Nicht nur Vogelbeobachter,

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Transkript:

Von der Schwierigkeit, Vogelarten zu erkennen: Weiß ein Zilpzalp, dass er ein Zilpzalp ist? Fitis oder doch Zilpzalp, fragt man sich, wenn ein kleiner Laubsänger ohne Laut zu geben durchs Gebüsch schlüpft. Feinste Unterschiede in Struktur und Färbung spielen bei der Artbestimmung eine Rolle. In Zugzeiten oder in Gegenden, in denen mehrere ähnliche Laubsänger möglich sind, wird das Problem noch viel größer. Phylloscopus sp. ist dann oft der enttäuschende Eintrag ins Notizbuch; die Artzugehörigkeit bleibt das Geheimnis eines kleinen Vogels. Nicht nur Vogelbeobachter, sondern auch Systematiker, die auf Belegexemplare, Stimmaufnahmen und systematische Feldstudien zurückgreifen können, tun sich schwer mit der Gattung der Laubsänger (Phylloscopus). Ticehurst zählte in den 1930er Jahren 29 verschiedene Phylloscopus-Arten für Eurasien auf. Seine Liste hatte lange Zeit bestand und wurde bis in die 1980er Jahre nur um zwei weitere Arten erweitert. Doch kurz darauf kam es zu einem rasanten Anstieg; in nur zehn Jahren stieg die Zahl der Arten um fast ein Drittel! In der Weltliste der Vögel von Dickinson 2003 finden wir rund 47 Phyllsocopus-Arten in Eurasien, weitere in Afrika und auf einigen pazifischen Inseln. Wenn man den aktuellen Stand der Untersuchungen vor allem in Zentral- und Ostasien der letzten Jahrzehnte kritisch verfolgt, darf man annehmen, dass das Ende der Fahnenstange noch gar nicht erreicht ist. Dabei wurden nicht etwa in entlegenen und unbekannten Gebieten in großem Stil neue Arten entdeckt. Es handelte sich vielmehr zum Großteil um bekannte Unterarten, denen nach neuesten Erkenntnissen Artstatus zukommt oder um Populationen, denen man sich bisher noch nicht intensiv gewidmet hatte. Selbst bei den Vögeln, einer der am besten untersuchten Tiergruppen, sind also noch lange nicht alle Arten entdeckt. Was ist eine Art? Lebewesen wurden lange Zeit nach willkürlichen Kriterien geordnet und bezeichnet. Alles war erlaubt. So Fitis: Neben dem Zilpzalp bei uns der häufigste Vertreter der Gattung Phylloscopus. Foto: D. Matti. Hunigue, Frankreich, Mai 2005. 12 Der Falke 52, 2005 Zilpzalp: Die Gattung Phylloscopus bereitet den Systematikern einiges Kopfzerbrechen. Erst kürzlich wurde sie um mehr als zehn neue Arten erweitert. Foto: T Roth. Hemringen, BE, Schweiz, März 1998.

diente etwa die Anzahl Beine als ein Ordnungskriterium oder man stellte Wasserbewohner den Landbewohner als systematische Kategorie gegenüber. Einen Weg aus diesem Chaos wies der Schwedische Systematiker Carl von Linné (1707-1778). Schon er benutzte den Begriff der Art, allerdings nicht in heutigem Sinn, da die Evolutionstheorie erst nach ihm entwickelt wurde. Seit seiner Zeit galt die Art als biologischen Messgröße schlechthin. Der Artbegriff hat sich durchgesetzt und wird im täglichen Leben wie selbstverständlich verwendet. Man spricht in der Forschung von Arten und meist nicht von Individuen, in der Praxis sagt man Naturschutz Tienschan-Laubsänger Phylloscopus humei. Erst kürzlich wurde der Tienschan-Laubsänger vom Gelbbrauen-Laubsänger (P. inornatus) abgetrennt. Foto: T. Roth. Chong-Kemin, Kirgisien, Juli, 2003. Grünlaubsänger Phylloscopus trochiloides. Kompliziert ist die Artdiskussion beim Grünlaubsänger (trochiloides-komplex). In Sibirien leben die beiden Arten Grünlaubsänger und Middendorfflaubsänger nebeneinander ohne sich zu vermischen. Gegen Süden um das Tibetische Plateau herum gehen sie jedoch kontinuirlich von einer Form in die andere über. Foto: T. Roth. Barskoon, Kirgisien, Juli 2004. Auch die Systematik der Spötter ist im Umbruch. Beim Blassspötter wird die Unterteilung in einen Westlichen Blasspötter Hippolais opaca (oben) und einen Östlichen Blasspötter H. pallida diskutiert. Beim Östlichen Blassspötter wären weiterhin verschiedene Unterarten integriert; dabei auch die Unterart reiseri (unten). Foto: T. Roth. Tichit, Mauretanien, September 2003. und meint in der Regel Artenschutz, in der Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt wird der Erhaltung der Arten oberste Priorität zugeordnet und Weltgegenden werden zu biologischen Hotspots erkoren, weil dort die höchsten Artenzahlen anzutreffen sind. Kaum zu glauben, dass der Begriff der Art nicht einheitlich definiert ist. Es gibt sehr viele Arten, die so unterschiedlich sind, dass man sie sofort als verschiedene Arten (an)erkennt. Andere sind sich so ähnlich, dass man darüber streiten kann, ob Art oder Unterart. An solchen Zweifelsfällen scheiden sich die Geister und viele Diskussionen sind heue noch nicht zu Ende. Als Folge davon haben sich unterschiedliche Artdefinitionen oder Artkonzepte durchgesetzt. Artenzahlen hängen daher auch stark von der Artdefinition ab, die verwendet wird. Allerdings: Unterschiedliche Populationen, die gemeinsam an einem Ort vorkommen, lassen sich in der Regel relativ mühelos unabhängig vom angewendeten Artkonzept einzelnen Arten zuordnen. Warum jedoch können die Wissenschaftler sich nicht auf ein umfassendes Artkonzept einigen? Mit dieser Frage spricht man eines der Der Falke 52, 2005 13

Artdefinitionen Biologisches Artkonzept (Biological Species Concept BSC, Mayr 1940): Eine Art ist eine Gruppe von Populationen, die von anderen reproduktiv (in der Fortpflanzung) tatsächlich oder potenziell isoliert ist. Die reproduktive Isolation macht die Art zu einem mehr oder minder geschlossenem, von anderen abgegrenztem genetischen System. Bricht die räumliche Isolation zusammen, bleiben gute Arten durch ihre reproduktive Isolation dennoch genetisch voneinander getrennt. Wenn Hybridisation vorkommt, dann nur in geringem Umfang, so dass die beiden Genpools nicht miteinander verschmelzen und ihre Eigenständigkeit erhalten. Freilich gibt es viele Arten, die sich sehr ähnlich sind, aber nirgendwo gemeinsam vorkommen (allopatrische Arten!). Bei solchen Arten lässt sich die reproduktive Isolation nicht testen und über ihren Artstatus lässt sich deshalb nur spekulieren! Evolutionäres Artkonzept (Evolutionary Species Concept ESC, Mayden 1997): Arten sind Populationen bestimmter evolutiver Linien mit eigenen Tendenzen und Vergangenheit. Sie grenzen sich dadurch von anderen Linien in Raum und Zeit ab und haben somit ihr individuelles Schicksal. Durch ihre eigene Evolution werden die Linien für uns unterscheidbar. Dieses Artkonzept ist zwar kompatibel mit dem Bologischen Artkonzept, macht aber im Unterschied dazu keine Aussage darüber, wie die Isolation der Linien entstand oder aufrecht erhalten wird. Recognition Species Concept (RSC, Peterson 1985): Eine Art ist eine Gruppe von Individuen die sich gegenseitig als potentielle Geschlechtspartner erkennen. Ist letztendlich eine Variante des Biologischen Artkonzepts. Phylogenetisches Artkonzept (Phylogenetic Species Concept PSC, Cracraft 1983): Arten sind Populationen von verwandten Individuen die von anderen Populationen unterscheidbar sind. Die Art ist damit die die kleinste zu unterscheidende Gruppe von Individuen, die auf gemeinsame Vorfahren zurück gehen. Verfechter dieses Konzepts kennen somit keine Unterarten. Leider ist aber Unterscheidbarkeit kaum zu definieren. Neue Methoden wie zum Beispiel genetische Analysen führen dazu, dass Populationen, die mit anderen Methoden keinen Unterschied zeigten, plötzlich unterscheidbar werden. grundlegenden Probleme der Biologie an. Die Evolution im Allgemeinen und damit auch die Artbildung im Besonderen ist ein kontinuierlicher Prozess. Das Benennen von Arten dagegen ist ein Versuch, dieses Kontinuum in abgegrenzte, biologisch sinnvolle Einheiten zu unterteilen. Wo man aber nun die Grenzen setzt, wird immer mehr oder weniger willkürlich bleiben. Die Artdefinitionen bedeuten nichts anderes, als dass solche Grenzen ein wenig verschoben werden. Jeder Forscher wird eine Artdefinition bevorzugen, welche die Grenzen so setzt, dass seine untersuchten Arten klar definiert sind und nicht an den Grenzen liegen, Grenzfälle also möglichst vermieden werden. Dass es ein einheitliches, die ganze Biologie übergreifendes Artkonzept geben kann, bleibt deshalb illusorisch. Übrigens: Auch innerhalb einzelner Artkonzepte sind Grenzen nicht unverrückbar, es kommt immer darauf an, wie eng oder wie weit man Gliederungsprinzipien des jeweiligen Konzepts anwendet. Verschiedene Artkonzepte beschreiben das gleiche Phänomen Um zu verstehen, wie sich verschiedene Artkonzepte unterscheiden, ist es vorteilhaft, zuerst zu prüfen, worin sie übereinstimmen. Alle versu- 14 Der Falke 52, 2005 Die nah verwandten Goldammern (oben, Foto: Möhntal, Schweiz, Mai, 2005) und Fichtenammern (Emberiza leucocephalos, links, Foto: Nordiran, Februar 2001) sind ein Beispiel für Arten mit Hybridzonen. Die Zone ist aber relativ schmal und konstant. Somit muss es reproduktive Isolationsmechanismen geben, die das Verschmelzen der Formen verhindern, die man meist als Arten ansieht. Fotos: T. Roth.

chen die Tatsache zu erfassen, dass nicht Individuen evoluieren, sondern Gruppen von Individuen. Individuen werden geboren, pflanzen sich mehr oder weniger erfolgreich fort und sterben. Damit tragen sie zur Evolution bei, denn jeder dieser drei Prozesse kann zu einer Änderung der Häufigkeit eines bestimmten Gens (genau genommen Allels = Ausprägung eines Gens) führen. Aber sie evoluieren nicht selbst ihre Gene bleiben dieselben. In ihren Nachkommen werden ihre Gene mit denjenigen des Partners vermischt. Und in deren Nachkommen wiederum mit den Genen weiterer Partner. Über viele Generationen wächst die Anzahl der Partner und ihrer eigenen Verwandten beträchtlich. Ein Familienstammbaum, in dem jeweils die Verwandten beider Partner eingezeichnet sind, liefert ein anschauliches Bild, wieviele Individuen schon nach wenigen Generationen einbezogen werden. Alle Partner und ihre Verwandten evoluieren gemeinsam, da ihre Gene vermischt werden. Man spricht von einer Abstammungslinie und eine solche Abstammungslinie ist die Art. Eibischgrasmücke (Sylvia althaea). Foto: R. Aye. Iran, März 2001. Sehr viel Interesse haben die verschiedenen Formen der Klappergrasmücken auf sich gezogen. Bis heute sind jedoch bei dieser Artengruppe viele systematische Details noch nicht gelöst. Buschgrasmücke (Sylvia minula). Foto: R. Burri. Iran, März 2001. Die Zukunft entscheidet über den heutigen Artstatus Individuen einer Abstammungslinie haben also eine gemeinsame Geschichte. Die Unterschiede zwischen den Artkonzepten beruhen auf der Schwierigkeit, diese zeitliche Dimension in einer Momentaufnahme festzuhalten. Die verschiedenen Ansätze stimmen weitgehend darin überein, welche Prozesse und Faktoren mit Abstammungslinien verbunden sind, aber sie messen ihnen unterschiedliche Priorität zu. Eine Artdefinition kann zum Beispiel die Unterscheidbarkeit als solches (Phylogenetisches Artkonzept), oder die Ursachen für die Differenzierung, wie die reproduktive Isolation (Biologisches Artkonzept) oder die gegenseitige Erkennung von potentiellen Partner (RSC) in den Vordergrund stellen. Diese Nuancen sind wichtig, sobald man so genannte allopatrische Arten betrachtet. Bei ihnen handelt sich es um Schwesterarten, die sich mehr oder weniger ähnlich sehen, aber in unterschiedlichen Gebieten vorkommen (vgl. Stichwort FALKE 459, 2002, H. 2). Sehr häufig taucht ein solches Problem bei Arten auf, die ein großes Verbreitungsgebiet haben. In diesem Verbreitungsgebiet können mehrere Populationen existieren. Eine Population ist eine Gruppe von Individuen, welche sich miteinander fortpflanzen und regelmäßig vermischen. Nach außen hin ist eine Population relativ abgegrenzt. Nur wenige Individuen wandern aus und pflanzen sich in anderen Populationen derselben Art fort. Arten, die Populationen auf verschiedenen Kontinenten haben, sind oft Streitfälle für die Systematiker. Durch die geographische Trennung Der Falke 52, 2005 15

Lasurmeise (Parus cyanus). Foto: T. Roth. Ala Archa, Kirgisien, Juli 2004. Gelbbrustmeise (Parus flavipectus). Foto: T. Roth. Shaidane, Kirgisien, Juli 2003. der Kontinente sind die Populationen isoliert und haben eine eigene Geschichte. Aus diesem Grund gibt es wahrscheinlich Merkmale, die bei Individuen eines Kontinents anders ausgeprägt sind als bei Individuen eines anderen. Damit sind die Minimalanforderungen für den Artstatus erfüllt: Unterscheidbarkeit und eigene Geschichte. Doch weitere Kriterien, auf welche die verschiedenen Artdefinitionen fußen, etwa die reproduktive Isolation, lassen sich nicht beurteilen. Es bleibt ein großes Fragezeichen, was passieren würde, sollten die beiden Populationen in Zukunft wieder aufeinander treffen. Werden sie sich vermischen oder werden sie getrennt bleiben? Im Umgang mit allopatrischen Arten unterscheiden sich die Artkonzepte grundlegend. Einige Artkonzepte (z. B. PSC) erkennen alle Populationen als Arten an, sobald sie unterscheidbar sind. Bei einer solchen Definition können Arten aussterben, weil sie auf andere (unterscheidbare) Populationen treffen und mit ihnen verschmelzen. Zudem würde dieser Ansatz ohne Frage zu einem Chaos in der Systematik führen, denn sehr viele Populationen müssten neu als Arten bezeichnet werden. Man denke nur an Arten mit sehr vielen Unterarten (z. B. Schafstelzen), aber auch an Populationen, welche sich nur genetisch und nicht im Äußeren (phänotypisch) unterscheiden. Das Phylogenetische Artkonzept würde ihnen allen Artstatus zusprechen. Ein anderer Ansatz erkennt nur Arten an, von denen man annimmt, dass sie auch in Zukunft nicht mit ähnlichen Arten verschmelzen werden. Dieser Ansatz hat ebenfalls seine Tücken: Systematiker müssen abschätzen, ob in Zukunft Populationen wieder verschmelzen werden oder ob sie sich schon genügend weit auseinander entwickelt haben, so dass sie reproduktiv voneinander isoliert sein werden! Nah verwandt mit der Blaumeise sind Lasur- und Gelbbrustmeise. Sie werden allgemein als Arten anerkannt, obwohl Hybriden zwischen Blau- und Lasurmeise und zwischen Lasur- und Gelbbrustmeise immer wieder vorkommen. Jede Art hat ausserdem auch verschiedene Unterarten, was es nicht erleichtert, die systematischen Zusammenhänge in dieser Gruppe zu verstehen! 16 Der Falke 52, 2005 Blaumeise. Hermirigen, Schweiz, März 1998.

Taxonomische Richtlinien Obwohl konzeptionell problematisch, scheint sich letzterer Ansatz durchzusetzen. Dies vor allem weil es in der Praxis wenig sinnvoll wäre, alle unterscheidbaren Populationen als Arten zu bezeichnen. Jede Diskussion über den Status von zwei fraglichen Populationen lässt sich folglich in zwei Probleme unterteilen: Sind die beiden Populationen unterschiedlich und werden sie ihre Unterscheidbarkeit auch in Zukunft erhalten? Ersteres Problem wird schon sehr lange diskutiert. Merkmale können nicht nur aufgrund von unterschiedlichen Geschichten zwischen den Arten, sondern auch durch unterschiedliche Umwelteinflüsse hervorgerufen werden. Da die Systematik jedoch ein Abbild der verwandtschaftlichen Beziehungen sein soll, werden Merkmale, die stark von der Umwelt abhängen, für die Unterscheidung zwischen Populationen nicht herangezogen. Unterscheiden sich zwei Populationen in Merkmalen, die nicht stark umweltabhängig sind, reicht das für die Anerkennung als Art noch nicht aus. Die Abschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Populationen in Zukunft wieder verschmelzen, ist eine viel größere Knacknuss. Im Prinzip entscheidet in diesem Fall die Zukunft darüber ob zwei Populationen heute als Arten oder Unterarten angesehen werden sollen! Natürlich lässt sich diese Frage in der Gegenwart nie abschließend beantworten und es lassen sich nur Richtlinien aufstellen, wie man in einer Entscheidung vorgehen sollte. Für Populationen, die gemeinsam in einem Gebiet vorkommen, ist die Beurteilung einfach. Individuen solcher Populationen haben die Möglichkeit, sich miteinander zu verpaaren. Bleiben die Populationen jedoch unterscheidbar, sind meistens Prozesse im Gang, die eine Vermischung verhindern. Man kann annehmen, dass Trennungsmechanismen auch in Zukunft weiter bestehen werden. Deshalb werden alle unterscheidbaren Populationen, die gemeinsam in einem Gebiet vorkommen, als Arten angesehen. Zitronenstelze (Motacilla citreola calcarata). Foto: T. Roth, Chong-Kemin, Kirgisien, Juli 2003. Komplizierter wird es, sobald zwischen potentiellen Arten Hybriden auftauchen. Artpaare mit Gebieten wo Mischlinge häufiger auftauchen, so genannte Hybridzonen, haben in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit erregt. Sie sind so etwas wie ein Freilandlabor für die Untersuchung von Artbildung. Bei Hybridisierung können Gene von ei- Auch Bachstelzuen haben ein vielfälltiges Repertoir an Unterarten, hier die Unterart Motacilla alba personata. Foto: T. Roth, Chong-Kemin, Kirgisien, Juli 2003. Der Falke 52, 2005 17

ner potentiellen Art auf die Schwesterform übertragen werden. Diesen Austausch von Genen zwischen Populationen nennt man Genfluss. Mit Hilfe von neuen genetischen Methoden lässt sich das Ausmaß dieses Genflusses berechnen. Erstaunlicherweise hat man einen geringen Austausch von Genen selbst bei Arten entdeckt, deren Artstatus von kaum jemanden in Frage gestellt wird. Augenscheinlich kann Hybridisierung auftauchen, ohne dass dadurch die Arten wieder miteinander verschmelzen. Obwohl die reproduktiven Isolationsmechanismen offenbar nicht vollständig funktionieren, reduzieren sie den Genfluss so stark, dass die beiden Arten fortbestehen können und nicht miteinander verschmelzen. Genau das ist der Ansatz, den man bei Arten mit Hybridzonen anzuwenden versucht. Solange Hybridzonen nicht zu breit sind und solange auch in den Hybridzonen die ursprünglichen Formen vorkommen, kann man annehmen, dass der Genfluss relativ stark eingeschränkt ist. In einem solchen Fall werden die beiden Populationen meist als Arten geführt! Durch diese schwammige Definition sind Artstatus-Diskussionen nicht erstaunlich, selbst dann nicht, wenn über die Artdefinition Einigkeit herrscht: denn ab wann ist eine Hybridzone zu breit für die Anerkennung von zwei Arten? Rabenund Nebelkrähe bilden einen altbekannten Grenzfall; man betrachtet sie heute zumindest als Semispezies (Halbarten), doch die Diskussionen werden noch lange andauern. Wenn die ursprünglichen Elternformen in einer Hybridzone nicht mehr vorhanden sind, also ein fließender Übergang von einer Form zur anderen besteht, dann spricht man von einer Kline. Zwei Formen, die durch eine Kline miteinander verbunden sind, werden nicht als Arten anerkannt. Noch schwieriger wird die Einschätzung bei allopatrischen Arten, die definitionsgemäß nirgends in einem Gebiet gemeinsam vorkommen. Für eine Beurteilung versucht man nah verwandte sympatrische Arten heranzuziehen: unterscheiden sich die fraglichen Populationen in derselben Größenordnung wie zu ihren sympatrischen Verwandten, bekommen sie Artstatus. Dieser Ansatz hat in jüngster Vergangenheit starken Vorschub erhalten, weil sich genetische Unterschiede mit neuen molekularen Methoden verhältnismäßig gut messen lassen. So leben auf den Kanarischen Inseln Zilpzalpe, die sich durch einen eigenartigen Gesang auszeichnen. Reicht das aus, um die Inselpopulationen als eine selbstständige Art zu bezeichnen? Neuerdings erbrachten genetische Untersuchungen das Ergebnis, dass sich die Inselpopulationen (canariensis) von den mitteleuropäischen Zilpzalpen (collybita) gleich stark unterscheiden wie die mitteleuropäischen Zilpzalpe von den Spanischen (brehmii). Ein starkes Argument für eine weitere Phylloscopus Art, den Kanarischen Zilpzalp. Es ist aber nicht so, dass durch die Möglichkeit, genetische Unterschiede zu messen, die phänotypischen Unterschiede jeglichen Wert verloren hätten. Mit verschiedenen DNA- Abschnitten, sogenannten Gensequenzen, erhöht sich einfach die Zahl der Merkmale, die herangezogen werden können. Ein Unterschied in der Gensequenz ist genau so ein Merkmal wie ein phänotypischer Unterschied. Nur die Unterscheidung von Fitis und Zilpzalp ist schon lange kein Thema mehr: Spanischer, Kanarischer und Bergzilpzalp haben sich dazu gesellt. Raffael Aye, Tobias Roth Literatur zum Thema: Helbig, A. J. (2000): Was ist eine Vogel- Art? Ein Beitrag zur aktuellen Diskussion um Artkonzepte in der Ornithologie. Limicola, 14(2): 57-79. Helbig, A. J., A. Knox, D. Parkin, G. Sangster & M. Collins (2002): Guidelines for assigning species rank. British Ornithologists Union. Irwin, D., P. Alström, U. Olsson & Z. M. Benowitz-Fredricks (2001): Cryptic species in the genus Phylloscopus (Old World leaf warblers). Ibis 143, 233-247. Newton, I. (2003): The speciation and biogeography of birds. Academic Press, London. Anzeige 18 Der Falke 52, 2005