Die rechtlichen Herausforderungen der Euro-Krise Prof. Dr. Christa Tobler, LL.M. Europains9tute der Universitäten Basel und Leiden (Niederlande) Alumni Brush up, EuropaIns0tut der Universität Basel 14. Juni 2013 Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M. Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) christa.tobler@unibas.ch r.c.tobler@law.leidenuniv.nl http://www.europa.unibas.ch http://www.europainstituut.leidenunivv.nl Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 1
Der Ausgangspunkt Das Problem Überblick Problemlösungsversuche im rechtlichen Bereich (inkl. Hinweis auf die berühmte no bail out -Klausel): Kurzfristige Massnahmen Langfristige Massnahmen Die im Vortrag erwähnten Tafeln (Charts) entstammen: Christa Tobler/Jacques Beglinger, Essential EU Law in Charts, 2nd edition, Budapest: HVG-Orac 2010 (2nd reprint: 2012) Vgl. auch Essential EU Law in Text. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 2
Der Ausgangspunkt (1) Regelung im Maastricht-Vertrag Einführung der WWU mit zwei unterschiedlichen Säulen: Wirtschaft: Koordination der Wirtschaftspolitiken der verschiedenen EU-Mitgliedstaaten (n.b.: keine gemeinsame Wirtschaftspolitik!), Vermeidung exzessiver Defizite. Währung: einheitliche Währungspolitik für die am Euro teilnehmenden Länder. Verbindung: die wirtschaftlichen Kriterien zur Übernahme des Euro, Art. 140 AEUV. Defizitverfahren als Sicherungsmechanismus, Art. 126 AEUV. Siehe Chart 7/5 Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 3
Der Ausgangspunkt (2) Defizit und Verschulden Zu den Euro-Kriterien gehört eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand, ersichtlich aus einer öffentlichen Haushaltslage ohne übermäßiges Defizit im Sinne des Artikels 126 Absatz 6 (Verfahren mit Kommission und Rat). Zwei Referenzwerte zur Beurteilung der Haushaltdisziplin, Art. 126 Abs. 2 AEUV, Protokoll Nr. 12: Verhältnis des geplanten oder tatsächlichen öffentlichen Defizits zum BruNoinlandsprodukt: max. 3 %. Verhältnis des öffentlichen Schuldenstands zum BruNoinlandsprodukt: max. 60 %. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 4
Der Ausgangspunkt (3) Defizitverfahren Art. 126 AEUV sieht als Sicherungsmechanismus ein Verfahren im Fall von einem übermässigen Defizit vor. Ausarbeitung in der Gesetzgebung zum Stabilitätsund Wachstumspakt (siehe wiederum Chart 7/5). Eckwerte zum Ablauf: Bericht der Kommission an den ECOFIN (Finanzrat). Rat stellt fest, ob das Defizit übermässig ist. Rat macht Vorschläge zur Behebung, inkl. Zeitplan. Wenn das Land keine entsprechenden Massnahmen einleitet: Kommission empfiehlt Strafe, ECOFIN entscheidet darüber. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 5
Das Problem Fehlverhalten und Mechanismusversagen Fehlverhalten: Mit der Zeit hielten sich auch gewisse grosse Mitgliedstaaten nicht mehr an die Vorgaben. Versagen des Sicherungsmechanismus, da keine konsequente Anwendung der Vorschriften. Rs. C-27/04 Kommission gegen Rat (Plenum): Entscheidungen des Rates, die in den Empfehlungen der Kommission enthaltenen förmlichen Rechtsinstrumente nicht anzunehmen: mangels erforderliche Mehrheit des Rates keine anfechtbare Entscheidung (Klage unzulässig). Aussetzung des Defizitverfahrens durch den Rat und Änderung der von ihm zuvor an zwei Mitgliedstaaten (D, F) gerichteten Empfehlungen: nichtig. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 6
Problemlösungsversuche Rechtliche Mechanismen zur Lösung eines nicht rechtlichen Problems Problem: Vertrauen des Finanzmarktes in den Euro. Rechtliche Mittel? Vgl. z.b. die Wichtigkeit von Aussagen des EZB-Präsidenten... Lösungsversuche der EU: Kurzfristig: Notmassnahmen als Hilfe für Länder in Problemen. Verstärkung und zugleich Flexibilisierung des sog. Stabilitäts- und Wachstumspaktes von 1997. Langfristig: Vertragsrevision im vereinfachten Verfahren (die erste nach der Revision von Lissabon) um die Schaffung neuer, dauerhafter Instrumente zu ermöglichen. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 7
Kurzfris0ge Lösungsversuche (1) Nothilfe In 2010 Einführung eines provisorischen Rettungsschirmes zur Gewährung von Finanzhilfen für Länder am Abgrund. Zwei Elemente: Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM, siehe http://ec.europa.eu/economy_finance/eu_borrower/efsm/) als Gemeinschaftsinstrument. Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF, siehe http://www.efsf.europa.eu/about/index.htm) als zwischenstaatliche Zweckgemeinschaft. Praktische Handhabung im Rahmen der sog. Troika (Europäische Kommission, EZB und IMF). Beide Instrumente laufen bis Mitte 2013. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 8
Kurzfris0ge Lösungsversuche (2) Die no bail out -Klausel (Anfangs) Heiss diskutierte Frage: verletzen diese Massnahmen die sog. no bail out -Klausel? Art. 125 Abs. 1 AEUV: Die Union hayet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen GebietskörperschaYen oder anderen öffentlich- rechtlichen KörperschaYen, sons0ger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und trin nicht für derar0ge Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegensei0gen finanziellen Garan0en für die gemeinsame Durchführung eines bes0mmten Vorhabens. Ein Mitgliedstaat hayet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen GebietskörperschaYen oder anderen öffentlich- rechtlichen KörperschaYen, sons0ger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und trin nicht für derar0ge Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegensei0gen finanziellen Garan0en für die gemeinsame Durchführung eines bes0mmten Vorhabens. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 9
Kurzfris0ge Lösungsversuche (3) Anpassung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes Protokoll Nr. 12 plus diverse Verordnungen. Flexibilisierung: u.a. Berücksichtigung von Schuldenstand und Wachstum, Ausnahmen. Verstärkung durch 4 Instrumente des sog. six pack : 4 von 6 miteinander verbundenen Gesetzgebungsinstrumenten, in Kraft seit 13. Dezember 2011. Für alle Mitgliedstaaten, mit Sonderregeln für die Euroländer. Massnahmen, insbes.: Stärkere Haushaltskontrolle der Mitgliedstaaten (insbes. Europäisches Semester : Kontrolle der Budgetpläne der Mitgliedstaaten durch die Kommission; nicht bindende Empfehlungen) präventiver Arm. Verstärkung der Sanktionen im Defizitverfahren und bessere Durchsetzbarkeit korrektiver Arm. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 10
Kurzfris0ge Lösungsversuche (4) Reverse qualified majority voting (RQMV) Sanktionen: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sieht finanzielle Sanktionen für den Fall vor, dass sich die Mitgliedstaaten nicht an die Vorgaben halten. RQMV: Seit der Revision gilt neu, dass eine diesbezügliche Empfehlung der Kommission im Rat dann angenommen ist, wenn nicht 2/3 der Ratsmitglieder dagegen stimmen. (Zur Erinnerung: Die übliche Formel der qualifizierten Mehrheitsentscheidung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren verlangt eine besonders starke Mehrheit für einen Vorschlag.) Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 11
Langfris0ge Lösungsversuche (1) Vertragsrevision Im März 2011 einigt sich der Europäische Rat auf eine Vertragsrevision im vereinfachten Verfahren (Art. 48 Abs. 6 und 7 EUV; siehe Chart 2/27). Beschluss 2011/199/EU zur Einführung eines neuen Abs. 3 in Art. 136 AEUV: Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der ak0viert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro- Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen. Die qualifizierte Mehrheit dieser Mitglieder bes0mmt sich nach Ar0kel 238 Absatz 3 Buchstabe a. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 12
Langfris0ge Lösungsversuche (2) Permanenter Rettungsschirm: ESM Gestützt auf Art. 136 Abs. 3 AEUV Schaffung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM; http://www.esm.europa.eu/index.htm) durch einen völkerrechtlichen Vertrag der Euroländer. Intergouvernementale Finanzinstitution mit Sitz in Luxemburg. Eingeweiht am 8. Oktober 2012; läuft bis Mitte 2013 parallel zum früheren, provisorischen Mechanismus. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 13
Langfris0ge Lösungsversuche (3) ESM Quelle: Website des Bundesministeriums der Finanzen der BRD Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 14
Langfris0ge Lösungsversuche (4) Der Fiskalpakt Die Gewährung von Finanzhilfen im Rahmen des ESM ist an den sog. Fiskalpakt gekoppelt. Fiskalpakt - Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion: Im März 2012 durch 25 Mitgliedstaaten unterzeichnet (ohne VK und CZ); wiederum intergouvernementaler Vertrag. In Kraft seit 1. Januar 2013. Ziel: grössere Haushaltsdisziplin durch national verbindliche Schuldenbremsen und Sanktionsverfahren bei Verstoss gegen die Stabilitätskriterien (z.t. ähnliche Vorschriften wie im EU- Sekundärrecht). Soll innerhalb von 5 Jahren in das EU-Recht überführt werden. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 15
Langfris0ge Lösungsversuche (5) Urteil des Deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 12. September 2012 Klage des Vereins Mehr Demokratie plus 12 000 Einzelpersonen und der Fraktion Die Linke gegen den Beitritt von Deutschland zu ESM und Fiskalpakt. Urteil betr. ESM: Ja, unter Auflagen ( ja, aber ). Die Zahlungsverpflichtungen Deutschlands dürfen 190 Milliarden EUR nicht übersteigen. Der Bundestag muss jeweils jeweils beteiligt werden. Auch in einem System intergouvernementalen Regierens müssen die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages als Repräsentanten des Volkes die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen behalten. Urteil betr. Fiskalpakt: unproblematisch. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 16
Langfris0ge Lösungsversuche (6) Urteil des EuGH im Fall Pringle vom 27. November 2012 (Plenum) Verfassungsklage des irischen Parlamentariers Thomas Pringle wegen Bruchs von irischem und EU- Recht durch die Vertragsrevision und die Schaffung des ESM durch Irland. Urteil: Der Beschluss 2011/199/EU ist gültig. EU-Recht steht dem Abschluss eines Abkommens wie dem über dem ESM nicht entgegen. Das Recht eines Mitgliedstaats zu Abschluss und Ratifikation des ESM-Vertrags hängt nicht vom Inkrafttreten des Beschlusses 2011/199 ab [ist noch nicht in Kraft]. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 17
Ein kleiner Exkurs zu Pringle Der EuGH als fachlich schlechtes Gericht? Publizist Beat Kappeler in der NZZ: Die Schweiz sollte in ihren bilateralen Beziehungen den EuGH nicht als oberste Instanz akzeptieren (Systemdiskussion). Der EuGH verdreht Recht und ist voreingenommen. So segnete er den ESM ab. Doch in der Verfassung der EU, im Lissabonner Vertrag, steht klar das Wort «verboten» für jede Hilfe an Mitgliedsländer (Art. 125). Die einzige Ausnahme wird sogar ausdrücklich erwähnt, nämlich Katastrophen, die nicht vom Zutun der Länder herrühren. Griechenland und die anderen Hilfsbezüger ritten sich jedoch aus freien Stücken und aus eigenem Versagen heraus in ihre Krise. [...] Die obersten Richter bogen ihre Interpretation der EU-Verträge in skandalöser Weise dem politischen Willen der Finanzminister entlang zurecht. Was meinen Sie? Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 18
Und noch ein Seitenblick Das deutsche Bundesverfassungsgericht über das OMT-Programm der Europäischen Zentralbank OMT-Programm (Outright Monetary Transaction Scheme): Als Hilfestellung an gewisse Mitgliedländer sieht das Programm potenziell unbegrenzte Käufe von Anleihen überschuldeter Länder durch die EZB vor, wenn sich diese Länder einem Anpassungsprogramm unterwerfen. Bisher noch nie solche unlimitierte Käufe. Aber: Nur schon die Ankündigung beruhigte die Märkte... Mehrere Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht, z.z. hängig (Stand 13. Juni 2013). Es geht also weiter... Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 19
Ausblick Bewertung der Neuerungen? Hier nur eine, allgemeine Frage: Bewegt sich die EU in die Richtung eines Modells, in welchem zwar die Wirtschaftspolitik noch immer nicht wirklich vergemeinschaftet ist (blosse Koordination), wo aber die EU faktisch über die Durchsetzung bestimmt und die Mitgliedstaaten bloss Ausführende sind? Zum Schluss - zu beachten: Die Steuerpolitik betr. Einkommenssteuern ist unverändert Sache der Mitgliedstaaten, allerdings unter dem Vorbehalt des Primärrechts (Freizügigkeit von Personen und Dienstleistungen, Unionsbürgerschaft, staatliche Beihilfen). Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 20
Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Kontakt: r.c.tobler@law.leidenuniv.nl oder christa.tobler@law.leidenuniv.nl Zu den Tafeln (Charts): www.eur-charts.eu Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 21