Vernunft und Universalismus am Beispiel Immanuel Kants

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Transkript:

Klaus Steigleder Vernunft und Universalismus am Beispiel Immanuel Kants In diesem Beitrag will ich die Grundzüge der Moralphilosophie Immanuel Kants (1724 1804) vorstellen. Deren Kernthesen mögen zunächst fremd oder gar unverständlich anmuten. Ich will aber versuchen, sie verständlich zu machen. Außerdem möchte ich zeigen, dass Kants Moralphilosophie nicht einfach eine inzwischen reichlich angestaubte Theorie ist, an der nur noch die Liebhaber der Philosophiegeschichte Freude finden können. Kants Moralphilosophie dürfte vielmehr einen der wichtigsten Theorieansätze der Ethik überhaupt darstellen. Sie vermag uns auch heute noch zumindest Einsichten zu vermitteln, uns zu belehren und herauszufordern und ist allein schon deshalb unvermindert aktuell. Kant hat seine Konzeption der Moralphilosophie vor allem in den folgenden drei Werken entwickelt und ausgearbeitet: in der 1785 veröffentlichten Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in der 1788 erschienenen Kritik der praktischen Vernunft und schließlich in der 1797 publizierten Die Metaphysik der Sitten. 1. Hinführung: Zwei Kernthesen Kants und ihre Erläuterung Beginnen wir mit zwei Kernthesen der Moralphilosophie Kants. Sie lassen sich folgendermaßen formulieren: (1.) Moral und Klugheit sind etwas gänzlich Verschiedenes. (2.) Moral und moralische Forderungen gibt es nur, wenn reine Vernunft praktisch sein kann, weshalb wir Menschen überhaupt nur moralfähig sind, wenn wir das Vermögen reiner praktischer Vernunft besitzen. Es besteht kein Grund, beunruhigt zu sein, wenn man nicht sogleich versteht, was mit reiner praktischer Vernunft gemeint ist. Denn so reden wir heute nicht mehr. Was Kant praktische Vernunft

2 genannt hat, würden wir heute als Handlungsfähigkeit bezeichnen, als die Fähigkeit, sich für Ziele entscheiden zu können, die man durch sein Tun oder Lassen verfolgen und erreichen will. Beispiele sind etwa die Entscheidung, den Umweg zum Kiosk zu nehmen, um sich eine Zeitung zu besorgen, die man lesen will, der Vorsatz, mehr auf seine Gesundheit zu achten und deshalb weniger Süßes zu essen und täglich zu joggen, oder der grimmige Entschluss, nicht zu klatschen, um zu zeigen, dass man die Darbietung wirklich schlecht fand. Bei solchen Entscheidungen zum Handeln sind gewissermaßen zwei Komponenten miteinander verbunden, nämlich zum einen Überlegungen das Aufsuchen und Abwägen von Gründen, vielleicht das Bedenken von Handlungsfolgen und Handlungsalternativen und zum anderen Willensäußerungen Bevorzugen, Sich Entschließen, das Setzen oder Aufgeben von Zielen. Wegen dieses Mit- und Ineinanders kognitiver (erkenntnisbezogener) und volitiver (willensbezogener) Bestandteile spricht Kant von praktischer Vernunft. Aber aus welchen Gründen können wir Handlungsentscheidungen treffen? Hier gibt es Kant zufolge nur zwei Möglichkeiten. Möglichkeit 1: Die Gründe gehen auf unsere Sinnlichkeit zurück. Es geht uns dann, wie wir noch näher sehen werden, letztlich um unser eigenes Wohlergehen oder Glück. Möglichkeit 2: Die Gründe sind gänzlich unabhängig von unserer Sinnlichkeit und entspringen dann nicht unserem Eigeninteresse. Sie müssten dann, auch dies wird noch näher zu erläutern sein, in unserer praktischen Vernunft selbst liegen. Solche Unabhängigkeit von Sinnlichkeit bezeichnet Kant als rein. Das Vermögen reiner praktischer Vernunft meint deshalb die Fähigkeit zu einem Handeln, dem es nicht um das Wohlergehen oder das Glück des Handelnden geht. Anders gesagt meint das Vermögen reiner praktischen Vernunft das Vermögen, aus Gründen zu handeln, die nicht Klugheitsgründe sind. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Gründen sei zunächst an einem Beispiel veranschaulicht.

3 Ein Beispiel Stellen Sie sich vor, Sie gehen eilig durch einen Park und stoßen auf einen Verletzten, der dringend Ihre Hilfe braucht. Helfen Sie? Und wenn Sie helfen, warum helfen Sie? Vielleicht wollen Sie ja Ihre Freundin oder Ihren Freund beeindrucken, indem Sie zeigen, wie sensibel Sie sind oder dass Sie zupacken können. Vielleicht haben Sie Angst, wegen unterlassener Hilfeleistung belangt zu werden. Vielleicht wissen Sie, dass Ihnen das Ganze nachgehen wird und Sie von Gewissensbissen geplagt werden werden, falls Sie nicht helfen also helfen Sie. Vielleicht fürchten Sie, dass Gott Sie strafen wird, wenn Sie nicht geholfen haben, oder Sie hoffen, für Ihren Einsatz einmal ewigen Lohn im Himmel zu erhalten. Dies wären alles Gründe, in denen es mehr oder weniger direkt um Ihr Wohlergehen geht. Ihre Hilfeleistung wäre in Ihrer Klugheit begründet. Aber was ist, wenn alle diese Gründe wegfallen? Niemand ist zugegen, den Sie beeindrucken können. Sie sind sich sicher, dass Sie nicht wegen unterlassener Hilfeleistung belangt werden werden, weil es keinerlei Zeugen gibt. Sie wissen, dass Sie den Verletzten sofort wieder vergessen werden. Das wird Ihnen nicht nachgehen. Und an Gott oder an ein Leben nach dem Tod glauben Sie schon lange nicht mehr. Werden Sie unter diesen Voraussetzungen also nicht helfen? Vielleicht sind Sie jetzt angesichts dieser Frage entrüstet und denken: Natürlich muss ich in einer solchen Situation helfen, und ich hoffe doch sehr, dass ich es auch tun würde. Denn um mein Wohlergehen geht es in einem solchen Fall gar nicht. Vielmehr geht es um das Wohlergehen des Verletzten. Ihm kommt es zu, dass ihm geholfen wird. Kant hätte Ihnen zugestimmt, und er wäre der Meinung gewesen, dass Ihre Reaktion aufschlussreich ist. Eine solche Reaktion zeigt nämlich, dass Sie mit Ansprüchen oder Verbindlichkeiten rechnen, die etwas anderes sind als Klugheitsforderungen. Sie rechnen mit moralischen Ansprüchen und sehen diese als etwas an, das sich von den Ansprüchen der Klugheit unterscheidet. Und Sie gehen davon aus, dass

4 Sie auch dann handeln können, wenn es nicht um ihr Wohlergehen geht. Kant würde sagen, dass Sie damit rechnen, dass Sie das Vermögen reiner praktischer Vernunft besitzen. Um nun aber Kants Konzeption der Moralphilosophie genauer verstehen zu können, müssen wir uns näher mit Kants Analyse von Ansprüchen der Klugheit und Ansprüchen der Moral beschäftigen. Dabei wird sich auch Folgendes zeigen: Kant geht nicht nur davon aus, dass wir das Vermögen reiner praktischer Vernunft besitzen müssen, um moralischen Ansprüchen gerecht werden zu können. Kant geht auch davon aus, dass alle moralischen Ansprüche in reiner praktischer Vernunft wurzeln oder begründet liegen. Doch gehen wir Schritt für Schritt vor. 2. Bedingtes und unbedingtes Sollen Wir sehen uns immer wieder vielfältigen Sollensansprüchen gegenüber, also Forderungen, dass wir in bestimmter Weise handeln sollen. Wir sollen auf ein gepflegtes Äußeres achten. Wir sollen uns um eine gute Berufsausbildung bemühen. Wir sollen ein Leben lang weiterlernen. Wir sollen für das Alter Vorsorge treffen. Wir sollen andere nicht verletzen um nur einige wenige Beispiele anzuführen. Wie kommt es zu solchen Sollensforderungen oder Sollensansprüchen? Woher beziehen sie ihre Verbindlichkeit, wenn sie denn Verbindlichkeit besitzen? Kant dürfte eine der bedeutendsten Theorien der Erklärung von Sollensansprüchen und ihrer Verbindlichkeit entwickelt haben. Diese soll im Folgenden hier vorgestellt werden. Imperative als Sollensansprüche, nicht Befehle Kant selbst spricht aber nicht von Sollensansprüchen, sondern von Imperativen. Dies kann zu Missverständnissen Anlass geben. Denn wir verstehen heute unter Imperativen Befehle oder imperativische Sprechhandlungen. Und es gibt auch eine Befehlstheorie des Sollens. Diese versucht das Zustandekommen von Sollensansprüchen dadurch

5 zu erklären, dass sie auf Befehle zurückgehen. Eine solche Theorie ist aber nicht sonderlich überzeugend, und Kant jedenfalls vertritt eine solche Theorie nicht. Stellen Sie sich vor, ein Fremder befiehlt Ihnen Geben Sie mir 1000 Euro! Es mag vielleicht noch Sinn machen zu sagen, dass der Fremde der Meinung ist, dass Sie ihm 1000 Euro geben sollen. Aber müssen Sie aufgrund des Befehls der Meinung sein, dass Sie dem Fremden das Geld geben sollen? Erzeugt der Befehl als solcher für Sie eine Verbindlichkeit? Vermutlich nicht, und Sie werden wohl geneigt sein, den Befehl des Fremden für einen Scherz oder den Befehlenden für verrückt zu halten. Die Situation stellt sich natürlich anders dar, wenn der Fremde Ihnen nicht einfach nur befiehlt, sondern er Sie zugleich auch bedroht. Dann haben Sie sehr wohl einen Grund, dem Befehl Folge zu leisten. Der Grund erwächst dann aber nicht einfach aus dem Befehl, sondern aus Ihrer Klugheit (wie gleich noch ausführlicher gezeigt werden wird). Es muss auch kein Automatismus bestehen, wie der folgende (zugegebenermaßen nicht sonderlich realistische und in solchen Situationen auch nicht zu empfehlende) Witz oder Spaß zeigt. Sie könnten auf die Drohung auch reagieren: Prima! Erschießen Sie mich! Ich wollte ohnehin heute aus dem Leben scheiden! Ein Vertreter der Befehlstheorie des Sollens mag aber das Beispiel abwandeln wollen. Stellen Sie sich vor, der Befehl, 1000 Euro zu zahlen, wird Ihnen nicht direkt von einem Ihnen begegnenden Fremden erteilt, sondern erreicht Sie in Form eines Steuerbescheids Ihres Finanzamtes, versehen mit einer Zahlungsfrist. Wären Sie dann, so mag der Vertreter der Theorie fragen, nicht der Meinung, dass Sie die Zahlung leisten sollen? Vermutlich ja aber warum? Zwei Antworten liegen nahe. Zum einen könnten Sie darauf verweisen, dass auch der Steuerbescheid mit einer Drohung versehen ist. Denn das Schreiben lässt keinen Zweifel daran, dass man Ihre Zahlung notfalls erzwingen wird. Dann aber ist wiederum Ihre Klugheit angesprochen. Oder aber Sie verweisen darauf, dass das Finanzamt befugt ist, die Zahlung von

6 Ihnen zu verlangen. Dann ergibt sich die Verbindlichkeit des Steuerbescheids nicht einfach aus dem Befehl, sondern aus der Autorität zu befehlen und den normativen Gründen, die gegebenenfalls dafür sprechen, dass tatsächlich eine solche Autorität vorhanden ist. Die voranstehenden Bemerkungen haben nicht das Ziel, die Befehlstheorie des Sollens erschöpfend zu behandeln. Ich wollte in Ansätzen deutlich machen, was die Kernthese dieser Theorie ist. Kant vertritt eine andere Theorie. Und wenn er von Imperativen spricht, so sind damit nicht Befehle, sondern Sollensforderungen gemeint. Nach Kant lassen sich zwei Arten des Sollens vorstellen, bedingtes Sollen und unbedingtes Sollen. Bedingte Sollensforderungen Kant selbst spricht von hypothetischen Imperativen sind Sollensforderungen, die es fraglos gibt. Es gibt eine Sollensforderung, wenn sie für den Adressaten des Sollens tatsächlich Verbindlichkeit besitzt oder, mit Kant gesprochen, eine nötigende Kraft zu entfalten vermag. Und von bedingten Sollensforderungen lässt sich leicht zeigen, dass sie für ihre Adressaten eine solche nötigende Kraft besitzen. Ob es aber neben bedingten Sollensforderungen auch unbedingte Sollensforderungen gibt moralische Sollensansprüche oder kategorische Imperative ist dagegen eine nicht so leicht zu beantwortende Frage. Bevor wir uns ihr zuwenden können, müssen wir uns erst einmal Kants Analyse der Struktur unbedingten Sollens zuwenden. Diese setzt wiederum die Analyse der Struktur bedingten Sollens voraus. Denn Kant entwickelt in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten den Begriff unbedingten Sollens in Absetzung vom Begriff bedingten Sollens. Der einfachste Fall bedingten Sollens ist das technische Sollen. Technisches Sollen Technisches Sollen beruht auf der für einen Handelnden bestehenden Notwendigkeit, ein bestimmtes Mittel zu ergreifen, um ein Ziel zu er-

7 reichen, das der Handelnde hat. 1 Nehmen wir an, Müller will abnehmen. Dies ist sein Handlungsziel. Handlungsziel meint dabei, dass Müller tatsächlich entschlossen ist, geeignete Mittel zu ergreifen, um abzunehmen. Abnehmen ist also für Müller nicht einfach nur ein Wunsch, nicht nur etwas, das er gerne täte. Abnehmen ist für Müller auch nicht nur eine mögliche Zielsetzung, nicht nur etwas, das er in Erwägung zieht. Vielmehr handelt es sich um ein wirkliches Handlungsziel. Müller weiß, so wollen wir annehmen, dass seine Gewichtsprobleme vor allem durch seinen durchaus unmäßigen Schokoladenkonsum verursacht sind. Er kommt deshalb zu dem Schluss, dass der Verzicht auf Schokolade das geeignete Mittel ist, um sein Ziel abzunehmen zu erreichen. Diese Bestimmung des für die Erreichung seines Ziels notwendigen Mittels, stellt eine Sachüberlegung, ein theoretisches Urteil dar. Dieses lässt sich gewissermaßen in der Form einer nüchternden Bestandsaufnahme treffen. Unter der Voraussetzung dieses theoretischen Urteils muss Müller angesichts seiner Zielsetzung jetzt aber auch ein, mit Kant gesprochen, praktisches Urteil treffen: Aus der Tatsache, dass er abnehmen will, erwächst für ihn die praktische Notwendigkeit auch das geeignete Mittel anwenden zu wollen, nämlich seinen Schokoladenkonsum einzustellen (oder zumindest drastisch einzuschränken). In gewisser Weise schließt das Wollen des Zieles das Wollen des Mittels ein. Doch besteht kein Automatismus, wie jeder weiß, der sich einmal in einer Diät versucht hat. Weil Müller kein reines Vernunftwesen ist, sondern von aus seiner Sinnlichkeit herrührenden Neigungen geprägt ist, wird er immer wieder die Versuchung verspüren, doch Schokolade zu essen. Die aus seinem Ziel herrührende praktische Notwendigkeit, keine Schokolade zu essen, führt deshalb nicht zu einer 1 Technik in technisches Sollen meint die Anwendung von Mitteln, um ein Ziel zu erreichen. Technik wird hier also in einem weiteren Sinn als heute üblich verstanden. Es geht also nicht nur um Technik, die Gegenstand der Ingenieurwissenschaften ist.

8 selbstverständlichen Befolgung. Vielmehr tritt ihm diese praktische Notwendigkeit als ein Anspruch gegenüber, wird zum Sollen. Es ist wichtig, sich durch das Beispiel nicht den Blick auf die Struktur verstellen zu lassen, die es verdeutlichen soll. Ausgangspunkt ist ein Handlungsziel Z, das ein Handelnder tatsächlich hat, also entschlossen ist zu verfolgen. Um dieses Z erreichen zu können, ist es notwendig ein (oder mehrere) Mittel M anzuwenden. Die Bestimmung der für die Zielerreichung erforderlichen Mittel ist Sache einer theoretischen Erkenntnis und erfolgt entsprechend in theoretischen Urteilen. Sofern der Handelnde aber darum weiß, durch welches (oder welche) Mittel das Ziel erreicht werden kann, ist er aufgrund seiner Zielsetzung genötigt, auch ein praktisches Urteil zu treffen, nämlich das Urteil, dass für ihn die Notwendigkeit besteht, das erforderliche Mittel (bzw. eines der erforderlichen Mittel) 2 zu ergreifen oder anzuwenden. Da er aber wegen entgegenstehender Neigungen nicht selbstverständlich das tut, was für ihn aufgrund seiner Zielsetzung zu tun notwendig ist, tritt ihm die durch seine Zielsetzung bedingte praktische Notwendigkeit als ein Anspruch gegenüber, wird zum Sollen. Die erwähnte Nötigung, ein praktisches Urteil zu treffen, meint eine logische Nötigung. Es wäre für den Handelnden inkonsistent, einerseits fest entschlossen zu sein, ein Ziel handelnd zu realisieren zu versuchen, andererseits nicht bereit zu sein, das zu tun, was erforderlich ist, um das Ziel handelnd realisieren zu können. Würde deshalb allein Vernunft darüber entscheiden, was wir handelnd zu erreichen versuchen, so würden wir selbstverständlich das tun, was für uns aufgrund unseres Ziels zu tun notwendig ist. Dass wir es nicht selbstver- 2 Die Wahl zwischen mehreren geeigneten Mitteln erfordert über technische (d.h. auf bloße Zweck-Mittel-Relationen beschränkte) Gesichtspunkte hinausgehende Überlegungen, beispielsweise Klugheitsüberlegungen. Deshalb geht Kant in seiner Analyse technischen Sollens ( technischer Imperative, Imperative der Geschicklichkeit ) von jeweils einem für die Zielerreichung notwendigen und von dem Handelnden realisierbaren Mittel aus, siehe GMS 7, 46 = IV, 417: Wer den Zweck will, will (so fern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist. (Zur Zitierweise der Werke Kants siehe die Hinweise am Ende dieses Beitrags.)

9 ständlich tun, hängt eben mit unserer sinnlich geprägten Antriebsstruktur zusammen, die dazu führt, dass nicht allein Vernunft über unser Handeln entscheidet. Sollensforderungen, die Wendung praktischer Notwendigkeiten zu (nicht selbstverständlich verfolgten) Ansprüchen an unser Handeln, geben deshalb Kant zufolge immer Anzeige auf durch Sinnlichkeit geprägte handlungsfähige Wesen. Weil reine Vernunftwesen selbstverständlich das täten, was für sie vernünftigerweise zu tun notwendig ist, müssten ihnen die entsprechenden praktischen Notwendigkeiten nicht als Ansprüche gegenübertreten. Reine Vernunftwesen würden deshalb für ihr Handeln auch keine Sollensforderungen kennen. Die praktische Notwendigkeit, ein Mittel anzuwenden, ist durch die Zielsetzung bedingt. Sie besteht deshalb auch nur insofern und nur solange, als ein Handelnder seine Zielsetzung aufrechterhält. Müller soll T (= soll technisch) nur insofern keine Schokolade essen, als er abnehmen will. Wenn er dieses Ziel aufgibt, dann entfällt auch die davon abhängige praktische Notwendigkeit samt ihrer Wendung zum Sollen. Die Analyse der Struktur technischen Sollens zeigt, was Kants Analyse von Sollensansprüchen generell zutrifft: Sie erfolgt aus der Innenperspektive dessen, an den sich die Ansprüche richten. Entweder muss sich der Adressat der Sollensansprüche genötigt sehen, etwas zu tun, oder für ihn bestehen die entsprechenden Sollensansprüche auch nicht. Wenn Dritte urteilen, dass jemand etwas tun soll T, dann müssen sie die Perspektive dessen einnehmen, über den sie urteilen. Wenn beispielsweise Schmidt urteilt, dass Müller keine Schokolade essen soll T, dann kann er dies nur unter zwei Voraussetzungen tun: Er muss sich, erstens, auf das Ziel Müllers beziehen abzunehmen, und er muss, zweitens, davon ausgehen, dass der Verzicht auf Schokoladenkonsum für Müller ein notwendiges Mittel ist, dieses Ziel zu erreichen. Wenn wir urteilen, dass jemand etwas tun oder lassen soll, dann knüpfen wir aber oftmals nicht an Zielsetzungen an, die der Betreffende tatsächlich

10 hat, sondern an Zielsetzungen, von denen wir meinen, dass sie der Betreffende haben sollte. Es ist wichtig zu sehen, dass unsere Sollensurteile dann kein technisches Sollen zum Gegenstand haben. Technische Sollensansprüche oder Normen können auch als virtuelle Sollensansprüche formuliert werden. Sie besagen dann nicht, was jemand tun soll, weil er ein bestimmtes Ziel hat, sondern wenn oder insofern er ein solches Ziel hat. Gebrauchsanweisungen oder Kochrezepte sind Beispiele für solche virtuellen technischen Normen. Kant nimmt die Analyse der Sollensansprüche vor, indem er an die Urteile anknüpft, die ein Handelnder trifft bzw. treffen muss. So wie Kants Erkenntnistheorie auf einer Theorie theoretischer Urteile beruht, so beruht Kants Moralphilosophie auf einer Theorie praktischer Urteile. Kant kennt genau zwei Arten praktischer Urteile, nämlich Maximen und Imperative. Unter Maximen versteht Kant die Intentionen eines Handelnden. Sie lassen sich als Urteile auffassen, welche die folgende Grundstruktur besitzen: Ich will Z zu erreichen versuchen oder Ich will Handlung H tun, um Z zu erreichen. Dabei kann H auch ein Lassen meinen. Unter Imperativen versteht Kant, wie gesagt, Sollensansprüche oder Handlungsnormen. Ein technischer Sollensanspruch ist durch eine Maxime des Handelnden bedingt. In der Perspektive des Handelnden entspricht ihm ein Urteil der folgenden Struktur: Weil ich Z erreichen will, besteht für mich die praktische Notwendigkeit, H zu tun/soll T ich H tun. Maximen sind aber nicht nur die Bedingungen von Sollensansprüchen, sie sind auch praktische Stellungnahmen zu Sollensansprüchen. Angesichts der Schokolade in seiner Küche und seinem Wunsch, die Schokolade zu essen, sieht sich Müller, der abnehmen will, dem (technischen) Sollensanspruch gegenüber, nicht von der Schokolade zu essen. Zu diesem Anspruch wird sich Müller verhalten: Er wird sich entweder entschließen, nicht von der Schokolade zu essen, um sein Ziel abzunehmen zu erreichen oder er wird (trotz des Sollensanspruchs) von der Schokolade essen wollen. In beiden Fällen handelt es sich bei

11 diesen Stellungnahmen um praktische Urteile oder Maximen. Wenn Müller entgegen dem Sollensanspruch die Schokolade isst, dann zieht er in dieser Situation den Genuss der Schokolade seinem Ziel abzunehmen vor. Hinter der Analyse, die das Handeln auf praktische Urteile zurückführt, steht die Auffassung, dass wir (implizit oder explizit) aus Gründen handeln. Unser Handeln ist nicht einfach als Resultat des jeweils stärkeren Triebes zu verstehen, sondern es beruht auf einem Wollen, das gewissermaßen kognitiv imprägniert ist. Aus der Perspektive (und vermutlich nur aus der Perspektive) praktischer Urteile des Handelnden lässt sich verstehen, wie Sollensansprüche entstehen. In der Innenperspektive des Adressaten bildet sich gewissermaßen eine Brücke, welche die Kluft zwischen Sein und Sollen überspannt. Klugheitsbegründetes Sollen Neben technischen Sollensansprüchen stellen klugheitsbegründete Sollensansprüche eine zweite Art bedingter Sollensansprüche dar. In diesen geht es nicht bloß um die Notwendigkeit, ein bestimmtes Mittel zu ergreifen, um ein vorausgesetztes Ziel zu verfolgen. Vielmehr geht es in ihnen um die Notwendigkeit, mit Blick auf das übergeordnete Ziel eigenen Wohlergehens oder, wie Kant sagt, eigener Glückseligkeit bestimmte Ziele zu verfolgen oder nicht zu verfogen. Das Ziel eigener Glückseligkeit stellt eine Zielsetzung dar, die wir als vernunftbegabte, durch Lust und Unlust geprägte Wesen unvermeidlich haben. Wir wollen angenehme Zustände nach Möglichkeit erreichen und erhalten und wir wollen unangenehme Zustände nach Möglichkeit beenden und vermeiden. Deshalb entwickeln wir vermittels unserer Vernunft die Zielsetzung eines Zustands möglichst maximaler Annehmlichkeiten und möglichst minimaler Unannehmlichkeiten, den wir Glück nennen. Dabei handelt es sich nicht um eine Zielsetzung, für die wir uns bewusst entscheiden, sondern um eine Zielsetzung, die sich gewissermaßen hinter unserem Rücken unvermeidlich aufbaut

12 und gewissermaßen als ein Fluchtpunkt unserer Entscheidungen für (oder gegen) Handlungsziele fungiert. Kant bezeichnet die Zielsetzung eigener Glückseligkeit deshalb auch als natürlichen Zweck. 3 Diese Bezeichnung ist bewusst spannungsvoll: Natur verweist auf Zwangsläufigkeit, Zweck dagegen auf Freiheit und Entscheidung. Der natürliche Zweck eigener Glückseligkeit ist unvermeidlich unbestimmt. Wir müssen ihn deshalb stets von neuem durch übergreifende Zielsetzungen auslegen, etwa die Zielsetzungen eines langen und gesunden Lebens, einer erfüllenden und einträglichen beruflichen Tätigkeit, eines Lebens in Partnerschaft und der Gründung einer eigenen Familie. Ob diese Zielsetzungen tatsächlich zu unserem Glück beitragen, ist freilich nicht garantiert. Karrierepläne können scheitern. Ein langes Leben mag dazu führen, dass wir politische Katastrophen miterleben müssen. Durch Reichtum oder Wohlstand mögen wir Neider auf uns ziehen und durch das gemeinsame Leben in Ehe und Familie wird unser Glück vom Glück anderer Menschen abhängig und für Gefährdungen durch Schicksalsschläge in besonderem Maße anfällig. 4 Auch die Zweck-Mittel-Relationen sind oftmals nicht streng. Der eine lebt gesund, isst maßvoll, raucht und trinkt nicht, bewegt sich viel und entwickelt trotzdem früh eine tödliche Krankheit, während der andere nach allen gängigen Standards ungesund lebt und gleichwohl steinalt wird und bis ins hohe Alter leistungsfähig bleibt. Dennoch gibt es, wie Kant herausstellt, Erfahrungen dazu, was normalerweise zum Glück gehört und was zu tun ist, um dies zu erreichen und zu erhalten. So tun wir etwa gut daran, uns um eine gute Berufsausbildung zu bemühen, auf unsere Gesundheit zu achten und für das Alter Rücklagen zu bilden. Und wir wissen auch, was in aller Regel förderlich ist und was in aller Regel abträglich ist, um diese Ziele zu erreichen. Weil aber die Zusammenhänge nicht streng sind, bestehen genau genommen für einen Handelnden keine praktischen Notwendig- 3 Siehe Kritik der Urteilskraft 10, 393n = V, 434; Gemeinspruch 11, 131 = VIII, 279; vgl. ebd. 11, 144 = VIII, 289; MST 8, 521 = VI, 391. 4 Vgl. GMS 7, 47f. = IV, 418.

13 keiten, mit Blick auf das Ziel eigener Glückseligkeit bestimmte Ziele, Teilziele und Mittel zu wählen. Kant spricht deshalb gelegentlich statt von Imperativen von Ratschlägen der Klugheit. 5 Er betont aber, dass (wenn man einmal davon absieht, dass die Zweck-Mittel-Relationen hier nicht streng sind) die Struktur von klugheitsbegründeten Sollensansprüchen im Prinzip die gleiche ist wie die technischer Sollensansprüche. 6 Der natürliche Zweck eigener Glückseligkeit macht es für einen Handelnden notwendig, diesen Zweck in übergreifenden Zielsetzungen auszulegen und diese Zielsetzung durch die Verfolgung der dazu notwendigen Teilziele und Mittel zu erreichen zu versuchen. Dem Handelnden erwächst aus dem natürlichen Zweck eigener Glückseligkeit und dessen Auslegung in übergreifenden Zielsetzungen stets von neuem eine Fülle von längerfristigen und konkreten praktischen Notwendigkeiten. Weil der Handelnde aber nicht selbstverständlich das tut, was für ihn aufgrund seiner Zielsetzungen zu tun notwendig ist, treten ihm diese praktischen Notwendigkeiten als Ansprüche gegenüber, werden zum klugheitsbegründeten Sollen. Zugleich vermag die Perspektive der Klugheit das technische Sollen zu integrieren. Müllers Ziel abzunehmen erscheint im Horizont des Ziels eigener Glückseligkeit nicht mehr als ein Ziel, das Müller nach Belieben aufgeben kann. Wenn nämlich Müller, was nahe liegt, seine Gesundheit als Voraussetzung oder Bestandteil seines längerfristigen Wohlergehens ansieht und wenn er davon ausgeht, dass mit seinem Übergewicht beträchtliche Gesundheitsrisiken verbunden sind, dann muss er davon ausgehen, dass er, erstens, auf seine Gesundheit achten soll K (= klugheitsbegründetes Sollen), dass er deshalb, zweitens, abnehmen soll K und dass er deshalb, drittens, seinen Schokoladenkonsum drastisch einschränken soll K. Das in isolierter Betrachtung technische Sollen wird also hier zu einem klugheitsbegründeten Sollen. 5 Siehe GMS 7, 45f. = IV, 416; 7,48 = IV, 418. 6 Siehe GMS 7, 47 = IV, 417f.

14 Da auch das klugheitsbegründete Sollen ein durch Zielsetzungen bedingtes Sollen ist, kann ein Handelnder auch hier von den Sollensansprüchen loskommen, indem er die entsprechenden Zielsetzungen aufgibt. Doch ist er dabei durch den übergreifenden Zweck eigener Glückseligkeit eingeschränkt. Dieses Anliegen bleibt bestehen. Zwar steht es einem Handelnden unter der Voraussetzung bestimmter Überzeugungen, Einschätzungen und Wertungen frei etwa zu urteilen: Was kümmert mich meine Gesundheit! Selbst wenn ich dafür büßen muss, heute will ich genießen. 7 Und vielleicht ist das für ihn auch jene Strategie, durch die er sein Ziel, glücklich zu werden bzw. zu bleiben, am besten zu erreichen vermag. Andererseits mag ihm bewusst sein, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass er mit dieser Strategie scheitern wird und dass folglich die Strategie aller Wahrscheinlichkeit nach dauerhaft nicht glücksförderlich ist. Wenn dies aber seine Einschätzung ist, dann bleibt für ihn die praktische Notwendigkeit bestehen, seine Gesundheit zu erhalten zu versuchen. Wenn Dritte urteilen, dass jemand ein Ziel verfolgen oder mit Blick auf ein Ziel etwas tun oder lassen soll K, dann müssen sie an das Ziel des Betreffenden anknüpfen, glücklich zu werden bzw. zu bleiben. Sie müssen also die Perspektive des Betreffenden einnehmen. Doch kann dies in unterschiedlicher Weise geschehen. Zum einen kann an die übergreifenden Zielsetzungen angeknüpft werden, mit denen der Handelnde das Ziel eigner Glückseligkeit auslegt. Zum anderen können die Urteilenden eigene Einschätzungen entwickeln, was für einen Handelnden geeignete übergreifende Zielsetzungen sind oder wären. Entsprechend können die Urteilenden zu der Auffassung gelangen, dass ein Handelnder andere als die von ihm selbst gewählten, Zielsetzungen verfolgen soll K. Wegen der nicht strengen Zweck-Mittel-Relationen bietet das klugheitsbegründete Sollen ohnehin einigen Raum für Auffassungsunterschiede. Dies ändert aber nichts daran, dass Dritte, wenn sie in Bezug auf andere Personen klugheitsbegründete Sol- 7 Vgl. dazu GMS 7, 25 = IV, 399.

15 lensurteile treffen, genötigt sind, die Perspektive der Adressaten dieser Sollensansprüche einzunehmen. Moralisches Sollen Es gibt also fraglos zwei Arten von Sollensansprüchen, die jeweils bedingte Sollensansprüche darstellen, nämlich technische und klugheitsbegründete Sollensansprüche. Gibt es aber auch unbedingte Sollensansprüche, also, mit Kant gesprochen, kategorische Imperative? Bevor Kant diese Frage zu beantworten versucht, geht er zunächst der Frage nach, was man sich überhaupt unter unbedingten oder moralischen Sollensansprüchen vorzustellen hätte. Da wir die Struktur bedingter Sollensansprüche, also hypothetischer Imperative, kennen, können wir aus der Verneinung ihrer Bedingungsstruktur auch eine Vorstellung von einem unbedingten Sollen zu gewinnen versuchen. Dabei zeigt sich, und dies ist eine der zentralen Thesen der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, dass wir auf einen fest umrissenen und unbeliebigen Gehalt geführt werden. Bedingte Sollensansprüche beruhen auf einer bedingten praktischen Notwendigkeit für einen Handelnden. Die Notwendigkeit, ein Ziel handelnd zu verfolgen, etwas zu tun oder lassen, ist hier abhängig von den Zielsetzungen eines Handelnden. Ein unbedingter Sollensanspruch müsste entsprechend auf einer unbedingten praktischen Notwendigkeit beruhen. Da diese nicht abhängig sein kann von veränderlichen Zielsetzungen eines Handelnden, führt die Vorstellung von unbedingter praktischer Notwendigkeit auf die Vorstellung von einem unbedingt notwendigen Zweck. Während das, was in bedingter Weise praktisch notwendig ist, jeweils bedingt gut ist (gut für etwas anderes: Gesundheit ist gut für das eigene Wohlergehen, die Reduktion von Übergewicht ist gut für die Gesundheit, etc.), stellt ein unbedingt notwendiger Zweck etwas unbedingt Gutes dar, einen absoluten Wert. Ein unbedingt notwendiger Zweck muss etwas sein, das eine Vorgabe für jedes Handeln und somit auch für jeden Handlungsfähigen dar-

16 stellt. Deshalb kann ein unbedingt notwendiger Zweck nicht in etwas bestehen, das es allererst herzustellen gilt. Denn dann wäre es von den Zufälligkeiten der Umstände eines Handlungsfähigen abhängig, ob er sich um die Realisation des Zwecks kümmern kann. Entsprechend muss ein unbedingt notwendiger Zweck etwas sein, das immer schon als unbedingt notwendiger Zweck existiert 8 und dem jeder Handlungsfähige stets Rechnung tragen kann. Daher kann ein unbedingt notwendiger Zweck für einen Handelnden auch nichts sein, das dem Handelnden äußerlich ist. Vielmehr muss der unbedingt notwendige Zweck in jedem Handelnden liegen. All diese Überlegungen führen nun zusammen mit dem Gesichtspunkt, dass Allgemeinheit und Notwendigkeit Kennzeichen von Vernunft sind, auf das Vermögen reiner praktischer Vernunft. Es gibt einen unbedingt notwendigen Zweck, wenn Handlungsfähige das Vermögen reiner praktischer Vernunft besitzen. Reine praktische Vernunft ist das Vermögen, aus sich heraus dem notwendigen Zweck oder unbedingten Wert Rechnung zu tragen, den sie selbst darstellt, weil sie aus sich heraus zwecksetzend sein kann (und nicht nur gut ist für die Verfolgung ihr fremder Zwecke, die unseren Neigungen entlehnt sind). Diese selbstbezügliche Struktur bezeichnet Kant als Autonomie. Weniger abstrakt gesprochen lautet Kants These: Für unser Handeln besteht eine unbedingte praktische Notwendigkeit, sofern wir das Vermögen reiner praktischer Vernunft besitzen. Denn dann besitzen wir einen absoluten Wert, Würde, und stellen für uns selbst einen unbedingt notwendigen Zweck dar, weil wir unsere praktischen Wertungen und unsere Zielsetzungen nicht auf Interessen beschränkt sehen können, die auf Lust- und Unlustempfindungen zurückgehen. Die unbedingte praktische Notwendigkeit bestünde also darin, dass wir als Handelnde, die das Vermögen reiner praktischer Vernunft besitzen, in allem Handeln stets dem unbedingten Wert Rechnung zu tragen haben, den wir für uns selbst und wechselseitig füreinander darstellen. In 8 Vgl. GMS 7, 59 = IV, 428; 7, 61 = IV, 429.

17 Kants Formulierung: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. 9 Da der Mensch auch dann, wenn er das Vermögen reiner praktischer Vernunft besitzt, nicht selbstverständlich vernünftig handelt (kein reines Vernunftwesen ist), tritt ihm die unbedingte praktische Notwendigkeit als ein Anspruch gegenüber, wird zum unbedingten Sollen, zum kategorischen Imperativ. Es ist wichtig zu beachten, dass die voranstehenden Überlegungen zunächst nichts anderes darstellen als eine Vorstellung, eine Idee unbedingten oder moralischen Sollens. Auch wenn diese Idee in ihrem Gehalt unbeliebig ist, so stellt sie als Idee ein Gedankending dar. Und es könnte sehr wohl sein, dass sie nichts anderes ist als ein Gedankending, ein Hirngespinst, wie Kant auch sagt. Dies wäre dann der Fall, wenn wir das Vermögen reiner praktischer Vernunft, die Fähigkeit zu Zwecksetzungen unabhängig von unserer Sinnlichkeit, gar nicht besitzen. Dann gäbe es keine moralischen Sollensansprüche. Alles Sollen reduzierte sich letztlich auf klugheitsbegründete Sollensansprüche. Auch wenn es, wie Kant betont, nicht ganz unwesentlich ist, zu wissen, worin denn die Ansprüche moralischen Sollens bestünden, kommt es letztlich darauf an zu zeigen, dass diese Ansprüche Realität besitzen, dass wir tatsächlich unter den Ansprüchen moralischen Sollens stehen. Dies zu zeigen ist die Aufgabe der Moralbegründung. 3. Die Begründung moralischen Sollens Nun könnte man meinen, dass die Aufgabe zu zeigen, dass wir tatsächlich unter moralischen Ansprüchen stehen, darin besteht zu zeigen, dass wir das Vermögen reiner praktischer Vernunft besitzen, also in unseren Zwecksetzungen im strengen Sinne frei sind. Wenn dies 9 GMS 7, 61 = IV, 429. Menschheit (im Gegensatz zu Tierheit ) meint die Fähigkeit zur Zwecksetzung aus reiner praktischer Vernunft. Zu Kants Verwendung des Wortes Menschheit siehe Reiner Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin 1990, 124-128.

18 aber gezeigt werden müsste, dann stünden wir von vornherein vor einer unlösbaren Aufgabe. Denn es gehört zu den Ergebnissen der Kritik der reinen Vernunft, dass Freiheit im strengen Sinne nicht bewiesen werden kann. Weder lässt sich beweisen, dass nicht alles determiniert und deshalb Freiheit Realität ist, noch lässt sich beweisen, dass alles determiniert ist und es deshalb keine Freiheit (im strengen Sinne) geben kann. Diese Frage muss vielmehr grundsätzlich offen bleiben. Kant macht deshalb in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten auch keinerlei Anstalten zu beweisen, dass wir im strengen Sinne frei sind. Für seinen im dritten Teil ( Abschnitt ) der Grundlegung unternommenen Versuch, die Realität moralischen Sollens nachzuweisen, nutzt er vielmehr die frappierende Einsicht, dass sich mit erheblich weniger auskommen lässt. Es muss nicht gezeigt werden, dass wir im strengen Sinne frei sind, es reicht vielmehr zu zeigen, dass wir genötigt sind anzunehmen, dass wir frei sind. Denn dann sind wir auch genötigt anzunehmen, dass wir einen absoluten Wert besitzen und dass folglich für uns die unbedingte praktische Notwendigkeit besteht, in allem Handeln stets dem absoluten Wert Rechnung zu tragen, den wir für uns selbst und wechselseitig füreinander darstellen müssen. Wiederum bedient sich Kant einer Analyse aus der Innenperspektive von uns Handelnden und knüpft an Urteile an, die wir als Handelnde zu treffen genötigt sind. Die Unterscheidung, die Kant für seine Beweisführung nutzt, läuft auf die von dem amerikanischen Philosophen Alan Gewirth eingeführte Unterscheidung zwischen assertorischen und dialektischen Urteilen hinaus. 10 Ein assertorisches Urteil ist ein behauptendes Urteil und hat die Form p. Das assertorische Urteil Lust ist gut besagt, dass Lust schlechthin oder objektiv gut ist. Ein dialektisches Urteil drückt dagegen eine Meinung oder ein Auffassung aus. Es hat die Form X ist der Meinung (glaubt, anerkennt), dass p. Das dialektische Urteil Lust ist gut meint, dass X Lust für gut hält. Letzteres kann wahr sein, auch wenn das korrespondierende assertori- 10 Siehe Alan Gewirth, Reason and Morality, Chicago 1978, 42-47, 152.

19 sche Urteil falsch ist oder wir nicht wissen, ob es wahr oder falsch ist. Denn ein dialektisches Urteil sagt primär etwas über den Urteilenden aus, während ein assertorisches Urteil primär etwas über den Urteilsgegenstand aussagt. Innerhalb der dialektischen Urteile unterscheidet Gewirth nochmals zwischen dialektisch kontingenten Urteilen und dialektisch notwendigen Urteilen. Ein dialektisch notwendiges Urteil hat die Form X ist logisch genötigt zu meinen (glauben, anzuerkennen), dass p. Ein dialektisch notwendiges Urteil ist ein Urteil, das zu treffen, zu verwerfen oder zu bestreiten nicht in das Belieben eines Urteilenden gestellt ist, sondern das anzuerkennen der Urteilende rational genötigt ist. Gewirth selbst hat (nach meinem Dafürhalten erfolgreich) 11 zu zeigen versucht, dass jeder Handelnde eine ganze Reihe von dialektisch notwendigen Urteilen treffen muss, die eine Sequenz bilden, an deren Ende ein gehaltvolles Moralprinzip steht. Kant versucht zu zeigen (ohne dass er sich der Terminologie bedient), dass wir zu dem dialektisch notwendigen Urteil genötigt sind, dass wir im strengen Sinne frei sind und dass uns dies zu weiteren dialektisch notwendigen Urteilen nötigt, nämlich der Anerkennung der Verbindlichkeit des Kategorischen Imperativs für unser Handeln. Nun lässt sich von der Wahrheit dialektischer Urteile normalerweise nicht auf die Wahrheit der korrespondierenden assertorischen Urteile schließen. Daraus, dass wir uns für im strengen Sinne frei halten müssen, lässt sich nicht schon folgern, dass wir tatsächlich frei sind. Könnte es also sein, dass wir in Wirklichkeit gar nicht frei sind? Ja, aber Kant macht deutlich, dass dies für uns nicht mehr als eine praktisch irrelevante Erwägung sein kann. Denn wenn wir davon ausgehen müssen, dass wir im strengen Sinne frei sind, dann müssen wir uns auch entsprechend verhalten und davon ausgehen, dass wir uns entsprechend verhalten können. Da weder bewiesen werden kann, dass 11 Siehe dazu Klaus Steigleder, Grundlegung der normativen Ethik. Der Ansatz von Alan Gewirth, Freiburg, München 1999; ders., Ein Vorschlag, moralische Normen zu begründen. Die Konzeption von Alan Gewirth, in: Volker Steenblock, Praktische Philosophie/Ethik. Ein Studienbuch, Münster 2006, 132-145.

20 wir (im strengen Sinne) frei sind, noch dass wir unfrei sind, muss diese Frage unabweislich theoretisch offen bleiben. Deshalb kann und muss es aber auch für uns praktisch ausschlaggebend sein, dass wir genötigt sind, davon auszugehen, dass wir frei sind. Wie aber versucht Kant zu zeigen, dass wir uns für frei halten müssen. Es ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, Kants Argumentation im Detail vorzustellen. 12 Stattdessen beschränke ich mich auf eine knappe Beschreibung der Argumentation. Kant geht in zwei Schritten vor. Zunächst versucht er zu zeigen, dass jedes vernünftige Wesen, das einen Willen hat sich für frei halten muss. 13 Denn es muss davon ausgehen, dass es sich mittels seiner Vernunft zum Handeln entscheidet. In einem zweiten Schritt versucht Kant zu zeigen, dass wir uns jeweils notwendigerweise als ein vernünftiges Wesen begreifen müssen, das einen Willen hat. Wir müssen uns als ein vernünftiges Wesen und unsere Vernunftnatur als unsere eigentliche Natur begreifen. Dies meint freilich nicht, dass wir uns als reine Vernunftwesen zu begreifen haben. Dazu besteht für uns als Wesen, die nicht selbstverständlich das tun, was für sie zu tun praktisch notwendig ist, wahrlich kein Anlass. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass wir das Vermögen reiner praktischer Vernunft besitzen und dass wir deshalb grundsätzlich in der Lage sind, allen auf unsere Sinnlichkeit zurückgehenden Beweggründen zum Trotz Zwecke zu setzen und uns zum Handeln zu bestimmen. Offensichtlich lassen wir aber das Vermögen reiner praktischer Vernunft immer wieder nicht zu Zuge kommen. Wenn es hart auf hart kommt, geben wir immer wieder unserem Glücksstreben den Vorrang. Warum wir dies tun und wie die entsprechenden Entscheidungen zu verstehen sind, ist für uns allerdings unergründlich. Denn dies würde eine Einsicht in die Funktionsweise unserer Freiheit voraussetzen, die uns aber nicht möglich ist. Wir müssen es allerdings uns selbst und unserer Entscheidung zurechnen, wenn 12 Siehe dazu Klaus Steigleder, Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft, Stuttgart 2002, 67-96. 13 Siehe GMS 7, 83 = IV, 448.

21 wir unser Vermögen reiner praktischer Vernunft nicht zum Zuge kommen lassen. Kants Argumentation im dritten Teil der Grundlegung wird meist als grober Fehlschlag eingeschätzt. Dies liegt daran, dass in aller Regel die Methode der Argumentation, die Nutzung des Unterschiedes zwischen (modern ausgedrückt) assertorischen und dialektischen Urteilen, übersehen wird. Deshalb sind viele Interpreten der Meinung, dass Kant sich in der 1788 veröffentlichten Kritik der praktischen Vernunft zu korrigieren versucht hat. Allerdings sei das, was er sich dort leistet, fast noch kläglicher als die Vorstellung, die er in Grundlegung III geboten habe. Nach meiner Kenntnis und Einschätzung gibt es aber keinen Hinweis darauf, dass Kant die in der Grundlegung versuchte Moralbegründung je verworfen hätte. Und es wäre allererst noch zeigen, dass ein Anlass zur Korrektur besteht. Grundlegung III dürfte vielmehr eine philosophische Meisterleistung darstellen. Kant trägt in der Kritik der praktischen Vernunft eine andere Argumentation vor, weil er zu der Überzeugung gelangt ist, dass sich noch mehr zeigen lässt, als er in Grundlegung III für möglich gehalten hat. Es ist zwar kein theoretischer, aber doch ein praktischer Freiheitsbeweis möglich: Reine praktische Vernunft beweist ihre Realität durch die Tat. 14 Wir sehen uns nämlich immer wieder unter dem Anspruch unbedingten Sollens. Kant führt dazu folgendes Beispiel an: 15 Man stelle sich vor, unser Fürst verlangt von uns, dass wir gegen einen anderen, den er aus dem Weg räumen will, falsch aussagen. Der Fürst droht uns glaubhaft an, uns andernfalls auf der Stelle am Galgen hängen zu lassen. Kant sagt nun, dass wir uns wohl kaum trauen werden, eine Prognose abzugeben, wie wir uns in einem solchen Fall verhalten würden. Zugleich sind wir uns aber bewusst, dass wir auf keinen Fall, das falsche Zeugnis abgeben dürfen, das den anderen dem Tod ausliefern würde. Wir sehen uns unter einem unbedingten Sollensanspruch. 14 KpV 7, 107 = V, 3. 15 Siehe KpV 7, 140 = V, 30.

22 Solch ein den Gesichtspunkten unserer Klugheit widersprechender Anspruch ist aber nur dadurch erklärbar, dass wir das Vermögen reiner praktischer Vernunft besitzen. Denn ein unbedingtes Sollen lässt sich nur als auf das Gesetz der Vernunft zurückgehend verstehen. Das unbedingte Sollen verweist deshalb auf eine Tat (lateinisch: factum) reiner praktischer Vernunft und damit auf diese Vernunft selbst. Nun könnte man einwenden wollen, dass der Anspruch unbedingten Sollens auch auf einer Täuschung beruhen könnte. Statt einer Tat der Vernunft könnte es sich um im Über-Ich internalisierte Fremdansprüche handeln. Kant hätte einem solchen Einwand, der in ähnlicher Form schon von Fichte vorgebracht wurde, 16 vermutlich entgegengehalten, dass der Gehalt unbedingten Sollens mit Blick auf die Ansprüche reiner praktischer Vernunft unbeliebig ist. Entsprechend handelt es sich nicht um Ansprüche, deren Täuschungscharakter durch Einsichten aufgedeckt werden könnte, sondern vielmehr um Ansprüche, deren Verbindlichkeit sich jedem Nachdenken stets von neuem und immer deutlicher bestätigt. 4. Zum Gehalt moralischen Sollens Das 1797 veröffentlichte Werk Die Metaphysik der Sitten ist für ein angemessenes Verständnis der Moralphilosophie Kants unverzichtbar. Dieses Werk verkörpert eine wichtige These, nämlich die These dass die Moralphilosophie aus zwei Teilen besteht, der Rechtslehre und der Tugendlehre. Diese Unterscheidung entspricht nicht der uns heute geläufigen Unterscheidung zwischen Recht und Moral. Unter dem Recht versteht Kant zunächst nicht eine faktisch verwirklichte Rechtsordnung, sondern ein normatives Ordnungsprinzip. Das Recht bezieht sich nur auf äußere Handlungen. Das grundlegende Prinzip des Rechts besteht darin, dass jeder Handlungsfähige einen 16 Siehe Johann Gottlieb Fichte, Gebhard Rezension (1793), in: J.G. Fichte-Gesamtausgabe, hg. von R. Lauth, H. Jacob, Bd. I,2, Stuttgart 1965, 21-29, oder in: Fichtes Werke, hg. von I. H. Fichte, Bd. VIII, Berlin 1971, 418-426.

23 Anspruch auf gleiche maximale äußere Handlungsfreiheit hat. Daraus ergeben sich konkrete Rechtsansprüche auf physische und psychische Integrität sowie auf die Bedingungen handelnder Selbstentfaltung. Diese Ansprüche darf ein Handlungsfähiger gegenüber anderen Handlungsfähigen notfalls mit Gewalt durchsetzen. In der Tugendlehre (auch Ethik genannt) 17 geht es darum, pflichtmäßig, aus Pflicht zu handeln. Die Tugendlehre umfasst neben den Rechtspflichten auch die Pflicht, bestimmte Zwecke zu verfolgen, durch die der unbedingt notwendige Zweck, auf dem das Moralprinzip beruht, ausgelegt wird. Diese wenigen Hinweise machen schon deutlich, warum man versucht sein kann, die Tugendlehre mit der Moralphilosophie gleichzusetzen und die Rechtslehre als etwas gegenüber der Moral Eigenständiges zu verstehen. Dies ist aber nicht die Auffassung Kants. Kant scheint vielmehr davon auszugehen, dass das Moralprinzip zwei unterschiedliche Standpunkte begründet. 18 Da ist zum einen der Standpunkt der durch das Moralprinzip verpflichteten Personen. Unter dieser Perspektive gilt für uns immer das Gesamt aller durch das Moralprinzip begründeten Pflichten und sind wir immer gehalten, das moralisch Richtige zu tun, weil es das moralisch Richtige ist. Da ist zum anderen der Standpunkt der durch das Moralprinzip berechtigten Personen. Das Moralprinzip begründet eine fundamentale normative Gleichheit und darauf beruhende besonders dringliche normative Ansprüche. Diesen Ansprüchen korrespondieren Pflichten, die sich nicht nur direkt aus dem Moralprinzip ergeben, sondern die auch den handelnden Personen persönlich geschuldet sind und zwar so, dass deren Einhaltung erzwungen werden darf. Diese persönlichen Ansprüche erstrecken sich nur auf äußere Handlungen, nicht auf die Motive der handelnden Personen. 17 Kant hebt eigens hervor, dass Ethik dann als Bezeichnung nur eines Teils der Moralphilosophie (Sittenlehre) verwendet wird, siehe MST 8, 508 = VI, 379. Für die Verwendung von Ethik als Bezeichnung für die Moralphilosophie insgesamt siehe aber GMS 7, 11f. = IV, 387f.. 18 Siehe dazu ausführlich Steigleder, Kants Moralphilosophie (Anm. 12), 136-149.

24 Kants Metaphysik der Sitten ist deshalb für das Verständnis seiner Moralphilosophie so bedeutsam, weil sie zeigt, dass Kant nicht davon ausging, dass die Formeln des Kategorischen Imperativs direkt auf konkrete Handlungen anzuwenden sind. Vielmehr ging er davon aus, dass der Kategorische Imperativ eine Fülle von Teilprinzipien und normativ relevanten Gesichtspunkten begründet, an denen sich unser Handeln zu orientieren hat und orientieren kann. 19 Weit davon entfernt, die Folgen von Handlungen per se für irrelevant zu halten, ist es für Kant ein wichtiges Kriterium für die moralische Beurteilung von Handlungen, ob und gegebenenfalls wie sich die Handlungen auf die Rechte der von den Handlungen Betroffenen auswirken. Zur Zitierweise Die Werke Kants werden nach der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen Ausgabe zitiert. Nach einem Kürzel für das zitierte Werk wird zunächst in arabischer Ziffer der Band angegeben, in dem sich das Werk in der 12-bändigen Ausgabe von Weischedel befindet. Es folgt, durch ein Komma abgetrennt, die Angabe der Seitenzahl. Danach wird angegeben, wo die entsprechende Stelle in der Akademieausgabe zu finden ist. Mit römischer Zahl wird zunächst der Band der Akademieausgabe und dann, nach einem Komma, die Seitenzahl angegeben. Es werden folgende Kürzel verwendet: GMS = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten KpV = Kritik der praktischen Vernunft MST = Die Metaphysik der Sitten, [Metaphysische Anfangsgründe der] Tugendlehre 19 Für einen Überblick über die grundlegenden Prinzipien und Teilprinzipien von Rechts- und Tugendlehre siehe Klaus Steigleder, Kant, in: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal, Micha H. Werner (Hg.), Handbuch Ethik, 2 2006, 128-139, 136-138 oder ausführlich Steigleder, Kants Moralphilosophie (Anm. 12), 161-274.

25 Literaturhinweise Paul Guyer, Kant on Freedom, Law and Happiness, Cambridge 2000. Barbara Herman, The Practice of Moral Judgment, Cambridge, MA 1993. Otfried Höffe (Hg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt/M. 1989. Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre = Klassiker Auslegen, Bd. 19, Berlin 1999. Christoph Horn, Dieter Schönecker (Hg.), Groundwork for the Metaphysics of Morals, Berlin 2006. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechtsund Staatsphilosophie, Berlin 1984, Taschenbuchausgabe Frankfurt/M. 1993. Kristian Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung. Zur Aktualität der Kantischen Rechts- und Eigentumslehre, Freiburg, München 1984. Christine M. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, Cambridge 1996. Leslie Mulholland, Kant's System of Rights, New York 1990. Herbert J. Paton, Der Kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über Kants Moralphilosophie, Berlin 1962 (engl. The Categorical Imperative. A Study of Kant's Moral Philosophy, London 1947 u.ö.). Dieter Schönecker, Allen W. Wood, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein einführender Kommentar, Paderborn 2002. Klaus Steigleder, Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft, Stuttgart, Weimar 2002. Roger J. Sullivan, Immanuel Kant's Moral Theory, Cambridge 1989. Reiner Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin, New York 1990.