Heiko Zienert, Gebärdensprachforscher

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Transkript:

SEHEN STATT HÖREN... 02. Dezember 2006 1300. Sendung In dieser Sendung: DER ERSTE DER DREI MUSKETIERE Porträt des Gebärdensprachforschers und Dozenten Heiko Zienert Heiko Zienert, Gebärdensprachforscher Heiko im Institut für Deutsche Gebärdensprache, Universität Hamburg Letzter Unterricht von Lektor und Dozent Heiko Zienert dem ersten gehörlosen Sprachwissenschaftler in Deutschland. Präsentator Marco Lipski: Hallo, liebe Zuschauer, willkommen bei Sehen statt Hören! Unsere heutige Sendung wird so etwas wie ein Abschiedsportrait von Heiko Zienert. Abschiedsportrait? Warum reden wir denn eigentlich von Abschied? Heiko Zienert (Lektor Institut für DGS Hamburg): Ja, Abschied ist schon das richtige Wort, weil ich das Institut hier verlasse und nach Spanien umziehe. Von meiner Altersteilzeit ist noch so viel übrig, dass ich jetzt bis zum Rentenalter freigestellt bin. Und darum nehme ich Abschied. Marco: Warum willst du ausgerechnet nach Spanien ziehen? Heiko: Weil meine Familie dort wohnt. Sie ist bereits vor 2 ½ Jahren von Deutschland nach Spanien gezogen, weil meine Frau dort Arbeit bekam. Ich ziehe vor allem wegen meiner Kinder um, die natürlich ihren Papa vermissen und ich sie. Flashback : Momentaufnahmen aus Heikos Leben Titel: DER ERSTE DER DREI MUSKETIERE Heiko Zienert ein Gebärdensprach-Pionier blickt zurück Teil 1: Die wilden 60er und 70er: Heikos Jugend Heiko: Tja, das ist leider Pech, ich bin gar kein waschechter Hamburger, obwohl ich hier 45 Jahre gelebt habe. Wo ich geboren bin, habe ich genauso meine Liebe zum Norden und zur frischen Brise von der See mitgekriegt: In Bremerhaven. Ist ja nur ein Katzensprung. Dort wurde ich aber nur geboren. Mein Vater war Berufssoldat, und deshalb mussten wir ständig umziehen Jürgen Stachlewitz (Schulfreund): Irgendwann ist die Familie dann in Hamburg sesshaft geworden. Der Vater machte Karriere und wurde Obermaat bei der Marine. In seiner blauen Uniform brachte er täglich Klein- Heiko in die Gehörlosenschule Foto Alexander Meyenn: wo er auf der Schulbank den zweiten Musketier kennen lernte: Alexander von Meyenn (Präsident des dt. Gehörlosenbundes): Heiko und ich, wir kennen uns seit der Gehörlosenschule. Wir gingen in dieselbe Klasse und saßen sogar nebeneinander! Ich kam von der Grundschule in Hildesheim an die Realschule nach Hamburg, Heiko aus Schleswig-Holstein. So lernten wir uns kennen. Fotos Klasse und Fußball mit von Meyenn/Zienert (beides 1966) Heiko: Er war in Hildesheim auch in einem Heim aufgewachsen, so wie ich. Schon bei der ersten Unterhaltung stritten wir uns um unsere Dialekte: Du hast falsch gebärdet, das geht ganz anders und so weiter. Foto Heiko & Alexander beim Kräftemessen (1967) Alexander (2. Musketier): Heiko war schon früh reif und sehr cool. Alle waren seine Freunde. Ich war nur ein Mitläufer. Jürgen: Einmal habe ich ihn zu Hause besucht. Er wollte unbedingt Zigaretten rauchen.

Mittlerweile raucht er ja seine Pfeife. Die Eltern waren im Zimmer nebenan. Wir plauderten und Heiko qualmte die ganze Zeit. Plötzlich kam die Mutter rein. Sie war ganz schön streng, der Vater war da eher locker. Aber die Mutter, mein lieber Schwan! Plötzlich stand sie da. Heiko bekam einen Riesenschreck und gab mir schnell seine Zigarette. Die Mutter: Was riecht hier so, Heiko?! Der wies jede Schuld von sich. Ich sagte: ICH rauche gerade. Da ging sie wieder. Und ich gab Heiko seine Zigarette zurück. Foto Alexander & Heiko auf Rheinfahrt (1965) Foto Ratsherrnkeller, Die drei Musketiere beim Abschiedstrunk im Oktober 2006 in Hamburg mit Wolfgang Schmidt, dem Dritten im Bunde. Heiko: Wolfgang ist ein außergewöhnlicher Mensch. Wir waren einige Gehörlose, die sich heiße Diskussionen lieferten, und wir haben ihn, glaube ich, beim Fußball oder einem anderen Sporttreffen kennen gelernt. Wolfgang, Alexander, ich, Gerd Hommel und Heiko Heitmann wir waren eine richtig selbstbewusste Gruppe. Im Ratskeller Alexander: Wir kamen auf die Idee, uns neben dem Sport auch politisch zu betätigen. Dabei konzentrierten wir uns zunächst auf die Schulbildung und die Verbesserung der Berufsmöglichkeiten für Gehörlose. Wolfgang Schmidt (Pädagoge): Damals, in den 70er Jahren, waren wir mitten in einer allgemeinen Protestzeit. Wir waren stark von der 68er-Bewegung beeinflusst. Foto Hippie-Handballer Wolfgang Heiko: Wir gründeten deshalb eine Zeitung mit dem Titel AIG Aktuelle Information für Gehörlose. Vorher hatten wir schon das Infoblatt Aktion 71. Foto Handballhippie Heiko AIG Beispiel Karikatur: Heiko Zienert Heiko: Unsere Infos waren politisch extrem links angesiedelt. Wir waren gegen Unterdrückung durch Autoritäten und Politiker und klärten die Gehörlosen auf, dass es auch linke Parteien gibt wie Kommunisten oder Sozialisten, die anderer Meinung sind als Kapitalisten oder Rechtsextreme. Das wollten wir Gehörlosen bewusst machen. Karikatur: Heiko Zienert Heiko weiter: Unsere Themen waren Politik und Sport. Wir haben z. B. den Deutschen Gehörlosensportverband wegen seines autoritären Führungsstils kritisiert, ebenso die Fußballabteilung, weil ihre Leitung zu grob vorgegangen war. Das Ergebnis waren gewaltige Gegen-Angriffe auf uns! Sie wollten uns stoppen! Aber wir waren froh, dass Gehörlose jetzt auf Missstände aufmerksam wurden und sich eine freie Meinung entwickeln konnte! Titelbild AIG, Wolfgang/Alex/Heiko Heiko (Karikaturist der AIG): Nur Texte zu drucken, wäre für die Gehörlosen zu langweilig gewesen, darum schmückte ich alles mit lustigen Zeichnungen, Witzen, Comicfiguren usw. aus. Auch das Thema Sex und nackte Frauen war für uns nicht mehr tabu. Für Hörende war das ja auch selbstverständlich. Die brave Deutsche Gehörlosenzeitung schmissen wir damals weg. Foto Cartoons, Karikatur: Heiko Zienert Jürgen: Als ich damals ihre Zeitung in die Hand nahm, kam mir sofort das Bild der drei Musketiere in den Sinn. Heiko Zienert, Alexander von Meyenn und Wolfgang Schmidt sie hatten alle lange Haare und sahen sehr cool aus. Man bekam es direkt mit der Angst zu tun. Früher kam mir Heiko harmlos vor, aber jetzt war er ein lässiger Typ! Teil 2: Die bunten 80er: Die Entdeckung der DGS Heiko Zienert (1. DGS-Dozent Deutschlands): Es begann damit, dass ich zur Dolmetscherausbildung der Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen in Hamburg geholt wurde. Da habe ich schon unbewusst in der normalen Gebärdensprache, also in DGS unterrichtet. Das wollte man aber nicht. Ich sollte sauber lautsprach-begleitend unterrichten. Damit kam ich aber gar nicht zurecht. Irgendetwas stimmte nicht. Schließlich bekamen wir einen Workshop von einem Amerikaner angeboten, der mein großes Vorbild wurde. Aufnahmen vom Workshop mit Mike Kemp, 1983 Heiko: Das war Mike Kemp! Er hatte einen roten Bart, rote Haare und eine Brille wie ich. Nur leider keine Pfeife. Aufnahmen vom Workshop mit Mike Kemp, 1983 Heiko: Er erklärte mir, wie man einen richtigen Kurs für Anfänger aufbaut, z. B. durch Mimik- und Handformspiele. Da hatte er Ver-

schiedenes in seinem Programm, zur Förderung der nonverbalen Kommunikation (NVK). In Deutschland hatten wir bisher nur Sätze geübt wie Ich besuche dich, Du besuchst mich und über Handformen und Ausführungsstellen diskutiert. Aber die Mimik und der emotionale Ausdruck fehlten noch völlig. Heiko, 1983: Du leihst mir. Ich leihe dir. Er leiht mir. Marco Lipski: Wo hat die Bezeichnung Deutsche Gebärdensprache, kurz DGS, eigentlich ihren Ursprung? Heiko (Mit-Entdecker der DGS Grammatik): In meiner Zeit als Dolmetscherausbilder war mir zwar bewusst, dass wir eine eigene Sprache hatten, nur hatten wir noch keinen Begriff dafür. Wir nannten es Plaudern oder stumm mit den Händen sprechen. 1981/82 flogen dann mein Freund Wolfgang Schmidt und ich... Alexander: sowie Bernd Rehling aus Bremen Foto Bernd Rehling, Taubenschlag.de-Macher Renate Dorn (Exfrau von Heiko): und dann noch Fritz Wisch und eine Frau (Gisela Viertel) nach Amerika, um sich dort die Dolmetscherausbildung genauer anzuschauen. Sie waren richtig erschrocken: Die Dolmetscher dort waren unglaublich selbstbewusst, gebärdeten ganz fließend und ohne Stimme. Das war dort selbstverständlich, aber für die deutschen Gehörlosen war das ein Schock. Auf der Rückreise diskutierten dann Wolfgang Schmidt und Bernd Rehling sehr intensiv über dieses Thema. Wolfgang Schmidt (3. Musketier): Als wir aus den USA zurückflogen, hatte ich das Gefühl, etwas gefunden zu haben. Bernd sagte zu mir: Wir haben eine eigenständige Gebärdensprache gefunden. Ich dachte: Stimmt! Etwas Vergleichbares wie die ASL, die es ü- berall in Amerika gibt und die etwas ganz Besonderes ist, muss es in dieser Art doch auch in Deutschland geben! Warum nicht? Heiko: Wolfgang erzählte aufgeregt: Ich habe unglaubliche Informationen aus Amerika mitgebracht! Es gibt auch eine Gebärdensprache in Deutschland, so wie die ASL in den USA! Ich fragte ihn: ASL, was ist das? Ach so, American Sign Language! Er erzählte weiter: Wir machen es in Deutschland genau so. Wir nennen unsere Sprache jetzt Deutsche Gebärdensprache, abgekürzt DGS, okay? Heiko: Ich war sehr froh, dass wir diesen neuen Begriff hatten, denn international gesehen waren wir Spätzünder, die meisten Länder waren schon weiter. Nun begannen wir also, den Gehörlosen klar zu machen: Was du eben erzählt hast, das ist DGS! DGS? Was soll das denn sein? Die Deutsche Gebärdensprache, so wie wir sie untereinander benutzen! Einige verstanden das falsch und glaubten, DGS bedeutet Gebärden ohne Mimik und Mundbild. Nein, sagten wir, DGS ist so wie wir uns schon immer ganz natürlich unterhalten haben, nicht diese steifen Gebärden bei Vorträgen! Wir stießen auf heftigen Widerstand: Das ist doch kein Deutsch! Ihr müsst lautsprach-begleitend gebärden! Wir sagten: Nein, wir folgen nicht der deutschen Sprache, unsere DGS funktioniert unabhängig davon! Langsam kam ein Wandel in Gang, und heute ist die DGS für uns selbstverständlich. Gehörlose sind stolz, zu zeigen, wie gut sie in DGS sind. Es hat einige Zeit gebraucht, aber jetzt ist es sehr schön, dass wir sie haben! Aufnahmen Sehen statt Hören vom 24. 06. 1983 Wolfgang, 1983: Jetzt glauben wir, dass diese Gebärdensprache deutscher Gehörloser eine eigenständige grammatikalische Struktur hat. Und darum denken wir, dass diese Sprache doch mit hörenden Wissenschaftlern erforscht werden soll. Möglicherweise können wir das in Zukunft mit der ASL vergleichen. Simon Kollien, Lektor Institut für DGS: Dann traten die drei Musketiere zum ersten Mal mit dem neuen Begriff vor die Gehörlosen und schlugen vor, unsere Sprache DGS zu nennen. Ich war damals von ihrem Auftreten mächtig beeindruckt. Wolfgang, 1985: Vorläufig bezeichnen wir diese Sprache in Gänsefüßchen als DGS, das heißt: Deutsch Gebärdensprache. Jürgen: Zu der Zeit erzählte ich Heiko stolz von meinem Gebärdenkurs in Münster. Er sah mich prüfend an: Und weiter!? Ich meinte: Na ja, ich unterrichte eben! Heiko: Mit Stimme? Jürgen: Klar, natürlich! Die Teilnehmer sind ja hörend! Heiko: Du bist bescheuert! Ich war total perplex. Heiko: Hast du von klein auf deine Gebärdensprache auch mit Stimme benutzt? Jürgen: Nein.

Heiko: Na also! Ihr müsst das endlich lernen! Jürgen: Wirklich, ich habe viel von ihm gelernt und viele meiner Ansichten geändert. Teil 3: Mitte der 80er: Aufbruch und Krieg LBG DGS Marco Lipski: Und wie seid ihr zum ersten Mal mit Prof. Dr. Prillwitz in Kontakt gekommen? Heiko Zienert (Galionsfigur der DGS- Bewegung): Prillwitz traf ich zum ersten Mal in unserem Clubheim. Ich hatte einen Professor mit Anzug und Krawatte erwartet, aber er war ganz lässig gekleidet. Wir kamen ins Gespräch. Er war Linguist, ein Sprachwissenschaftler vom Germanischen Institut der Universität, also auf alles spezialisiert, was mit Deutsch zu tun hatte. Warum er zu uns kam? Die Hamburger Gehörlosenschule hatte ihn gebeten, die Sprachentwicklung der Schüler zu untersuchen und Verbesserungen vorzuschlagen. Prillwitz besuchte also den Lautsprach-Unterricht. Doch dann sah er auf dem Pausenhof, wie sich alle Kinder lebhaft in Gebärdensprache unterhielten. Er stutzte: Im Unterricht wird gesprochen und in der Pause gebärdet? Karikatur Lucas Kollien Kinder auf dem Pausenhof Heiko: Wir begannen also, mit Prillwitz zu forschen, lasen Bücher aus Amerika oder aus Schweden und stellten fest, dass Gebärdensprache tatsächlich eine eigenständige Grammatik besitzt, die mit Lautsprache und LBG nichts zu tun hat. Um das zu analysieren, hat er uns drei ausgesucht und in sein Team geholt, wo wir bis heute sind. Karikatur Lucas Kollien Heiko (erster Musketier der DGS): Alexander, Wolfgang und ich, wir waren wirklich unzertrennliche Freunde wie die drei Musketiere. Es kamen aber noch mehr Forscher hinzu, auch Dolmetscherinnen wie Regina Leven, Andrea Schaffers und Simone Flessa. So kamen die Dinge ins Rollen. Ausschnitt: Forschungsstelle für DGS an der Uni Hamburg, 1985: Regina Leven, Alexander von Meyenn, Wolfgang Schmidt, Heiko Zienert, Siegmund Prillwitz Heiko: Prillwitz stellte uns Fragen, und wir antworteten, wie man etwas in DGS gebärdete. Er setzte das schriftlich in die Theorie um. Wir schafften es nicht, das alles vollständig zusammenzufassen. Wir dachten, wir könnten vielleicht ein erstes Buch zur DGS-Grammatik veröffentlichen. Aber die ganze Sache war ja unbekannt, es gab noch kein Buch über DGS, das war immer verdrängt worden. International gab es das, aber bei uns nicht. Da hatten wir uns was vorgenommen! Wir starteten mit den Skizzen zu einer Grammatik der Deutschen Gebärdensprache. Die hatten einen orangefarbenen Einband, deshalb nannten wir sie das Goldene Buch. Das wurde gedruckt, und daraufhin initiierten wir den internationalen Kongress Die Gebärde in Erziehung und Bildung Gehörloser. Aufnahmen vom internationalen Kongress Die Gebärde in Erziehung und Bildung Gehörloser Heiko, Vortrag auf dem Kongress 1985: Es ist wohl das erste Mal im gesamten deutschsprachigen Raum, dass die Gebärdensprache der Gehörlosengemeinschaft als anerkannte deutsche Sprache an einem universitären Institut für deutsche Sprache erforscht und auch gelehrt wird. Anders als beim lautsprachbegleitenden Gebärdenkurs wird in unseren DGS-Kursen die Gebärdensprache der Gehörlosen mit ihrem eigenständigen Lexikon, Struktur und Grammatik gelehrt, ähnlich wie bei einem Fremdsprach-Kursus. Filmstudio Seit damals herrscht im Videostudio des Instituts für Deutsche Gebärdensprache Hochbetrieb. Renate Dorn (Exfrau): Auf diesem Kongress zeigten die vier, worin sich DGS und LBG unterscheiden. Das war ein Schock für alle! Denn damals dachte man: das gehört doch alles in einen Topf. Doch die vier zeigten auf, dass beides getrennt werden muss. Filmstudio Zahlreiche Lexika und Gebärdensprachkurse entstehen auf Video und CD-ROM. Jürgen: Einmal gab es eine Veranstaltung in Bonn, mit allen Landesverbänden aus ganz Deutschland. Fast alle waren sehr lautsprachlich erzogen oder spät ertaubt. Die drei Musketiere kommunizierten ganz selbstverständlich in DGS. Die anderen fanden das zu extrem und fragten, wie denn der richtige Satz lauten würde. Und vor allem, wie Gehörlose mit ihren hörenden Kollegen kommunizieren sollten?! Heiko antwortete nur: Ach, dafür

gibt es Dolmetscher! Das gab eine Aufregung! Heiko Studioaufnahmen Alexander: Prillwitz nahm bei Besprechungen immer seine rechte Hand Heiko Zienert mit. Einmal sagte Heiko ganz offen, dass es wichtig sei, die Deutsche Gebärdensprache gesetzlich anzuerkennen. Der damalige DGB- Präsident Wolfgang Czempin beschwerte sich bei Prillwitz, dass er gefälligst Heiko zurückhalten solle. Er wolle nur wissen, was Prillwitz dazu sage. Prillwitz meinte nur: Wenn das Heikos persönliche Meinung ist, dann akzeptiere ich sie. Er als Gehörloser kann so etwas verlangen, ich als Hörender, nicht! Das ging Czempin total gegen den Strich. Studioarbeiten Prof. Dr. Siegmund Prillwitz (Institutsgründer): Heiko hatte auch das richtige Naturell, um in dieser Kampfsituation die Kommunikation auch zwischen den Gegnern, auch mit Czempin und mit den anderen im Deutschen Gehörlosenbund und auch mit der Lehrerschaft, diese Kommunikation wirklich Intelligent zu führen, den Streit, und trotzdem nicht zu verschrecken. Teil 4: Ende 80er: Gründung des Instituts für Deutsche Gebärdensprache Aufnahmen der Institutseröffnung am 11. 05. 1987 Ausschnitt aus Heikos Eröffnungsrede: Ja, nun feiern wir also heute die Eröffnung des Zentrums für Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser!.. Siegmund Prillwitz (Heikos doppeltes Lottchen ): Heiko war wirklich so die Gallionsfigur, und wie ich sagte, eigentlich war das so ein doppeltes Lieschen. Ich hätte nichts ohne Heiko machen können, das wäre irgendein trockener Wissenschaftskram gewesen, wo ich Gehörlose ausquetsche. Und Heiko hat eben auch diese Universitätschance sehr gut genutzt, um, das haben wir gemeinsam dann gemacht mit dem Projekt, dass wir nicht nur Wissenschaft gemacht haben, sondern Sozialpolitik! Alexander: Prillwitz schaffte es, an der Universität die erste Lektorenstelle für einen Gehörlosen durchzusetzen. Die bekam natürlich Heiko. Er war von seiner Ausstrahlung her gut dafür geeignet, aber auch wegen seiner zeichnerischen Fähigkeiten. Aufnahmen: Heiko Zienert erklärt seine erste computeranimierte Gebärdensprach- Zeichnung (1987): Wenn ich den Befehl gebe: Bitte bewege dich, bitte mach diese Bewegung dann sieht das so aus. Und damit habe ich Ihnen ein Beispiel für das Gebärdenlexikon gegeben. Heiko Zienert im Fachausschuss für Gebärdenfragen des Deutschen Gehörlosenbundes, Bonn 1991 (aus Sehen statt Hören vom 14. 07. 1991) Hans Busch: Viele Gehörlose sagen: DGS, die kommt aus Hamburg, das ist nicht von uns. Du bist ja aus Hamburg, du bist dort Mitarbeiter im Gebärdenzentrum. Stimmt das? Heiko: Es stimmt, dass Gehörlose und Hörende oft nicht genau über die Forschungsarbeit im Zentrum Bescheid wissen. Sie glauben, dass wir hier wie in einem Chemielabor arbeiten, und was dann heraus kommt, das sind Handformen und Gebärdenzeichen, die wir dann verkaufen. Oder dass wir darüber bestimmen, diese Gebärde ist falsch und diese ist richtig, dass wir darüber entscheiden. So ist es nicht! Was mache ich für eine Forschungsarbeit? Die Gebärdensprache, die es überall gibt, im Norden, im Süden, wird mit Videoaufnahmen gesammelt und erforscht, in verschiedene Töpfe aufgeteilt und dann sprachwissenschaftlich kategorisiert und analysiert. Und davon machen wir Bücher, die wir verkaufen. Wir legen die Ergebnisse vor. Ganz neutral, ohne jeden Zwang. Der beste Beweis ist: Wir haben eine Umfrage unter Wissenschaftlern gemacht zur Anerkennung der Gebärdensprache. Bis heute haben 220 Forscher und Wissenschaftler an deutschen Universitäten, z. B. aus Köln, Aachen, München und anderen Großstädten für die Anerkennung der Gebärdensprache unterschrieben. Das ist alles saubere Arbeit! Jürgen: Auch Ulrich Hase begriff den Wandel der Zeit und begann umzudenken. Als Präsident des Deutschen Gehörlosenbundes setzte er sich auch politisch für die DGS ein. Aber die Basis dafür haben Heiko Zienert, Alexander Meyenn und Wolfgang Schmidt geschaffen. Ich habe Respekt vor ihrer Leistung. Professor Prillwitz, der Theoretiker, blieb immer ruhig und sachlich. Heiko und seine Mitstreiter waren die Praktiker und zugleich Revolutionäre. Sie haben das Bewusstsein der Gehörlo-

sen verändert. Heute haben das viele schon vergessen. Teil 5: Die 90er: Aufbruch, Erfolge, Anerkennung Aufbruchstimmung verbreitete sich - wie hier bei der Riesendemo anlässlich der 1. Deutschen Kulturtage der Gehörlosen in Hamburg 1993. Aufnahme Demorede Uli Hase vor dem Hamburger Rathaus: Ich möchte noch einmal sagen, warum wir diese Demonstration hier machen. Ich denke, alle wissen: Gebärdensprache ist eine richtige Sprache. Mit ihr fühlen wir uns gleichberechtigt mit den Hörenden! Kulturpreis Für die Entdeckung der DGS wurden Sigmund Prillwitz und sein Team 1997 mit dem Kulturpreis des Deutschen Gehörlosenbundes ausgezeichnet. Heiko Zienert stellt den neuen Grundkurs für DGS vor (aus Sehen statt Hören vom 18. 06. 2000) Heiko: Willkommen beim DGS-Grundkurs. Wie ihr seht, gibt es ein Buch und ein Video, durch die ihr die Deutsche Gebärdensprache D-G-S kennenlernen und in die Gehörlosengemeinschaft eintauchen könnt. Beispiel: Verneinende Antworten Hast du Kinder? Nein, ich habe keine Kinder. Ich selbst habe keine. Mein Mann hat zwei Kinder. Anmerkung zur Grammatik: Fragen stellen Ja/Nein-Frage: Augenbrauen heben / Kopf nach vorne neigen / ggf. Subjektpronomen wiederholen www.sign-lang.uni-hamburg.de www.signum-verlag.de Moderation Marco Lipski: So, dann möchtest du also jetzt ins Flugzeug steigen und alle Brücken hinter dir abbrechen? Wenn du in Spanien gelandet bist, wie geht s dort weiter? Zusammen mit deiner Frau volle Kraft voraus? Oder legst du dich auf die faule Haut? Heiko (in LSE, Spanisch): Ich freue mich ganz einfach wahnsinnig darauf, dass ich wieder bei meiner Familie sein kann Oh, entschuldige bitte, jetzt habe ich Spanisch mit dir gebärdet. Ich freue mich halt sehr auf die Zeit mit meiner Familie und dass ich endlich wieder Kontakt zu den Kindern habe. Außerdem habe ich eine Menge Hobbys. Früher habe ich oft gemalt, Ölgemälde, in besonderen Farbkombinationen. Und ich liebe es, Pflanzen zu pflegen Arbeiten? Weiß ich noch nicht. Ein bisschen ja, aber nicht mehr wie früher die ganze Woche, bis ich Ringe unter den Augen habe. Nein, ich will das Leben genießen. Hafenbilder Heiko (Spanienrentner): Wundervoll, diese Atmosphäre! Man fühlt sich hier so frei. Hamburg ist auch eine grüne Stadt. Toll. Schon ein Jammer, dass ich jetzt von hier weggehe. Heiko Zienert schaut hinaus zum Hafen Heiko: ADIOS! Marco: Adios Heiko! OLÉ! Bericht & Moderation: Dolmetscher & Sprecher: Kamera: Schnitt: Marco Lipski Hans Jürgen Stockerl, Holger Ruppert, Rita Wangemann Marco Lipski, Rainer Schulz Florian Fiedler Fax-Abruf-Service Sehen statt Hören :

Ab 1288. Sendung eingestellt (lt. BR-Rundschreiben 23/06 vom August 2006) Impressum: Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Redaktion Geisteswissenschaften und Sprachen / SEHEN STATT HÖREN Tel.: 089 / 3806 5808, Fax: 089 / 3806 7691, E-MAIL: Internet-Homepage: sehenstatthoeren@brnet.de, www.br-online.de/sehenstatthoeren Redaktion: Gerhard Schatzdorfer, Bayer. Rundfunk, BR 2006 in Co-Produktion mit WDR Herausgeber: Deutsche Gesellschaft der Hörgeschädigten Selbsthilfe und Fachverbände e. V. Paradeplatz 3, 24768 Rendsburg, Tel./S-Tel.: 04331/589750, Fax: 04331-589751 Einzel-Exemplar: 1,46 Euro