Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte

Ähnliche Dokumente
Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte

Wie Vergangenheit neu erzählt wird

Selbstüberprüfung: Europa und die Welt im 19. Jahrhundert. 184

Einleitung Forschungsinteresse Nationalsozialismus und Gedächtnis als Forschungsgegenstand 13. Gedächtnis und Generation 19

Stoffverteilungsplan Baden Württemberg

BERLIN IM EUROPA DER NEUZEIT

Verschiedene europäische Wege im Vergleich

Hilde Weiss / Christoph Reinprecht

CHECKPOINT SHAKESPEARE Shakespeare-Rezeption in Deutschland als deutsche Nationsgeschichte

Allesamt Faschisten? Die 68er und die NS-Vergangenheit

Geschichte und Geschehen für das Berufskolleg. 1 Lebensformen früher und heute. 1.1 Fit für die Zukunft? Jugend in einer Gesellschaft im Wandel

Themenüberblick 11.1: Wie modern wurde die Welt um 1800?... 10

Impulsreferat Prof. Dr. Nikolaus Werz KAAD- Jahresakademie 2016

Erinnern an den Zweiten Weltkrieg

EINLEITUNG 11 DANKSAGUNGEN 19 THEORETISCHE GRUNDLAGEN, HISTORISCHE UND POLITISCHE VORFELDUNTERSUCHUNGEN, METHODOLOGISCHE ANMERKUNGEN 21

Margit Reiter. Die österreichische Linke und Israel nach der Shoah. STUDIEN o, Innsbruck-Wien-München-Bozen

Inhaltsverzeichnis. Vom Imperialismus in den Ersten Weltkrieg 10. Nach dem Ersten Weltkrieg: Neue Entwürfe für Staat und Gesellschaft

Was versteht man unter Weimarer Verfassung? Was versteht man unter Inflation? Was versteht man unter Hitler- Ludendorff-Putsch 1923?

Stoffverteilungsplan Brandenburg

Geschichte. Jahrgang 11

Lehrstoffverteilung Band 2 AHS

Europäisches historisches Gedächtnis

Inhalt. 1 Demokratie Sozialismus Nationalsozialismus. So findet ihr euch im Buch zurecht... 10

Geschichte der Menschen und Bürgerrechte

ab abend Abend aber Aber acht AG Aktien alle Alle allein allen aller allerdings Allerdings alles als Als also alt alte alten am Am amerikanische

Wortformen des Deutschen nach fallender Häufigkeit:

Schulcurriculum Geschichte (Stand: August 2012) Klasse 11/ J1 (2-stündig)

Inhaltsfelder nach Klassenstufen zugeordnet

mentor Grundwissen: Geschichte bis zur 10. Klasse

Die drei Engel der Weihnacht

Geschichte des jüdischen Volkes

Geschichte und Geschehen

Rahmenthema 3: Wurzeln unserer Identität. Strukturierung des Kurshalbjahres

Qualifikationsphase - GK

Geschichte Österreichs

Geschichte Leistungsstufe 3. Klausur Geschichte Europas

NATIONALISMUS, NATIONALSTAAT UND DEUTSCHE IDENTITÄT IM 19. JAHRHUNDERT 8

BUNDESMINISTERIUM FÜR UNTERRICHT UND KUNST. Tel. :

Lehrveranstaltungen an der FSU Jena ( )

Rede anlässlich der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Ungarischen Revolution Budapest, 22. Oktober 2006

Geschichte erinnert und gedeutet: Wie legitimieren die Bolschewiki ihre Herrschaft? S. 30. Wiederholen und Anwenden S. 32

Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert

Geschichte und Geschehen 4 Bayern (9. Jahrgangsstufe) Kapitel: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg Obligatorische Inhalte

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg

Geschichte der Menschen und Bürgerrechte

Synopse zum Pflichtmodul Nationalstaatsbildung im Vergleich. Buchners Kolleg Geschichte Ausgabe Niedersachsen Abitur 2018 (ISBN )

Erinnerungskultur und Genozid im Schulunterricht in Deutschland: Ein vergleichender Überblick über Rahmenrichtlinien

Stoffverteilungsplan. Pflichtmodul: Nationalsozialismus und deutsches Selbstverständnis

Transnationale Perspektiven im 19. Jahrhundert

BUCHNERS GESCHICHTE KOLLEG. Ausgabe N. C.C.Buchner. Herausgegeben von Maximilian Lanzinner und Rolf Schulte

Imperialismus und Erster Weltkrieg Hauptschule Realschule Gesamtschule Gymnasium Inhaltsfeld 8: Imperialismus und Erster Weltkrieg

Synopse zum Pflichtmodul Nationalstaatsbildung im Vergleich

Stoffverteilungsplan zum Fach Gemeinschaftskunde Buch: Geschichte und Geschehen - Berufliche Oberstufe (416300)

Adenauers Außenpolitik

GL-Lehrplan der Matthias-Claudius-Schule

Cyberstalking und Cybercrime

Imperialismus und Erster Weltkrieg 10

Sind die Schweizer die besseren Deutschen?

Doppelte Zeitgeschichte Deutsch-deutsche Beziehungen

Der türkische Roman Eine Literaturgeschichte in Essays

Inhaltsverzeichnis. Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg ( ) Akten und Urkunden... 21

Zeitgeschichte im Kontext Band 005. Christian Broda. Eine politische Biographie. von Maria Wirth. 1. Auflage

Referat und Ausarbeitung:

Buchner informiert. Vorläufiger Rahmenlehrplan Gymnasiale Oberstufe Geschichte, Land Brandenburg

INHALTSVERZEICHNIS VORWORT ZUR NEUAUSGABE VORWORT VON GORDON A. ZUR TASCHENBUCHAUSGABE VORWORT ZUR TASCHENBUCHAUSGABE

Lehrveranstaltungen an der FSU Jena ( )

Geschichte und Geschehen

Dr. Reinhard C. Meier-Walser - Lehrveranstaltungen

nationalismus, nationalstaat und deutsche identität im 19. jahrhundert 8

Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft

Königs Erläuterungen und Materialien Band 176. Auszug aus: Friedrich Hebbel. Maria Magdalena. von Magret Möckel

Europäisierung und Islam in Bosnien-Herzegowina

Rede von Bundespräsident Dr. Heinz Fischer. zur Eröffnung des Brucknerfestes am Sonntag, dem 13. September 2009

Bildungsstandards für Geschichte. Kursstufe (4-stündig)

Geschichte des Bürgertums

Kriegsfolgen-Forschung 7. Besatzungskinder. Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland

Zwischen Krieg und Hoffnung

Die rheinbündischen Reformen: Das Ende des Alten Reiches und die Gründung des Rheinbundes

Schulinterner Lehrplan Geschichte Görres-Gymnasium

Die österreichische Demokratie im Vergleich

Die Bundesrepublik Deutschland

Handbuch zum Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus in Europa 1933/39 bis 1945

1918, 1938, 2008: Geschichte im Spiegel der Forschungsergebnisse von GfK Austria. Mag. Svila Tributsch und Univ.-Doz. Dr. Peter A.

Der Hitler-Stalin-Pakt

Geschichte und Geschehen

Jüdische Lebenswelten im Rheinland

Frankreich und Heinrich Brüning

Die Bedeutung des Anderen - Identitätskonstruktion zur Zeit des Kolonialismus und im Zeitalter der Globalisierung im Vergleich

Die Zukunft der Nationen in Europa

Völkerrechtsgeschichte

Schulinternes Curriculum Sek. II Geschichte des Gymnasium der Stadt Frechen Q2

Goldene Buchstaben ins Herz schreiben

Ein langer Weg vom "Opfer" zum "Mit-Täter". Erinnerungspolitik in der Nach-NS-Geschichte Österreichs

» («Der Zweite Weltkrieg ») ( )).

PUBLIKATIONEN AKTUELL

Stoffverteilungsplan (2-stündige und 4-stündige Kursstufe)

Einzelsign. Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte / in Verbindung mit... hrsg. von Wolfram Fischer. - Berlin: Duncker & Humblot,

Transkript:

Studien zur historischen Sozialwissenschaft 13 Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker von Gerhard Botz, Gerald Sprengnagel 2. ergänzte Neuauflage Auflage Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte Botz / Sprengnagel schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG campus Frankfurt am Main 2008 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 593 38120 6 Inhaltsverzeichnis: Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte Botz / Sprengnagel

Nachhall und Modifikationen 597 UNIVERSALISTISCHE HOLOCAUST-ERINNERUNG Es ist heute klarer als während der Historiker-Kontroversen von 1987/1994, 66 dass es sich bei den primär innerösterreichischen geschichtspolitischen Konflikten nicht einfach um einen Sturm im Wasserglas handelte, auch nicht um eine einfache politische Einflussnahme des Auslandes auf ein kleines Land. Die Waldheim-Affäre war in Österreich Vorzeichen und Indikator eines nicht nur politischen, sondern auch geschichtsmentalen Paradigmenwechsels, der sich damals in ganz Europa durchsetzte 67 und der in Österreich im vollen Ausmaß erst verspätet, etwa um 1995, wirksam wurde. 68 Noch vor dem Kollaps des Sowjetimperiums begann im abklingenden Kalten Krieg das Land des Schonraumes, den es nicht nur zwischen Ost und West innegehabt hatte, verlustig zu gehen. Österreich konnte sich nicht mehr länger auf die alte goldene Regel des internationalen Systems 69 verlassen, die es jahrzehntelang davor bewahrt hatte, allzu heftig an seine unbewältigte NS-Vergangenheit gemahnt zu werden. Dasselbe trifft übrigens auch für viele westeuropäische Länder zu, die bis Mitte der 1980er-Jahre gleichsam unter einer vergangenheitspolitischen Käseglocke lagen. Die beginnende Internationalisierung der nationalen Politiken (zunächst nur in Westeuropa), manchmal in Abhängigkeit voneinander und von globalen Entwicklungen, manchmal gegenläufig hierzu, war es, die aus 66 Siehe 16 76 in diesem Band; ähnlich auch aus neuerer deutscher Sicht: Georg Christoph Berger Waldenegg, Das große Tabu. Historiker-Kontroversen in Österreich nach 1945 über die Nationale Vergangenheit, in: Jürgen Elvert und Susanne Krauss (Hg.), Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 143 174; vgl. zu einer Schweizer Sicht vor allem auf den Anschluss : Schneeberger, Umgang, 329 ff. 67 Etienne François, Meistererzählungen und Dammbrüche. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zwischen Nationalisierung und Universalisierung, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 Arena der Erinnerungen, Bd. 1, Berlin 2004, 13 28. 68 Vgl.: Ernst Hanisch, Die Dominanz des Staates, in: Alexander Nützenadel und Wolfgang Schieder (Hg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, Göttingen 2004, 54 77; Johanna Gehmacher, Am Rand der Geschichte, in: Zeitgeschichte 32.5 (2995), 301 322; Gerhard Botz: Eine neue Welt, warum nicht eine neue Geschichte? Teil I und II, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 1.1 (1990), 49 76 und 1.3 (1990), 67 86. 69 Eric Hobsbawm, Das Gesicht des 21. Jahrhunderts. Ein Gespräch mit Antonio Politi, Hamburg 2000, 18.

598 Nachhall und Modifikationen ihrer Eigenlogik tiefgreifende Veränderungen in den europäischen Erinnerungs- und Geschichtskulturen, und schließlich auch in Österreich, hervorbrachte oder doch begünstigte. 70 Wie der Historikerstreit von 1986/87 in Deutschland, das Offenlegen des französischen Vichy-Syndroms und andere westeuropäische Historikerkontroversen zeigten, 71 begannen sich in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre europaweit viele alte Selbstverständlichkeiten aufzulösen, ohne dass die politisch Verantwortlichen, die Massenmedien und große Teile der Staatsbürger Österreichs dies schon erkennen konnten oder wollten. Nur so konnte letztlich die Waldheim-Affäre passieren, als Rache einer verdrängten NS-Geschichte an der Gegenwart. Vor allem drei staatenübergreifende Prozesse waren es, die sich in den ausgehenden 1980er-Jahren in Österreich schnitten und die internen zeitgeschichtlichen Diskurse nährten. Dies war zunächst das Abklingen der Ost-West-Spannung, die durch die samtenen Revolutionen in (Ost-)Mitteleuropa und durch den Zerfall der kommunistischen Staatensysteme weiter stark reduziert wurde und in die wachsende Hegemonie der USA mündete. Damit setzte sich auch eine beschleunigte wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung durch. Mindestens ebenso bedeutungsvoll war die zunehmende europäische Integrationsdynamik, die es schon vor dem Kollaps der Sowjetunion, die bisher auf der österreichischen Neutralität insistiert hatte, gestattete, sich auf einen Beitritt zur EU zu orientieren; dies bewirkte einen Anpassungsdruck und mündete 1995 in Österreichs EU-Beitritt. 72 Diese Faktoren hatten nachhaltige Auswirkungen nicht nur auf die österrei- 70 Siehe etwa: Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000; Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, Frankfurt / Main 1995; 71 Allg. Petra Bock und Edgar Wolfrum (Hg.), Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999; Wolfgang Wippermann, Umstrittene Vergangenheit. Fakten und Kontroversen zum Nationalsozialismus, Berlin 1998; Martin Sabrow u.a. (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte, München 2003; Christoph Cornelißen (Hg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt / Main 2003. 72 William B. Bader, Österreich im Spannungsfeld zwischen Ost und West 1945 bis 1955. Eine Nachlese zum Jubiläumsjahr 2005, Wien 2005, 21; Michael Gehler und Wolfram Kaiser, Austria and Europe, 1923 2000, in: Rolf Steininger, Günter Bischof und Michael Gehler (Hg.), Austria in the Twentieth Century, New Brunswick 2002, 294 320, 314 ff.; Michael Gehler, Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts, 2 Bde., Innsbruck 2005.

Nachhall und Modifikationen 599 chische Innen- wie Außenpolitik, sondern auch auf ein neues Geschichtsbewusstsein und die politische Symbolik, nicht zuletzt auch auf viele Praxisfelder der österreichischen Humanwissenschaften. 73 In den USA war bereits seit den 1980er-Jahren der Holocaust über eine innerjüdische, identitätsstiftende Gruppenerinnerung hinaus zu einem gesamtamerikanischen, ja universellen Referenzpunkt für eine Art kollektiven Gedächtnisses geworden, wie der amerikanische Historiker Peter Novick herausgearbeitet hat. 74 Das Holocaust-Gedächtnis begann Allgemeingut zu werden, das über die verschiedensten sozialen Räume und partikularen Kulturen hinweggriff; selbst in den westeuropäischen Nationalstaaten begann es, deutlich in den 1990er- Jahren, wirksam zu werden und die jeweiligen nationalen Opfer-, Widerstands- und Neugründungsmythen zu erodieren. Auch dort waren nach der realen Bedrohung durch das pangermanische Reich Hitlers und als Folge der innenpolitischen Erschütterungen des Zweiten Weltkrieges heroische Widerstandserzählungen und Opfermythen entstanden, 75 die nach 1945 im Sinne der Nationen- und Demokratie-Neubildungen durchaus funktional gewesen waren. Die Erinnerung an den Holocaust und das Schicksal der Juden im Dritten Reich wurde in der nordamerikanisch-europäischen Welt zu einem universalistischen Argumentationsmuster, das die Geschichte des 20. Jahrhunderts in eine Großerzählung einordnete und die vielfältigen nationalen Erinnerungen an Zweiten Weltkrieg, Widerstand und politische Verfolgung in den Hintergrund treten ließ. Von den USA und Israel ausgehend griff dieses geschichtsphilosophische Paradigma, welches als das einer zweiten Moderne angesehen wird (Ulrich Beck), 76 zunächst auf Westeuropa und Deutschland über, bis es auch Österreich und ab 1989/90 die osteuropäischen Nationen erfasste. So stellten die Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider die plausible 73 Eine frühe Analyse siehe: Berthold Unfried, Versionen der Erinnerung an Nationalsozialismus und Krieg in Österreich und ihre Veränderungen in der Waldheim-Debatte, in: Zeitgeschichte 24. 9 10 (1997), 302 316. 74 Peter Novick, Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, Stuttgart 2001, 17 ff. 75 Pieter Lagrou, The Legacy of Nazi Occupation. Patriotic Memory and National Recovery in Western Europe, 1945 1965, Cambridge 2000; Mazower, Kontinent; Ash, Im Namen Europas.. 76 Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus. Antworten auf Globalisierung, Frankfurt / Main 2002.

600 Nachhall und Modifikationen These auf: Die Vergangenheit wird verwischt, indem Staaten sich nun nicht mehr einfach als Gegner des Nazismus oder als neutral bezeichnen können. Alle werden schuldig. Die Vergangenheit der neutralen Schweiz oder Schwedens wird auch dort neu überdacht. [...] Europa wird zum Täter, die Opfer waren die Juden Europas. Die alte Formel, daß Deutschland schuldig war, machte den Rest Europas unschuldig. Nun sind alle schuldig. 77 Amerikanisierung und Globalisierung schufen sich so eine neue über- und transnationale geschichtsmoralische Begrifflichkeit in der Antithese zum nationalsozialistischen Judenmord, der symbolisch jeden anging und überall wieder auftreten konnte, damit auch gegenwärtige globale Wirtschafts- und Außenpolitiken legitimierte. Zusammen mit den konkreten Restitutionspolitiken und deren notwendig werdender innergesellschaftlicher Legitimierung stimulierte dies eine neu entstehende Holocaust-Forschung; damit prägte sie weitgehend die noch heute geltenden Fragestellungen und Grundlagen der österreichischen Zeitgeschichte wie auch vieler anderer (west-)europäischer Historiographien. 78 Zunächst scheint das Holocaust-Gedächtnis um das Jahr 1986 nur kleine intellektuelle Zirkel in Österreich, die international aufgeschlossen waren, erfasst zu haben; dies waren vor allem Intellektuelle der zweiten oder dritten Nach-Holocaust-Generation, die um eine neue jüdische Identität rangen. 79 Sie überlappten sich mit einem linkskritischen Milieu anderer jüngerer österreichischer Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler, so auch mit einem Teil der Zeitgeschichtsforschung, 80 die als erste der Täterthese zuneigten. So begann auch das Holocaust-Gedächtnis in Österreich ältere kollektive Erinnerungen zu überlagern. 81 77 Daniel Levy und Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt / Main 2001, 234. 78 Henry Rousso, Das Dilemma eines europäischen Gedächtnisses, http://www.zeithistorische-forschungen.de/portal/alias_zeithistorische-forschung/lang_de/...(14.11.2005). 79 Ruth Beckermann, Unzugehörig. Österreicher und Juden nach 1945, 2. Aufl., Wien 2005, 117 129. 80 Vgl. den Überblick bei: Berger Waldenegg, Tabu, 143 174. 81 Vor allem: Berthold Unfried, Versionen der Erinnerung an Nationalsozialismus und Krieg in Österreich und ihre Veränderungen in der Waldheim-Debatte, in: Zeitgeschichte, 24 (1997), 302 318.

Nachhall und Modifikationen 601 Dies war weniger noch oder überhaupt nicht der Fall gewesen, als 1970 die NS-Vergangenheit von vier Ministern in Kreiskys Regierung bekannt wurde 82 und fünf Jahre später der sozialdemokratische Bundeskanzler in einer diffamierenden Weise Simon Wiesenthal angriff. Dagegen erregte 1985 der Handschlag des amtierenden Verteidigungsministers mit dem aus italienischer Haft entlassenen Kriegsverbrecher Walter Reder 83 schon breitere negative Aufmerksamkeit. Innerhalb Österreichs brach dabei und verstärkt in den Konflikten um Waldheim noch einmal kaum gebremst die paranazistische Gegenerinnerung der alten Kriegsgeneration auf, die im Präsidentschaftswahlkampf mit der offiziösen österreichischen Opferthese um die Waldheim-Verteidiger verschmolz, um schließlich in Haiders Protestbewegung aufzugehen. In der Konfrontation mit der westlichen Welt und deren dominanter Meistererzählung von der NS-Vergangenheit, aber auch durch die innerösterreichisch wirksam werdende Infragestellung der Opferthese wurden diese Alt- und Uralt-Geschichtsbilder schließlich delegitimiert. Genau dies sprach auch Waldheim in seinem Interview vom 25. Jänner 2006 an, als er meinte, er habe im österreichischen diplomatischen Dienst konditioniert diesen Wandel nicht rechtzeitig mitbekommen. (Allerdings hätte ihm sein langer Aufenthalt in den USA die Augen schon früher öffnen können.) Im Rückblick erscheint daher die Waldheim-Affäre struktur- und mentalitätsgeschichtlich als ein Zusammenprall bzw. Zusammenspiel von verschiedenen kollektiven Erinnerungen, 84 aus denen als Kompromiss das um 2005 dominant werdende modifizierte Opfer-Täter-Gedächtnis hervorging. In diesem Zusammenhang ist heute die transnationale Dimension der Waldheim- Affäre erst voll erkennbar. 82 Doris Sottopietra und Maria Wirth, Ehemalige NationalsozialistInnen in der SPÖ: eine quantitative und qualitative Untersuchung, in: Maria Mesner (Hg.), Entnazifizierung zwischen politischem Anspruch, Parteienkonkurrenz und Kaltem Krieg. Das Beispiel der SPÖ, Wien 2005, 266 334, vor allem 310 f., 317 ff., 320 ff., 330 ff. 83 Heidi Trettler, Der umstrittene Handschlag. Die Affäre Frischenschlager Reder, in: Gehler und Sickinger, Affären, 592 613. 84 Ausführlicher: Botz, Waldheim (wie Anm. 1)