Das sind Mantelteilungen, wie sie heute möglich sind. Und die tun ja nicht nur den anderen gut, sondern auch mir selbst. Da, wo wir Menschen ein bisschen wie Martin sind, da hellt sich selbst der diesigste Novembertag spürbar auf. Musik 5: Johann Sebastian Bach: Choralvorspiel Gott, durch deine Güte (OB,2 / BWV 600); CD 7/ 12 Bach. The organ works, Helmut Walcha, Label Polydor International GmbH / Archiv Produktion 436 712-2, Track 2, 01:10