Die Mitte suchen und sie hier und da auch finden 1. Einen wunderbaren Film habe ich letzte Woche gesehen. Wunderbar, obwohl es sich dabei um einen Dokumentarfilm handelt noch dazu weitgehend mit Untertiteln. Keiner von den Filmen also, die mich normalerweise ins Kino locken. Aber durch das, was ich vorher darüber gelesen hatte, war ich neugierig geworden. Der Film heißt Die Mitte. Darin begibt sich der polnische Regisseur Stanislaw Mucha mit seinem Team auf eine originelle Reise quer durch Europa. In verschiedenen Ländern sucht er eine Reihe von Orten auf, die alle von sich behaupten: Hier ist die Mitte Europas! Die Reise beginnt in Deutschland, in Hessen, in Cölbe bei Marburg. Da steht der Rentner Hans Schmidt in seinem Vorgarten, zeigt auf eine bestimmte Stelle und sagt: Hier, genau hier ist sie, die Mitte von Europa. Deshalb schwenkt der Gartenzwerg, der dort steht, eine Europafahne im Arm, blau, mit zwölf Sternen. Wie die meisten seiner über 100 Kollegen in diesem zentralen Vorgarten stammt der Zwerg mit der Fahne aus der polnischen Partnerstadt. Denn da drüben gibt es viele, sagt der stolze Besitzer. Der Cölber hat sich mit dem Bürgermeister der Partnerstadt angefreundet. Und die Familien verstehen sich gut, obwohl sie sich bei ihren gegenseitigen Besuchen hier und dort fast nur mit Händen und Füßen unterhalten. Es müsste noch eine einheitliche Sprache in Europa geben, findet er. Gott versteht alle Sprachen!, behauptet eine alte Frau in dem Städtchen Rachiv im Westen der Ukraine. Dort befindet sich eine weitere Station des Films, denn auch dort weiß man bestimmt: Genau hier ist die Mitte Europas! Wie diese Frau das sagt, Gott versteht alle Sprachen!, klingt es absolut glaubwürdig. Denn sie selbst ist katholisch, ihr Mann Jude, die erwachsenen Kinder leben mit ihren Familien in Rumänien. Eine europäische Familie sozusagen, in der man verschiedene Sprachen spricht und trotzdem versteht und verstanden wird. - 1 -
2. In der Nähe der kleinen Stadt Rachiv in der Ukraine markiert ein Gedenkstein mit Inschrift die Stelle, an der sich die Mitte von Europa befinden soll. Das ist an den meisten der anderen Orte, die einen solchen Mittelpunkt präsentieren, genauso in Polen und in Litauen, in der Slowakei und in Österreich. Irgendwann hat man sie mit einem der verschiedenen Verfahren ausgerechnet oder sie zum Teil auch schon mal einfach so festgelegt, per Dekret wie seinerzeit Napoleon zum Beispiel. In Litauen übrigens, 30 Kilometer nordöstlich von Vilnius, liegt er tatsächlich, der geographische Mittelpunkt Europas. Das jedenfalls hat die letzte offizielle Vermessung 1989 ergeben. Und auch diesen Ort sucht der Film auf seiner Reise natürlich auf. Doch dabei ist längst klar, viel mehr geht es um die verschiedenen Menschen, die einem dabei begegnen. Einer der menschlichen Mittelpunkte ist auf jeden Fall ein Kiosk in dem schon erwähnten Städtchen Rachiv. Die alte Inhaberin dieses Kiosks wird von allen dort nur Tante Raja genannt. Sie ist eine tägliche Anlaufstelle für viele, sie hat ein offenes Ohr und ein paar freundliche Worte für alle, die zu ihr kommen. Die meisten kaufen eine Zeitung, eine von denen mit Nachrichten aus der Region und mit einem ausführlichen Fernsehprogramm. Und man unterhält sich einen Moment, redet über dies und das, auch mit den Leuten vom Film. Über die Armut zum Beispiel, die verlorene Arbeit, den Alkohol. Jetzt gibt es alles, aber wir können uns nichts kaufen, sagt einer. Und ein anderer singt auf Deutsch in die Kamera: O Susanna, wie ist das Leben schön. Und fügt dann hinzu: Nur hier nicht. Sein Lächeln dabei gerät etwas schief und auch bitter, aber es bleibt doch ein Lächeln, begleitet von Herzlichkeit und Humor. Das ist eines der vielen Gesichter in Europa. Zugleich weit weg und doch irgendwie nah dran, fremde und doch vertraute Züge wie im Gesicht eines Nachbarn oder wie in meinem eigenen. - 2 -
Es ist gut zu merken, dass Europa nicht nur die Gesichter von Politikern oder Fußballspielern trägt, sondern auch die von Millionen anderen Menschen. Und jeder und jede von ihnen bildet für sich eine eigene Mitte in einer eigenen Welt. 3. Jeder Mensch eine eigene Mitte in einer eigenen Welt diesen Gedanken finde ich schön ausgedrückt in einem rabbinischen Text, in der Überlieferung des Judentums: Bei der Schöpfung der Welt wurde nur ein einziger Mensch erschaffen, um dich zu lehren, dass, wenn jemand nur eine einzige Person vernichtet, die Heilige Schrift es ihm anrechnet, als hätte er eine ganze Welt vernichtet, und wenn jemand eine einzige Person am Leben erhält, die Heilige Schrift es ihm anrechnet, als hätte er eine ganze Welt am Leben erhalten. Daher muss auch jeder einzelne Mensch sagen: Meinetwegen ist die Welt erschaffen worden. Das heißt doch: Ich bin die Mitte einer ganzen Welt, meiner Welt, die Gott für mich geschaffen hat. Man traut sich kaum, das zu sagen. Denn es klingt im ersten Moment überzogen und egozentrisch. Das soll man sich doch gerade abgewöhnen: sich für den Nabel der Welt zu halten und alles auf sich selbst zu beziehen. Aber mal nüchtern besehen und wörtlich genommen: Natürlich sind wir Menschen ego-zentrische Wesen: das Ich in der Mitte! Wir können gar nicht anders, als uns selbst als den Mittelpunkt der Welt zu erleben. Das gehört sozusagen zu unserer Grundausstattung. Da kann man sich verbiegen und verbeugen wie man will. Es bleibt dabei. Und der schöne Text von eben besagt sogar: Du sollst dich auch nicht verbiegen, um Gottes willen nicht, sondern aufrecht gehen und heiter dazu stehen: deinetwegen wurde ein ganze Welt erschaffen, deine Welt, mit dir in der Mitte. Das ist deine Identität, deine Größe und deine Würde, mit der Gott dich von Anfang an ausgestattet hat. Und die Gott an dir wertschätzt. - 3 -
Der Punkt ist nur: Für die anderen, für deine Freundin, für deinen Kollegen, für deine Nachbarin und für den Mann am Kiosk irgendwo in der Ukraine, für die hat Gott auch die ganze Welt erschaffen und für Millionen und Milliarden andere Menschen genauso. Sie alle sind eine eigene Mitte in einer eigenen Welt. Was das bedeutet, ist kaum zu ermessen. Aber wenn einen diese Erkenntnis mal erwischt, macht sie einen für einen kostbaren Moment lang richtig ehrfürchtig, bescheiden, mitfühlend und wohl wirklich realistisch. Und man wird für einen kostbaren Moment lang irgendwie ein besserer Mensch und will die Welt für alle besser haben. 4. Kostbar sind sie, diese Momente, in denen Menschen ihre eigene Mitte spüren. Weil ein Bild sie genau dort anrührt, weil ein Gedanke sie genau da trifft, mitten ins Herz sozusagen. Und wahrscheinlich hat es doch auch eine tiefere Bedeutung, dass das Herz im menschlichen Körper ziemlich genau in der Mitte zwischen Kopf und Bauch angebracht ist. Man kann das direkt nachmessen. Das Herz mittendrin für mich ein deutlicher Hinweis darauf, wo wir Menschen am ehesten suchen sollten, wenn wir unsere Mitte suchen. Damit das Unternehmen nicht zu sehr kopfgesteuert bleibt. Und damit es nicht nur aus dem Bauch heraus geschieht. Sicher gibt es tausend Wege, auf denen man die eigene Mitte suchen kann. Man achtet ganz bewusst auf seinen Atem, zum Beispiel. Man meditiert oder betet oder beides. Man hört Musik oder spielt selbst. Man geht im Wald spazieren. Oder man geht in die Kirche. Oder ins Kino. Ich selbst mache bei einem Gottesdienst in der Kirche und bei einem Film im Kino manchmal ganz parallele Erfahrungen. Vor allem auch die, dass eine ganze Reihe verschiedener Menschen an bestimmten Stellen gleichzeitig reagieren und offenbar ähnlich intensiv in ihrer Mitte, im Herzen angerührt oder getroffen sind. Sie werden im gleichen Moment still, halten gemeinsam den Atem an, lächeln oder lachen gleichzeitig. Übrigens ist das auch bei dem Film so gewesen, von dem ich vorhin erzählt habe. - 4 -
Und das könnte dann doch auch ein Bild sein für dieses unübersichtliche und ungreifbare Unternehmen Gemeinschaft in Europa. Dass es jenseits aller großen Worte und Beschwörungen womöglich einfach Stellen gibt, an denen ganz verschiedene Menschen sich nah sind obwohl sie so weit auseinander leben. Weil sie sich ähnliche Sorgen machen, um die Kinder oder den Arbeitsplatz zum Beispiel. Oder weil sie mit einer verwandten Art von Humor gegen kleine und große Schwierigkeiten anlächeln. Oder nicht zuletzt, weil sie in verschiedenen Sprachen aber manchmal mit den gleichen Worten zu Gott beten. Um die eigene Mitte wieder zu spüren, und um sich um eine gemeinsame Mitte zu versammeln. - 5 -