Bildungsstandards, Studierfähigkeit und Anforderungen an die gymnasiale Oberstufe Jürgen Baumert Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Die Reform der gymnasialen Oberstufe im Land Brandenburg Fachtagung am 28. März 2009 in Potsdam 1
Überblick 1. Die historische Leistung der Schule 2. Allgemeinbildung was heißt das? 3. Besonderheit des Gymnasiums 4. Gymnasiale Trias 5. Reformzyklen des Gymnasiums 6. Diagnosen und Befunde 7. Die Reform der Reform 8. Offene Fragen 2
Historische Leistung der Schule 3
Universalisierung des Zugangs zu formaler Bildung und das Konzept der allgemeinen Bildung Allgemeine Bildung bedeutet: Generalisierung universeller Prämissen für die Teilhabe an Kommunikation durch die Garantie des Bildungsminimums und die Kultivierung der Lernfähigkeit 4
Fünf bildungstheoretische und (zumindest teilweise) empirisch gestützte Grundannahmen 1. Die Verfügung über basale Kulturwerkzeuge ist die Voraussetzung des Zugangs zu den symbolischen Gegenständen der Kultur 2. Der Erwerb dieser Kompetenzen erfolgt in der Begegnung und Auseinandersetzung mit den Kulturgegenständen 3. Moderne Schulen erzeugen den Kanon ihrer Kulturgegenstände in Auswahl und Ordnung unter den Gesichtspunkten der Lehr- und Lernbarkeit im Curriculum selbst 4. Die Grundstruktur dieses Kanons ist universell: Das Kerncurriculum der modernen Schule institutionalisiert die reflexive Beschäftigung mit unterschiedlichen Modi der Weltbegegnung und Weltaneignung 5. Die Horizonte des Weltverstehens sind in der Zahl begrenzt und in ihrer Rationalität nicht wechselweise austauschbar 5
Grundstruktur der Allgemeinbildung und des Kanons Modi der Weltbegegnung (Kanonisches Orientierungswissen) Kognitiv-instrumentelle Modellierung der Welt Mathematik Naturwissenschaften Aesthetisch-expressive Begegnung und Gestaltung Sprache/Literatur. Musik/Malerei/Bildende Deutschunterricht Kunst Physische Expression Normativ-evaluative Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft Geschichte Ökonomie Politik/Gesellschaft Recht Probleme konstitutiver Rationalität Religion Philosophie Basale Sprach- und Selbstregulationskompetenzen (Kulturwerkzeuge) Beherrschung der Verkehrssprache Fremdsprachl. Kompetenz Mathematisierungskompetenz IT-Kompetenz Selbstregulation des Wissenserwerbs 6
Die Stellung des Deutschunterrichts im Kanon 1. Die Beherrschung der regionalen Verkehrssprache gehört zu den Basiskompetenzen, die den Zugang zu allen Rationalitätsformen zumindest in reflektierter Form eröffnen. 2. Der Deutschunterricht ist eine Institutionalisierungsform unter anderen, die in der reflexiven Begegnung mit Sprache und Literatur in den Modus der ästhetisch-expressiven Deutung der Welt einführt. 3. Der Deutschunterricht hat in dieser Funktion keine Monopolstellung er hat Konkurrenten außerhalb der Schule (und innerhalb). 4. Er hat Kompensationsfunktionen für das Fehlen außerschulischer Lerngelegenheiten. 7
Die Stellung des naturwissenschaftlichen Unterrichts im Kanon 1. Naturwissenschaftliche Kompetenzen gehören nicht zu den universellen Basiskompetenzen. 2. Die Naturwissenschaften und ihre technischen Anwendungen stehen aber paradigmatisch für die kognitive Modellierung der Welt unter instrumentellem Zugriff auf die belebte und unbelebte Natur und damit für einen zentralen Modus der Weltaneignung in modernen Gesellschaften. 3. Die Schule besitzt eine Monopolstellung für die systematische Begegnung und Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Tatbeständen. 4. Nach Abschluss der Schule ist ein Nachlernen wenn man keinen naturwissenschaftlich-technischen Beruf erlernt unwahrscheinlich. 8
Zur Erinnerung Allgemeine Bildung bedeutet: Generalisierung universeller Prämissen für die Teilhabe an Kommunikation durch die Garantie des Bildungsminimums und die Kultivierung der Lernfähigkeit 9
Spezifikum des Gymnasiums Fachlichkeit Reflexivität und Primat des Kognitiven Perspektive der Hochschulreife: Vertiefte Allgemeinbildung, Wissenschaftspropädeutik und Studierfähigkeit 10
Gymnasiale Trias: Was ist das? 11
Vertiefte Allgemeinbildung Sicherung der Basisqualifikationen auf einem Niveau, das Studierfähigkeit sichert Einführung in die Modi des Weltverstehens unter den Gesichtpunkten der Fachlichkeit, Wissenschaftsnähe und Reflexivität Befähigung zur Berufs- und Studienfachwahl 12
Wissenschaftspropädeutik Initiation in Denk- und Arbeitsweisen der Wissenschaft Reflexion der Voraussetzungen und Grenzen von Wissenschaft Wissenschaftsorientierte Arbeitshaltungen: Epistemische Neugier und Selbstregulation 13
Studierfähigkeit Formale Definition: Berechtigung zur Aufnahme eines beliebigen Studienfachs Inhaltliche Definition: Sicherung eines hinreichenden Niveaus vertiefter Allgemeinbildung (Basisqualifikationen, Modi des Weltverstehens, Befähigung zur Berufs- und Studienfachwahl) Sicherung hinreichender wissenschaftspropädeutischer Kompetenzen einschließlich wissenschaftsorientierter Arbeitshaltungen 14
Studierfähigkeit im Berechtigungssystem oder die Zwangsläufigkeit von Standards Erwartungen an die Allgemeinen Hochschulreife: Verlässliche Sicherung von Mindeststandards, nicht die Universalisierung von Exzellenz Überschulische Vergleichbarkeit der Standards Transparente Auskunft über Leistungsprofile Interindividuelle Differenzierungsfähigkeit der erteilten Prädikate 15
Wie antwortet die gymnasiale Oberstufe, auf diese Herausforderungen der Trias? Organisatorisch: Kurssystem mit Wahlmöglichkeiten und zwei Anforderungsniveaus, Creditsystem Curricular: Festlegung von Aufgabenfeldern, Beleg-, Einbringungs- und Prüfungsvorschriften Didaktisch: Entwicklung von gymnasialtypischen Lehr- /Lernarrangements 16
Wie gut erfüllt sie diese Anforderungen? 17
Diagnose der Oberstufenkommission der KMK bei schmaler Informationsbasis Kumulativitätsdefizite Durchgehende Qualitätsprobleme im Grundkursbereich Defizite im Bereich der Sicherung von Basisqualifikationen Mangelnde Wahrnehmung von Querschnittsaufgaben Unzureichende Institutionalisierung fachübergreifender Perspektiven 18
Antworten der Oberstufenkommission der KMK Veränderung von Beleg- und Einbringvorschriften Sicherung der sprachlichen Basiskompetenzen Anerkennung fachübergreifender Lernleistungen Curriculare und didaktische Weiterentwicklung der Grundkurse Verbreiterung der Abiturprüfung auf 5 Fächer (nicht konsensuell) 19
Neuere wissenschaftliche Befunde Englisch als lingua franca Mathematik auf Grundkursniveau Physik auf Leistungskursniveau Wissenschaftspropädeutik: Epistemologische Überzeugungen Entwicklung von Interessen und Berufsfindung Studierfähigkeit: Basisqualifikation Informationsverarbeitung Vergleichbarkeit von Standards und die Rolle des Zentralabiturs 20
Studierfähigkeit? 21
Instruktion für die Referatsaufgabe Liebe Schülerin, lieber Schüler, im folgenden erhalten Sie zwei kurze Texte zur Gentechnik. Ihre Aufgabe ist es, ein Kurzreferat schriftlich auszuarbeiten, für dessen Vortrag Sie maximal 5 Minuten Zeit hätten. Nehmen Sie dazu an, dass ihre Zuhörer/-innen Mitschüler/-innen sind, die nicht im Biologie- Leistungskurs sind. Ihr Referat sollte die Inhalte beider Texte in geordneter Form wiedergeben und die Aufmerksamkeit der Zuhörer/-innen binden. Wir möchten Sie daher bitten, folgende Aufgaben zu bearbeiten: Erstellen eines Referatstextes. Entwerfen einer Overhead-Folie, auf der Sie die Gliederung Ihres Referats präsentieren. Erarbeiten eines zusätzlichen Vorschlags für eine einzige weitere 0verhead-Folie. Zusammenstellung dreier Punkte, die Sie gern mit Ihren Zuhörern/-innen im Anschluss an das Referat diskutieren würden. Für alle Aufgaben haben Sie insgesamt 43 Minuten Zeit. Wir wissen, dass die Zeit knapp bemessen ist und bitten Sie daher, alle Punkte zügig zu bearbeiten. Bemühen Sie sich dabei bitte um eine leserliche Schrift. Falls Sie noch Fragen haben, stellen Sie sie bitte jetzt MP/BIJU 1998 23
Form des abgegebenen schriftlichen Referats 50 40 Schüler in % 30 20 10 0 kein Text Stichworte ausf. Text Stichw. u. Text Interraterübereinstimmung: 92% MPI/BIJU 1998 24
Anzahl der erfassten zentralen Informationen aus den Texten nach Schulform und Form des Referattextes Anzahl zentraler In nformationen 12 10 8 6 4 2 0 Stichworte Ausf. Text Interraterkorrelation r =.98. MPI/BIJU 1998 25
Problem: Standardsicherung 26
Beispiele: Vergleichbarkeit innerhalb eines Landes Gesamtschule NRW Allgemein- und berufsbildende Gymnasien in BW Vergleichbarkeit zwischen Ländern Gymnasiale Oberstufe HH und BW Standard sichernde Funktion des Zentralabiturs HH 27
Antworten der Politik auf Mängeldiagnose und demographische Entwicklungen Bewahrung der Niveauabstufung (4/2) Bewahrung der Aufgabenfelder (3 oder 4) Anerkennung fachübergreifender Lernleistungen Veränderung von Beleg- und Einbringvorschriften Sicherung der sprachlichen Basiskompetenzen Verbreiterung der Obligatorik im Bereich der Basiskompetenzen und Unterrichtung auf erweitertem Niveau (4 Wochenstunden) Einschränkung der Wahlmöglichkeiten bei Profilbildung Verbreiterung der Abiturprüfung auf 5 Fächer (überwiegend 4 schriftlich, u.u. obligatorische mündliche Sprachprüfung) Einführung des Zentralabiturs 28
Ziele der Reform Sicherung der sprachlichen Basiskompetenzen auf hohem Niveau Verringerung der Differenz zwischen Kursniveaus und Entschärfung der Grundkursproblematik Vereinfachung der Schulorganisation durch bessere Blockbarkeit (4/2) Erleichterung der Führung kleinerer Oberstufen bei Deckelung der Lehrerstunden Verbesserung der Vergleichbarkeit von Abschlüssen 29
Was bedeutet dies für Brandenburg? Bewahrung der Prinzipien der gymnasialen Oberstufe (Aufgabenfelder, Niveauabstufungen, Wahlmöglichkeiten) Anerkennungsmöglichkeit überfachlicher Lernleistungen Sicherung der sprachlichen Basiskompetenzen auf höherem Niveau vermutlich ohne größere Versagensquote Vereinfachung der Schulorganisation durch bessere Blockbarkeit (4/2) Aufrechterhaltung von Wahlmöglichkeiten auch von Naturwissenschaften bei Sicherung von Mindeststundenausstattung Verbesserung der Vergleichbarkeit von Abschlüssen 30
Offene Fragen Ausgestaltung des Seminarfachs Ausgestaltung des Abitur (4 oder 5 Fächer und Festlegung des Anspruchsniveaus, Einfach- oder Doppelwertung von Kursen) Vereinbarung eines gemeinsamen Abiturs mit Berlin Sicherung von Profilierungsmöglichkeiten durch Fachlehrerversorgung der Schulen 31
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 32