Diastrophe Dysplasie allgemeine klinische Befunde Ville Remes Definition und Klassifikation Die Diastrophe Dysplasie (DTD) wurde erstmals 1960 von Lamy und Maroteaux [29] als eine besondere Entität erkannt. Sie verwendeten einen Ausdruck aus der Geologie: Diastrophismus (griechisch: verschlungen, verdreht) beschreibt einen Prozess, in dem Berge, Kontinente, Ozeanbecken usw. durch eine Verformung der Erdkruste [1, 17, 67, 68] gebildet werden. Zwar existieren frühere Beschreibungen der Erkrankung, dort wurde aber die Störung falsch zugeordnet, z. B. als atypische Achondroplasie [55, 68] oder Achondroplasie mit Klumpfuß. Solche Patienten wurden unter vielen verschiedenen Bezeichnungen beschrieben und sind im Sammeltopf der Arthrogryposis multiplex congenita oder Chondrodystrophie in den Krankenakten zu finden [26, 31, 67]. Heute kann die DTD zuverlässig von anderen Formen von Skelettdysplasie [17, 58, 67, 69] unterschieden werden. Typische klinische und radiologische Merkmale der DTD sind die kurzgliedrige Statur, Kontrakturen und eine frühe Degeneration der Gelenke, instabile Kniegelenke, Rückenverformungen wie die Skoliose und die Kyphose der Halswirbelsäule, die Symphalangie und der sogenannte Hitchhaker (= Anhalter)-Daumen, die Gaumenspalte, die Tracheo- und Bronchomalazie sowie deformierte Ohrmuscheln [17, 19, 25, 68]. Die Intelligenz ist normal [14, 26, 51, 58, 69]. Prävalenz und Inzidenz In Finnland wurde die Diagnose bei mindestens 180 Patienten [34] gestellt und stellt die häufigste Skelettdysplasie dar [21]. Daneben wurden außerhalb Finnlands in der Literatur mehr als 200 Patienten beschrieben. Die Prävalenz der DTD liegt in Finnland bei 1:33.000 [22] mit jährlich ein bis drei Neuerkrankungen.
26 Ville Remes Kleinwuchs und Wachstumsverlauf Der ausgeprägte kurzgliedrige Kleinwuchs ist bereits bei Geburt erkennbar und ein konstantes Merkmal [1, 13, 16, 17, 19, 28, 31, 34, 67, 68]. Skoliose und Kontrakturen von Hüfte und Knie verstärken die kurze Statur [1, 17, 34, 58] weiter. Zusätzlich sind die Extremitäten im Verhältnis zum Rumpf verkürzt. Obwohl alle Anteile der Gliedmaßen betroffen sind, sind die proximalen Knochen (Oberarmknochen und Oberschenkelknochen) relativ am kürzesten [58, 68, 69]. Bei Geburt beträgt in beiden Geschlechtern die mittlere relative Länge weniger als 3,0 SD, was auf den pränatalen Beginn der Wachstumsstörung [34] hinweist. Der typische Pubertätswachstumsschub fehlt [17, 34], wobei die Pubertät im Übrigen normal verläuft [17]. Die mittlere Erwachsenengröße von Patienten mit DTD liegt bei 135,7 cm (Bereich: 114,0 158,3) bei Männern und 129,0 cm (98,0 143,0) bei Frauen, d. h. 7,2 bzw. 6,7 SD unterhalb der Norm [34]. Auch ausgeprägtere Wachstumsstörungen sind berichtet worden [18, 68]. Patienten dieser Studien könnten eine selektierte Gruppe darstellen, d. h., der finnische Phänotyp könnte milder ausgepägt sein [34]. Wirbelsäule Typische Verformungen der Wirbelsäule von Patienten mit DTD sind die Skoliose, die zervikale Kyphose und eine ausgeprägte Lendenlordose [40, 60, 62, 68]. Bei der ärztlichen Untersuchung ist die Beweglichkeit der Wirbelsäule stark eingeschränkt [45, 60]. Skoliose Eine Skoliose ist bei Patienten mit DTD häufiger als bei der allgemeinen Bevölkerung [40, 45]. In der Literatur variiert das Vorherrschen der Skoliose zwischen 37 und 88 % [40, 61, 68]. In der größten Studie entsprach die Prävalenz 77 % (100/130) [45]. Mit 88 % (84/96) waren Patienten, die 16 Jahre oder älter waren, noch häufiger betroffen. Zwischen den Geschlechtern bestehen Unterschiede in der Häufigkeit [40, 45]. Die Skoliose tritt normalerweise vor dem Alter von 5 bis 6 Jahren auf [1, 6, 17, 25, 26, 33, 62, 69]. Eine ausgeprägte Kyphose der Brustwirbelsäule kann, muss aber nicht mit einer Skoliose [1, 6, 31, 33, 40, 45, 60, 62] verbunden sein. Der klinische und radiologische Schweregrad der Skoliose
Diastrophe Dysplasie allgemeine klinische Befunde 27 Tabelle 1 Typische Merkmale der Skoliose-Subtypen Symptom/Verlaufsform Früh Idiopathisch Milde, nicht progredient progressiv Manifestationsalter < 3 Jahre < 10 Jahre > 15 Jahre Fortschreiten rasch wenig bis moderat nein Wirbelsäulenverlauf niedrig thorakal ähnlich wie AIS mehrkurvig oder oder thorakolumbal lumbal Brustkorbkyphose schwere Kyphose mäßige Lordose mäßige Lordose oder -lordose schwere Kyphose oder Kyphose Wirbelkörperrotation +++ ++/+ Ausmaß der Deformität > 100 Grad > 30 Grad < 30 Grad bei Wachstumsende variiert [6, 33, 40, 48, 62, 63, 69], wobei das Ausmaß zwischen 11 und 188 Grad schwankt [45]. In Röntgenbildern ist die häufigste Lokalisation im Lendenbereich [40]. Tolo et al. [61] fanden bei 40 % der Patienten mit DTD Verformungen in der Brustwirbelsäule als Folge einer segmentären Störung. In anderen Studien wurde dieser Befund nicht bestätigt [16, 40, 45]. Bereits im frühen Teenageralter können 90-Grad-Verkrümmungen [25, 40, 45] überschritten werden. Die Skoliose kann in 3 Verlaufsformen eingeteilt werden: 1. früher progressiver Verlauf, 2. idiopathische und 3. milde nicht progressive Form (Tab. 1). Das Ergebnis einer Korsettbehandlung von Skoliosen ist unzureichend [5, 16, 25, 40], so dass ein früher chirurgischer Eingriff von mehreren Autoren vorgeschlagen wurde [6, 16, 17, 25, 33, 60, 62, 63]. In einer Studie über 21 Patienten mit DTD ergab bei ausgeprägter Skoliose eine kombinierte vordere und hintere Verschmelzung die besten Ergebnisse [33]. Halswirbelsäulenkyphose Stover et al. [58] beschrieben zuerst eine seltsame Kyphose der zervikalen Wirbelsäule bei einem Patienten aus ihrer Serie. Seither wurden zahlreiche Berichte publiziert [1, 6, 8, 16, 24, 26, 27, 31, 44, 49, 67]. In der größten berichteten Studie lag die Prävalenz der zervikalen Kyphose bei 24 % (29/120)
28 Ville Remes [44]. Die zervikale Kyphose tritt normalerweise in der Kindheit auf [1, 6, 8, 16, 24, 26, 27, 31, 44, 49, 67] und wird bei fast jedem Neugeboren mit DTD beobachtet [44]. Sowohl spontane Rückbildung als auch eine schwerwiegende Zunahme der Deformität, die sogar eine Querschnittlähmung verursacht oder einen tödlichen Verlauf nimmt, wurde bei DTD [6, 9, 16, 17, 24, 25, 27, 31, 40, 44, 60, 63, 68] berichtet. Eine spontane Rückbildung tritt auf, wenn die Kyphose im ersten Röntgenbild weniger als 60 Grad [44] ist. Die Kyphosierung endet normalerweise im Alter von 6 bis 7 Jahren. Die Halswirbelsäule ist durch eine Hypoplasie der mittleren zervikalen Wirbelkörper charakterisiert [6, 16, 24, 31, 40, 43, 44, 47]. MRI-Befunde junger Patienten mit DTD, die eine ausgeprägte Halswirbelsäulenkyphose mit der Folge einer Rückenmarkkompression aufwiesen, wurden publiziert [9, 27, 47]. Patienten mit einer nicht progredienten Kyphose von weniger als 60 Grad, die keine neurologischen Symptome zeigen, benötigen keine Behandlung [44]. Eine sorgfältige Beobachtung ist ausreichend. Die erste Röntgenaufnahme sollte so früh wie möglich erfolgen. Wenn die Kyphose weniger als 60 Grad beträgt und der Wirbel am Scheitelpunkt nicht rund oder dreieckig ist oder nach posterior verlagert, können die nächsten beiden Röntgenbilder in Intervallen von 6 Monaten und dann jährlich erfolgen, bis die Kyphose rückgebildet ist. Wenn die Kyphose mehr als 60 Grad beträgt und der Wirbel am Scheitelpunkt rund oder dreieckig und komplett nach posterior verlagert ist, sollten die Kontrollen mit neurologischer Auswertung regelmäßig durchgeführt werden. Indikationen für die Behandlung der Kyphose sind nicht allgemein anerkannt. In der Literatur wurde eine gemeinsame vordere und hintere Verschmelzung empfohlen [6, 9, 16, 27, 44, 60, 62]. Jedoch wurden diese Operationen nur selten und mit kurzer Nachbeobachtungszeit berichtet, so dass Schlussfolgerungen nicht gezogen werden können. Wenn eine allgemeine Narkose bei Patienten mit schwerwiegender Kyphose nötig ist, sollte eine flexible Optik verwendet werden. Lendenwirbellordose Eine ausgeprägte Lendenlordose wurde häufig beschrieben [6, 16, 17, 19, 26, 33, 40, 60, 61, 63, 69] und als Folge der Hüftkontraktur vermutet. In Röntgenbildern erscheint der lumbosakrale Winkel vermindert und beträgt im Mittel 120 Grad [40].
Diastrophe Dysplasie allgemeine klinische Befunde 29 Spinale Stenose Bei einigen Patienten ist der Interpedikularabstand der Lendenwirbelsäule reduziert [6, 25, 40, 59, 60, 67]. Gelegentlich wurde über Patienten mit Brust- und Lendenwirbelkanalstenose berichtet, die durch eine positive Myelographie bestätigt wurde [40]. In MR-Aufnahmen erscheint der Rückenmarkkanal insbesondere bei Erwachsenen deutlich verengt [48]. Die transversalen Rückenmarkdurchmesser und der Durakanal sind enger als in der Referenzpopulation. Eine ausgeprägte Brust- und Lendenwirbelkanalstenose ist jedoch selten. Eine Kompression des Rückenmarks ist häufiger mit einer erheblichen Kyphose (zervikal oder thorakolumbal) verbunden [48]. MRI-Befunde der Wirbelsäule Alle Patienten weisen verminderte Höhen der Zwischenwirbelscheiben auf, verbunden mit einer verminderten Signalintensität [48]. Das Auftreten einer Protrusion oder eines Scheibenvorfalls ist selten. Alle Patienten weisen eine muskuläre Atrophie auf und den Aspekt einer degenerativen Gelenkhypertrophie. Der Schweregrad dieser Veränderungen steigert sich mit dem Alter [48]. Untere Extremitäten Hüften Bei Geburt sind die Hüften seitengleich und die MR-Abbildungen von Neugeborenen haben keine wesentlichen Gelenkveränderungen [65] gezeigt. Beugekontrakturen der Gelenke sind häufig und werden mit dem Beginn des Laufens [1, 25, 38, 59, 65, 69] sichtbar. Beugekontrakturen der Hüften werden sowohl durch die veränderte Form des Femurkopfes als auch durch die Verkürzung der Beuger [25] verursacht. Die Rotationsbeweglichkeit vermindert sich mit zunehmendem Alter [65]. Im Röntgenbild ist das Auftreten der Knochenkerne der proximalen Femurepiphyse eindeutig verspätet [1, 17, 25, 28, 58, 67, 69]. Bei den meisten Patienten bleibt die Form des Hüftgelenks nahezu kegelförmig, obwohl ein deutliches Überwiegen des großen Trochanters über den Femurkopf [25] auftritt. Der Schenkelhals erscheint kurz und breit und der Femurkopf ist bei