Eva Nowottny und Michael Dahl mit Marina Bock und Janina Roettger Symbol Brokdorf

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SCHLESWIG-HOLSTEINISCHER LANDTAG Drucksache 17/ Wahlperiode

Transkript:

10 Brokdorf 01.06.2008 20:52 Uhr Seite 257 Eva Nowottny und Michael Dahl Symbol Brokdorf 257 Brokdorf Im Sommer 2001 jährte sich zum 25. Mal der Baubeginn des Atomkraftwerkes Brokdorf. Während der Planungsphase und des Baus dieses Meilers bestimmten unterschiedliche Interessen und Sichtweisen von Gruppierungen und Parteien die konfliktreiche Diskussion um das Projekt: Es ging unter anderem um die Durchsetzbarkeit wirtschaftspolitischer Interessen und demokratischer Mehrheitsentscheidungen, um ethische Kernfragen nach der Beherrschung von Großtechnologien und der Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen. Für Gegner wie Befürworter des Baus geriet das Atomkraftwerk schnell zum zentralen Symbol. Brokdorf besitzt auch heute noch massive Symbolkraft, denn für viele Menschen im Land beinhaltet dieser Konflikt ein wesentliches Stück Erinnerung. Für die Partei Bündnis 90/Die Grünen ist er außerdem ein Stück Identität. Nach einer Anfrage ihrer schleswigholsteinischen Landtagsfraktion nahm das Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte (IZRG) an der Universität Flensburg im Juli 2001 den Auftrag an, eine historische Ausstellung zum Thema Symbol Brokdorf Die Geschichte eines Konflikts zu erstellen. Im Rahmen ihres Lehramtsstudiums erarbeiteten vier Studierende in einer Projektarbeit in den Fachbereichen Geschichte und Kunst die im folgenden in Auszügen dargestellte Ausstellung. Die Arbeitsdauer betrug vier Monate, die Betreuung des Projekts oblag einem Professor des jeweiligen Fachbereichs an der Hochschule. Das Konzept der Ausstellung resultiert aus den facheigenen Vorgaben: Der Konflikt um Brokdorf ist ein Stück Zeitgeschichte. Der Anspruch einer historischen Einrichtung wie dem IZRG muss es sein, aus der Distanz und mit der wissenschaftlichen Methodik des Faches das Thema anzugehen. Der Vertrag zwischen der Partei und dem Institut beansprucht deshalb für die Erstellung der Ausstellung alle Freiheiten, bzw. ein politisch unabhängiges Arbeiten. Auch konnten die Studierenden aufgrund ihres Alters ohne eigene Erinnerung oder gar Konfliktteilnahme an die Arbeit gehen. Die Bau- und Betriebsgeschichte des KKW Brokdorf ist eine Konfliktgeschichte. Jeder Mensch nimmt Prozesse wie Ereignisse unterschiedlich wahr subjektive Erfahrungen, Interessen und Ansichten gehen ein. Differierende Sichtweisen prägten auch den Konflikt um Brokdorf. Dies gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für die Konfliktgruppen. Deshalb gibt die Ausstellung die Geschichte multiperspektivisch wieder, nimmt bewußt einerseits beispielsweise die Perspektive der Gegner, andererseits die der Betreiber oder der Polizisten ein. Auch liefert sie mit Exkursen in die Atomeuphorie der 50er und 60er Jahre, nach Wyhl und Gorleben, in einen Gerichtssaal und zur Gründungsphase der Grünen einen minimalen allgemeinen Rahmen, folgt ansonsten jedoch dem Prinzip der Chronologie. Ziel dieser fachdidaktisch begründeten Ausstellung ist außerdem den Betrachtern die eigene Urteilsbildung zu überlassen. Deshalb Eva Nowottny und Michael Dahl mit Marina Bock und Janina Roettger Symbol Brokdorf Die Geschichte eines Konflikts Dokumentation einer Ausstellung

10 Brokdorf 01.06.2008 20:52 Uhr Seite 258 258 Eva Nowottny und Michael Dahl Symbol Brokdorf bemüht sich die Ausstellung um Offenheit und bietet wenige Wertungen. Dort, wo Wertungen vorgenommen werden resultieren sie aus den Ansprüchen des Faches. Die Ausstellung setzt sich aus unterschiedlichen Ebenen und Stationen zusammen. Die zu jeder Station zugeordneten Texte liefern den jeweiligen Zusammenhang von Daten und Begebenheiten. Die Texte sind ausstellungskonform sehr kurz gehalten, und genügen den Ansprüchen der Offenheit, Sachlichkeit und Distanz. Die Ausstellungstafeln selber bieten authentische Anmutungen und vertiefen die schriftlich dargestellten Entwicklungen durch ausgewählte Dokumente und Berichte. Die folgende Dokumentation bildet die Texttafeln vollständig, die Ausstellungstafeln in Auszügen ab. 25 Jahre nach dem Beginn der Bauarbeiten eröffnete die schleswig-holsteinische Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam mit dem betreuenden Professor Dr. Uwe Danker im November 2001 die Ausstellung im Fraktionstrakt der Partei im Kieler Landeshaus. Nach einer zweimonatigen Verweildauer wurde sie im Februar und März 2002 in der Zentralen Hochschulbibliothek Flensburg ausgestellt. Als weitere Ausstellungsstationen sind für die Zeit vom 15. Mai bis 14. August 2002 die Fraktionsräume des Bündnis 90/Die Grünen-GAL im Hamburger Rathaus geplant, im Anschluss wird die Ausstellung im Reichstag in Berlin zu sehen sein. Schriftliche Nachfragen zur Ausstellung oder zur Arbeit mit Schülern zum Thema Brokdorf an: Eva Nowottny/Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte, Gottorfstr. 6b, 24837 Schleswig.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:52 Uhr Seite 259 Symbol Brokdorf Die Geschichte eines Konflikts Dokumentation einer Ausstellung von Eva Nowottny und Michael Dahl mit Marina Bock und Janina Roettger

10 Brokdorf 01.06.2008 20:52 Uhr Seite 260 1. Symbolträchtig: ein Baustellenschild Dieses Foto läßt sich aus vielen Perspektiven betrachten: Aus der Perspektive - der zukünftigen Kraftwerksbetreiber - der Landes- und Bundesregierung - der AKW-Gegner - der Polizei - der Parteien - der Anwohner - der Justiz - der Verbraucher - des Fotografen - des Betrachters.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:53 Uhr Seite 261

10 Brokdorf 01.06.2008 20:53 Uhr Seite 262 2. Atomkraft - die alternative Energie In den 50er Jahren decken Kohle und Öl den Energiebedarf der Bundesrepublik. Planer und Politiker begreifen indes rasch die steigende Abhängigkeit vom nur begrenzt verfügbaren Öl und den Förderländern als problematisch. Deshalb setzen die politischen Eliten auf Förderung und Weiterentwicklung der Kernenergie, die allen als unerschöpfliche, Ressourcen schonende Energiequelle der Wachstumsgesellschaft erscheint. Chemie-, Elektro- und Stahlindustrie versprechen sich enorme Investitionsmittel, neue Absatzmöglichkeiten und Gewinnchancen. Wissenschaft und Politik beschwören den technologischen Rückstand der Bundesrepublik. Die Ölkrise im Herbst 1973 wirkt wie ein Schock. Eine erste Reaktion ist die Drosselung des Energieverbrauchs, aber Politik und Wirtschaft setzen erst recht auf Kernenergie.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:53 Uhr Seite 263 (Quelle: Landesarchiv Schleswig) Das 1969 geplante Kernkraftwerk Brunsbüttel an der Elbe geht 1976 als erster schleswig-holsteinischer Reaktor ans Netz.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:53 Uhr Seite 264 3. Wyhl - der Atomkonsens bröckelt Ab 1972 formiert sich angesichts der Planung eines Atomkraftwerks im baden-württembergischen Wyhl zum ersten Mal massiver Protest. Der gesellschaftliche Energiekonsens beginnt zu bröckeln. Dabei steht die Furcht vor massiver Umweltzerstörung und den nicht absehbaren Gefährdungen der Menschen im Vordergrund. Das physikalische Kürzel GAU (größter anzunehmender Unfall) findet Eingang in die Alltagssprache. In Bürgerinitiativen organisiert, wählen Teile der Bevölkerung unterschiedliche Formen des Protests, um auf außerparlamentarischem Weg die demokratischen Entscheidungsprozesse zu beeinflussen. Am 18. und 23. Februar 1975 besetzen Kernkraftgegner den Bauplatz. Das Kernkraftwerk Wyhl wird nicht gebaut. Von den Erfolgen der Bürgerinitiativen geht bundesweit eine starke Signalwirkung aus.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:53 Uhr Seite 265 (Quelle: Archiv der sozialen Bewegungen, Freiburg)

10 Brokdorf 01.06.2008 20:53 Uhr Seite 266 4. Brokdorf - Ein großes Projekt Herbst 1973: Die schleswigholsteinische Landesregierung (CDU) veröffentlicht die Planung eines Industrieparks an der Elbe. Mit vorgesehen: der Bau mehrerer Kernkraftwerke. Auch ein Wiesengelände in der Gemeinde Brokdorf am Elbdeich soll ein Standort werden. Zukünftige Betreiber sind, mit gleichen Anteilen, die Nordwestdeutsche Kraftwerke AG (NWK) und die Hamburgischen Electricitätswerke (HEW). Viele Anwohner Brokdorfs und umliegender Gemeinden schließen sich in der Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe e.v. (BUU) zusammen. Ihr Ziel: die Verhinderung des großen Projekts. 20 600 Einsprüche beim 1. Erörterungstermin 1974 verdeutlichen den Willen zahlreicher Menschen, aktiv Stellung gegen den Bau zu beziehen.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:54 Uhr Seite 267 (Quelle: Der Spiegel, Nr. 30/ 1975, S. 40)

10 Brokdorf 01.06.2008 20:54 Uhr Seite 268 5. Mitten in der Nacht: Baubeginn Nach einem dreijährigen Planungsvorlauf beginnen am 26. 10. 1976 völlig überraschend und des Nächtens die Bauarbeiten am geplanten AKW in Brokdorf. Der Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, Gerhard Stoltenberg (CDU), hat den notwendigen Sofortvollzug am Abend zuvor unterschrieben. Lediglich die Chefredakteure einiger Zeitungen werden vertraulich vorinformiert. Die Gegner des Projekts fühlen sich überrumpelt, da Gerichtsentscheidungen zu Einspruchsverfahren gegen den Bau noch ausstehen. Der Landesvorsitzende der schleswigholsteinischen SPD, Günther Jansen, spricht von einer Nachtund Nebelaktion und wirft der Regierung Verschleierungspolitik vor. Gerhard Stoltenberg rechtfertigt sein Vorgehen mit der Ankündigung einiger AKW-Gegner, den Bauplatz wie in Wyhl besetzen zu wollen.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:54 Uhr Seite 269 (Quelle: Landesarchiv Schleswig) Das Atomgesetz schreibt für den Bau eines Atomkraftwerks ein langwieriges Genehmigungsverfahren vor, das aus mehreren Schritten besteht. Die erste Teilerrichtungsgenehmigung ist von besonderer Relevanz. Erst danach dürfen die Bauarbeiten beginnen.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:54 Uhr Seite 270 Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg (CDU): [ ] Wenn aber diese Form der Besetzung von Baustellen in Schleswig-Holstein praktiziert wird: Wie können wir dann noch rechtmäßiges, geordnetes Handeln im Interesse der Eigner und der Erfüllung der öffentlichen Aufgaben überhaupt wahrnehmen? [ ] Der Abgeordnete Dr. Rolf Olderog (CDU) am 16. 2. 77 vor dem schleswig-holsteinischen Landtag: [ ] Wenn wir in Brokdorf den Platz räumen würden, stünden dieselben Leute kurz darauf in Krümmel und bald danach in Brunsbüttel. Und anschließend geht es vielleicht nicht mehr um ein Kernkraftwerk, sondern um einen Flughafen. Und wenn wir das nicht erkennen, dann haben wir die Bedeutung dieses ganzen Aufwandes nicht richtig begriffen. [ ]

10 Brokdorf 01.06.2008 20:54 Uhr Seite 271 (Quelle: Landesarchiv Schleswig) Am Tag nach einer Demonstration: Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg besucht am 14.11.1976 den Bauplatz.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:54 Uhr Seite 272 6. 30.10.76: Macht den Bauplatz zur Wiese! Auf den Sofortvollzug reagieren Organisationen und Initiativen der Anti-Atomkraft-Bewegung: Am 30. 10. 1976, bereits vier Tage nach dem Sofortvollzug, ziehen etwa 6000 Demonstranten von Wewelsfleth am Elbdeich entlang zum Bauplatz. Die Kundgebung verläuft zunächst friedlich. Doch dann zerstören einige Demonstranten den Bauzaun an einer Stelle. Sie gelangen auf den Bauplatz, erklären ihn für besetzt und errichten Zelte. Anwohner bringen Decken und Verpflegung. Die Mehrheit der Demonstranten beobachtet das Geschehen von der Straße aus, viele sympathisieren mit den Besetzern. Polizisten und Werkschutz grenzen das Gelände mit Drahtrollen ab. Um 19.00 Uhr, nach Einbruch der Dunkelheit, räumt die Polizei den Bauplatz. Sie setzt dabei auch Tränengas ein. 52 Demonstranten werden festgenommen.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:56 Uhr Seite 273 (Quelle: Archiv Aktiv Hamburg)

10 Brokdorf 01.06.2008 20:56 Uhr Seite 274 Dieser Treckeranhänger steht bereits mehrere Wochen vor dem Baubeginn auf einer Wiese unweit vom Bauplatz entfernt. Nachdem etwa 1000 Personen auf dem Bauplatz sind,beginnt die Polizei mit der Abriegelung des besetzten Teils. Einige Demonstranten richten sich auf eine längere Verweildauer ein und errichten Zelte, Viele verlassen das Gelände mit Eibrechen der Dunkelheit wieder.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:56 Uhr Seite 275 (Quelle: Landesarchiv Schleswig)

10 Brokdorf 01.06.2008 20:56 Uhr Seite 276 7. 13.11.76: Eskalation Am 13. 11. 1976 kommen 30 000 AKW-Gegner zu einer Kundgebung am Bauplatz. Viele wollen friedlich gegen den Bau des AKW demonstrieren. Andere führen in ihren Autos Material zur gewaltsamen Besetzung mit sich. Die Polizei errichtet Straßensperren und durchsucht Autos und Busse. Dennoch kann sie nicht verhindern, dass einige Demonstranten erneut versuchen, den Bauzaun zu überwinden. Es folgen gewalttätige Auseinandersetzungen. Die Polizei setzt Wasserwerfer, Reizgas und Rauchbomben ein. Selbst mit Hubschraubern fliegen Polizisten Tränengaseinsätze, um eine Bauplatzbesetzung zu verhindern. Die staatliche Reaktion erfährt starke Kritik, vor allem deshalb, weil vielfach friedlich Demonstrierende betroffen sind.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:56 Uhr Seite 277 (Quelle: Landesarchiv Schleswig) (Quelle: Landesarchiv Schleswig)

10 Brokdorf 01.06.2008 20:56 Uhr Seite 278 (Quelle: Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn) (Foto: Arne Börnsen) Der Landesvorsitzende der schleswig-holsteinischen SPD, Günther Jansen, 1976.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:57 Uhr Seite 279 (Quelle: Landesarchiv Schleswig)

10 Brokdorf 01.06.2008 20:57 Uhr Seite 280 8. Baustopp - Bewegung gespalten Nach der Demonstration vom 13. 11. 1976 diskutieren die Atomkraftgegner über die Art ihrer Proteste. Vor allem die neuen kommunistischen Gruppen, sogenannte K-Gruppen, treten für gewaltsame Kämpfe ein. Die Mehrheit der Atomkraftgegener setzt auf gewaltfreien Protest. Am 9. 2. 1977 verlängert das Verwaltungsgericht Schleswig einen am 17. 12. 1976 vorläufig verhängten Baustopp für das Kernkraftwerk Brokdorf. Die Debatten um das weitere Vorgehen verschärfen sich: Einige Gruppen der Anti-AKW- Bewegung geben sich mit diesem Teilerfolg zunächst zufrieden, sie wollen das direkt in Brokdorf bestehende Demonstrationsverbot nicht brechen. Die K-Gruppen mißtrauen dem Rechtsweg. Sie plädieren für eine Kundgebung direkt am Bauplatz. Die Bewegung ist gespalten: die einen demonstrieren in Itzehoe, die anderen versuchen, zum Bauplatz vorzudringen.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:57 Uhr Seite 281 (Quelle: dpa) (Quelle: Landesarchiv Schleswig)

10 Brokdorf 01.06.2008 20:57 Uhr Seite 282 (Quelle: Archiv Aktiv Hamburg)

10 Brokdorf 01.06.2008 20:58 Uhr Seite 283 (Quelle: Archiv Aktiv Hamburg) (Quelle: Archiv Aktiv Hamburg)

10 Brokdorf 01.06.2008 20:58 Uhr Seite 284 9. Proteste - von friedlich bis gewalttätig Die Motivlagen der Kernkraftgegner sind unterschiedlich. Anrainer des zukünftigen Kraftwerks sorgen sich um ihre Gesundheit und Lebensgrundlage. Bürgerinitiativen wollen generell den Bau von Kernkraftwerken und die befürchteten Folgen durch ihre Proteste verhindern und die öffentliche Meinung beeinflussen. Für andere Gruppen steht nicht der Bau des Meilers, sondern der als Gegner begriffene Staat an sich im Vordergrund. Sie wollen gegen das politische System der Bundesrepublik vorgehen. Auch Weg und Mittel bleiben - innerhalb aller Lager - umstritten: vom rechtskonform-friedlichen Protest über gewaltfreie Aktionen bis hin zum strategisch-gewalttätigen Kampf. Die Verhinderung des Kernkraftwerks Brokdorf bildet das gemeinsame Ziel.

10 Brokdorf 01.06.2008 20:58 Uhr Seite 285 (Quelle: Landesarchiv Schleswig)

10 Brokdorf 01.06.2008 20:58 Uhr Seite 286 (Quelle: Archiv der sozialen Bewegungen Kiel)

10 Brokdorf 01.06.2008 20:58 Uhr Seite 287 (Quelle: Archiv der sozialen Bewegungen Kiel) (Quelle: Archiv der sozialen Bewegungen Hamburg)

10 Brokdorf 01.06.2008 21:00 Uhr Seite 288 (Quelle: Archiv Aktiv Hamburg)

10 Brokdorf 01.06.2008 21:00 Uhr Seite 289 (Quelle: Archiv Aktiv Hamburg) (Quelle: Archiv Aktiv Hamburg)

10 Brokdorf 01.06.2008 21:00 Uhr Seite 290 10. Inspiration - künstlerischer Protest Kunst ist politisch. Das Anwachsen der Anti-AKW-Bewegung und die erhebliche Präsenz des Themas Atomkraft in den Medien inspiriert Kulturschaffende - Professionelle und Laien. Sie schaffen Karikaturen und Bilder, Lyrik und Lieder, Anmutungen und Symbole. Ungezählte Beispiele der Auseinandersetzung mit Demonstrationsverboten, Polizeieinsätzen und Verhaltensweisen der Demonstranten bilden eine Szenekultur.

10 Brokdorf 01.06.2008 21:00 Uhr Seite 291 (Quelle: Archiv der sozialen Bewegungen Hamburg)

10 Brokdorf 01.06.2008 21:00 Uhr Seite 292 11. Die Grünen - eine Partei aus der Bewegung Seit Mitte der 70er Jahre versucht die bis dahin heterogene und lose verbundene Ökologiebewegung sich übergreifend zu organisieren. Als erste Zusammenschlüsse entstehen Bürgerlisten und kleine ökologische Parteien. Zwei unterschiedliche Richtungen kristallisieren sich heraus. Die Bunten Listen begreifen sich ausdrücklich als verlängerter Arm der Bewegung, die Grünen Listen binden eher wertkonservative Haltungen. In Schleswig-Holstein gründen AKW-Gegner im September 1977 in Wilster die Wählergemeinschaft zur Erhaltung der Wilster Marsch. Auch an anderen Orten bilden sich Kreisgruppen. Diese regionalen Gemeinschaften vereinigen sich im September 1978 in der Grüne Liste Schleswig-Holstein. Etwa ein Jahr später gründet sich bundesweit die Partei Die Grünen - sie ist ökologisch, basisdemokratisch und friedensbewegt. Das Abschalten aller Atomkraftwerke bleibt eine der zentralen Forderungen.

10 Brokdorf 01.06.2008 21:01 Uhr Seite 293 (Quelle: Archiv Aktiv Hamburg)

10 Brokdorf 01.06.2008 21:01 Uhr Seite 294 12. Ergebnisoffene Denkpause - das Moratorium Fast vier Jahre ruhen die Bauarbeiten. In dieser Zeit setzen auch SPD und CDU die politische Debatte um Brokdorf und die Kernenergie fort. Bereits 1976 fordert der schleswigholsteinische SPD-Landesvorsitzende, Günther Jansen, eine ergebnisoffene Denkpause und setzt damit eine harte, innerparteiliche Debatte in Gang. 1979 beschließt die schleswigholsteinische SPD den Ausstieg als Programmziel. Auch der Hamburger Bürgermeister, Hans-Ulrich Klose (SPD), setzt sich für ein neues Energiekonzept unter Verzicht auf das Kernkraftwerk Brokdorf ein, vornehmlich ökonomische Gründe bestimmen die Argumentation. Die beiden norddeutschen SPD- Landesverbände beziehen damit nicht nur Stellung gegen die schleswigholsteinische Landesregierung (CDU), sondern auch gegen die eigene Bundespartei und die Bundesregierung unter Helmut Schmidt (SPD), die den Bau von Brokdorf forcieren.

10 Brokdorf 01.06.2008 21:02 Uhr Seite 295 (Quelle: Hamburger Abendblatt, 22.2.1981) (Quelle: SPD-Archiv Schleswig-Holstein)

10 Brokdorf 01.06.2008 21:02 Uhr Seite 296 13. Entsorgungsfrage - von Brokdorf nach Gorleben Der 1977 vom Schleswiger Verwaltungsgericht verhängte Baustopp wird im Februar 1981 aufgehoben, obwohl die Endlagerungsfrage ungeklärt ist. Das Gericht akzeptiert die von Betreibern und Regierung angebotene Übergangslösung. Diese sieht das atomare Zwischenlager in den Salzstöcken von Gorleben als die atomrechtlichen Bestimmungen erfüllendes Konzept vor. Die ursprünglichen Planungen einer Wiederaufbereitungsanlage und eines Atommüllendlagers in Gorleben haben sich nicht realisieren lassen, weil Anwohner und Atomkraftgegner seit den ersten Probebohrungen massiv protestieren. Vom 3.5. bis 4.6.1980 besetzen sie einen der Bohrplätze und errichten das Hüttendorf Freie Republik Wendland. Niedersachsens Ministerpräsident, Ernst Albrecht (CDU), hält die Umsetzung schließlich für politisch nicht mehr durchsetzbar. Die Landesregierung verfolgt fortan die Planung eines Zwischenlagers.

10 Brokdorf 01.06.2008 21:02 Uhr Seite 297 (Quelle: Archiv der sozialen Bewegungen Hamburg)

10 Brokdorf 01.06.2008 21:02 Uhr Seite 298 14. 28.2.81: Demonstration trotzt Verbot Nach der Aufhebung des Baustopps plant die Anti-AKW-Bewegung für den 28. 2. 1981 eine Demonstration bei Brokdorf. Das Verbot der Kundgebung ergeht erst einige Stunden vor dem Beginn der Veranstaltung - 100 000 Atomkraftgegner akzeptieren es nicht. An einigen Kontrollpunkten finden gewalttätige Auseinandersetzungen mit Kernkraftgegnern statt, vor Ort treten die gefürchteten Ausschreitungen, bis auf wenige Ausnahmen, zunächst nicht ein. Doch nach einem Übergriff mehrerer Demonstranten auf einen Polizisten schlägt die Stimmung um. Für viele wird der Rückweg vom Baugelände zur Flucht. Polizisten treiben die Menschen vor sich her, Hubschrauber fliegen im Tiefflug über sie hinweg. 1985 wird das Bundesverfassungsgericht das für diesen Tag ausgesprochene Demonstrationsverbot für verfassungswidrig erklären.

10 Brokdorf 01.06.2008 21:02 Uhr Seite 299 (Quelle: Archiv der sozialen Bewegungen Hamburg)

10 Brokdorf 01.06.2008 21:02 Uhr Seite 300 (Quelle: Landesarchiv Schleswig) (Quelle: Landesarchiv Schleswig)

10 Brokdorf 01.06.2008 21:02 Uhr Seite 301 (Quelle: Landesarchiv Schleswig) (Quelle: Landesarchiv Schleswig)

10 Brokdorf 01.06.2008 21:02 Uhr Seite 302 15. Gerichtliches Nachspiel Brokdorf-Prozesse In den Jahren während des Konflikts um Brokdorf ergehen wiederholt Bußgeldbescheide an AKW-Gegner. Als Grund geben die Behörden häufig das für Kundgebungen herrschende Versammlungsverbot oder die Teilnahme an einer nicht angemeldeten Demonstration an. In einigen Fällen kommt es zu einer Gerichtsverhandlung, selten zur Verurteilung. Die erschreckende Brutalität der Tat lenkt das Interesse der Öffentlichkeit auf einen dieser sogenannten Brokdorf- Prozesse : Ein Augenzeuge fotografiert am 28. 2. 1981 drei Demonstranten und einen in einen Wassergraben gerutschten Polizisten. Während zwei der Männer mit einem Knüppel und einem Spaten auf den nun Wehrlosen einschlagen, hindert ein Dritter ihn durch Festhalten am Entkommen. Nach der Erstveröffentlichung eines der Fotos im Stern beginnt die Staatsanwaltschaft mit einer umfangreichen Fahndung und ermittelt zwei der Täter. Die Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe verurteilt die Angeklagten am 13. 5. 1982 zu drei und fünfeinhalb Jahren Haft. Anfang Juli erfolgt die Entlassung des Markus M., die des Michael D. im Februar des folgenden Jahres.

10 Brokdorf 01.06.2008 21:02 Uhr Seite 303 (Quelle: Landesarchiv Schleswig) Komitee für Grundrechte und Demokratie e.v.: [ ] In dieser Phase ereignete sich auch ein Vorfall, den ein Photoreporter im Bild festhielt: Ein Polizist, der einigen Demonstranten nachsetzt, fiel in einen Wassergraben und wurde von zwei Jugendlichen mit Spaten und Stock verprügelt, während ein dritter ihn festhielt. Wenn dies auch ein Einzelfall war und umgekehrt einzelne Polizisten ähnliche Übergriffe zur Last zu legen sind, entschuldbar wird ein solches Verhalten nicht. Für alle in der Anti-AKW-Bewegung, denen es um eine menschlichere Umwelt zu tun ist, sollte dieses Bild Anlass bieten, über die Frage des Verhältnisses der Mittel nachzudenken. Was nicht im Bilde steht, aber hinzugefügt werden muss, ist ein doppeltes (es wurde uns glaubwürdig berichtet, keiner unserer Beobachter war bei dem Vorfall anwesend): Zum einen, dass andere Demonstranten den Polizisten rasch zu sich hochzogen und der Sanitätsgruppe übergaben, die ihn ärztlich versorgte, zum anderen, dass dieses Verschwinden eines Polizisten auf der Gegenseite zu dem Gerücht führte, die Demonstranten hätten eine Geisel genommen. [ ]

10 Brokdorf 01.06.2008 21:02 Uhr Seite 304 16. Polizeieinsatz eine weitere Perspektive Der Dienst in Brokdorf stellt hohe Anforderungen an die Polizisten: Schutz des Eigentums der Kraftwerkseigner, die Verhinderung von Rechtswidrigkeiten und zugleich die Sicherung eines friedlichen Demonstrationsablaufs - eine nicht selten schwer zu lösende Aufgabe. Ihre Verpflichtung, die politischen Entscheidungen des Rechtsstaates gegen das erklärte Ziel vieler Demonstranten durchzusetzen, lässt die Polizisten in deren Augen von vorn herein als Gegner erscheinen. Bei dem Versuch, die gestellten Aufgaben zu lösen, unterlaufen der Polizei auch Fehler. Dadurch in schlechtes Licht gerückt, erleidet ihr Ansehen bei Teilen der Bevölkerung Schaden. Daraufhin verstärkt die Polizei ihr Bemühen, um Verständnis zu werben und das verloren gegangene Vertrauen zurück zu gewinnen.

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10 Brokdorf 01.06.2008 21:02 Uhr Seite 308 17. Tschernobyl - keine Kehrtwende Am 26. 4. 1986 ereignet sich im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl der bislang schwerste Unfall in der Geschichte der Kernenergie. Es ist ein Super-GAU. Durch einen Reaktorbrand tritt radioaktive Strahlung in großen Mengen aus. Der Prozess gerät zunächst vollständig außer Kontrolle. Tage darauf messen deutsche Behörden eine bis zu 39-fach erhöhte Radioaktivität in der Luft. Tiere und Lebensmittel in Europa sind - zum Teil auf lange Zeit - verseucht.die Atomkraftgegner sehen sich darin bestätigt, dass absolute Sicherheit der Kernreaktoren unmöglich ist. Sie fordern den sofortigen Ausstieg. Die Bundesregierung verweist auf die hohen technischen Sicherheitsstandards deutscher Kernkraftwerke. Auch das AKW Brokdorf, das kurz vor seiner Fertigstellung steht, gerät wieder in die Diskussion. Die Landesregierung beharrt auf ihrer Planung, das Atomkraftwerk im selben Jahr ans Netz gehen zu lassen.

10 Brokdorf 01.06.2008 21:03 Uhr Seite 309 (Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung) (Foto: Lehnartz) Helmstedt, 2. Mai 1986: Bundesgrenzschutzbeamte nehmen Strahlenmessungen an einem PKW aus Polen vor.

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10 Brokdorf 01.06.2008 21:04 Uhr Seite 312 18. 7.6.1986 - ein letzter Versuch An einer Großdemonstration am 7.6.1986 beteiligen sich über 40 000 Menschen. Unter dem Eindruck der Katastrophe von Tschernobyl unternehmen sie in ihren Protesten einen letzten Versuch, die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Brokdorf zu verhindern. An weiträumigen Straßensperren durchsuchen Polizisten Autos und Busse nach Waffen. Deshalb ist es vielen nicht möglich, den Kundgebungsort rechtzeitig zu erreichen. In Kleve, einem nicht weit vom AKW entfernten Kontrollpunkt, tobt eine wahre Schlacht zwischen Gewalttätern und Polizisten. Die eigentliche Demonstration am Baugelände verläuft weitgehend friedlich. Dennoch verdrängt - wie so oft in der Geschichte des Konflikts um Brokdorf - die Frage friedlich - gewalttätig das Anliegen der Demonstranten und das eigentliche Thema der Gefahren der Kernkraftnutzung.

10 Brokdorf 01.06.2008 21:04 Uhr Seite 313 (Quelle: Landesarchiv Schleswig)

10 Brokdorf 01.06.2008 21:04 Uhr Seite 314 19. Überreaktion- Der Hamburger Kessel In Hamburg demonstrieren am 8. 6. 1986 etwa 800 Personen gegen die am Vortag durch die Polizei verhinderte Anreise nach Brokdorf. Um 12 Uhr treiben Polizisten die Demonstranten zusammen und halten sie fortan in einem engen Ring fest. Erst gegen 4 Uhr morgens kommen die letzten frei nach 16 Stunden der Einkesselung! Innensenator und Bürgermeister der Stadt Hamburg sehen sich danach herber Kritik ausgesetzt. Zwar rechtfertigt die Polizei ihre Vorgehensweise mit zu erwartenden Ausschreitungen - bei einigen Eingeschlossenen haben sich unter anderem Tränengasflaschen, Steinschleudern und Messer gefunden doch steht dieser Polizeieinsatz in Ausmaß und hinsichtlich der Folgen für die einzelnen Demonstranten für eine Unverhältnismäßigkeit der Mittel. Diese Überreaktion ist als Ausdruck steigender Nervosität angesichts der erbitterten Auseinandersetzungen zu werten. 1991 verurteilt das Landgericht Hamburg verantwortliche Polizeiführer zu hohen Geldstrafen.

10 Brokdorf 01.06.2008 21:05 Uhr Seite 315 (Quelle: die tageszeitung, 24.10.1999)

10 Brokdorf 01.06.2008 21:05 Uhr Seite 316 20. Nennleistung 1395 Megawatt - Brokdorf aktuell Nach der Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes Brokdorf am 14. 10. 1986 nehmen die Demonstrationen ab. Der Protest der Anti-AKW- Bewegung richtet sich seitdem gegen die Atommülltransporte in die Zwischenlager und Wiederaufbereitungsanlagen - Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten sind unvermeidbar. Das Kernkraftwerk arbeitet vergleichsweise störungsarm. Der von der SPD- Landesregierung 1988 angestrebte Ausstieg scheitert, doch die Entwicklung alternativer Energiequellen im nördlichsten Bundesland wird seit 1996 mit dem grünen Koalitionspartner - vorangetrieben. 2001 vereinbart die rot-grüne Bundesregierung mit den Energiekonzernen bis 2030 den endgültigen Ausstieg aus der Kernenergie. Eine Verkürzung der Laufzeiten existierender Kernkraftwerke ist nicht erkennbar. Brokdorf wird voraussichtlich erst 2020 vom Netz gehen.

10 Brokdorf 01.06.2008 21:05 Uhr Seite 317 (Quelle: Statistisches Landesamt Schleswig-Holstein) (Quelle: Presse- und Informationsdiendt der Bundesregierung; Foto: Stutterheim) Stromversorgung in Schleswig-Holstein Berlin, 11.6.2001: Bundesregierung und Energieversorger unterzeichnen den Aussteig aus der Atomenergie. Zu sehen (v.l.): Dr. Manfred Timm (HEW), Gerhard Goll (Energie Baden-Württemberg), Ulrich Hartmann (E.ON), Bundeskanzler Gerhard Schröder, Dr. Dietmar Kuhnt (RWE), Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Dr. Werner Müller, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.

10 Brokdorf 01.06.2008 21:05 Uhr Seite 318 21. Symbolkräftig - KKW Brokdorf Der Konflikt um das Kernkraftwerk Brokdorf besaß von Beginn an eine starke Symbolkraft. Das ist die Ursache für die besondere Schärfe der Auseinandersetzungen um den Bau. Treibenden Akteuren in Wirtschaft und Politik ging es vorrangig um die Frage der Durchsetzbarkeit wirtschaftspolitischer Interessen und demokratischer Mehrheitsentscheidungen. - Handlungsspielraum und Selbstverständnis von Wirtschaft und Staat sollten gewahrt bleiben. Kernenergiegegner sahen in Brokdorf das Symbol für ihren Kampf gegen die Kernenergie und den befürchteten Atomstaat mit seinen Folgen für die Menschen. - Die Verhinderung dieses Kernkraftwerks galt als letzte Chance zum Stopp der Entwicklung. Das KKW Brokdorf wurde gebaut und in Betrieb genommen. Doch nach diesem Konflikt gelten weitere Projekte dieser Art als politisch nicht mehr durchsetzbar. Das Atomkraftwerk Brokdorf - ein Pyrrhussieg?

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10 Brokdorf 01.06.2008 21:05 Uhr Seite 320 320 Autorinnen und Autoren in Demokratische Geschichte 14 Dr. Ingrid Bohn, Historikerin, Kiel Prof. Dr. Enno Bünz, Historiker, Leipzig Michael Dahl, Eva Nowottny, Marina Bock, Janina Roettger, Studierende der Universität Flensburg Prof. Dr. Uwe Danker, Historiker, Kronshagen Frank Hethey, M.A., Historiker, Bremen Nils Köhler, M.A., Historiker, Bargfeld- Stegen Prof. Karl Christian Lammers, Historiker, Kopenhagen Sebastian Lehmann, M.A., Historiker, Kiel Rüdiger Möller, M.A., Historiker, Wesselburen Prof. Dr. Thomas Riis, Historiker, Kiel Hermann Schwichtenberg, Polizeibeamter, Münsterdorf Gesellschaft für Politik und Bildung Schleswig- Holstein e.v. Veröffentlichung des Beirats für Geschichte Herausgegeben von: Claasen, Birte, geb. 1973 in Westerland/ Sylt, Doktorandin an der Universität Flensburg. Stipendiatin der Friedrich- Ebert- Stiftung. Seit 2000 Dissertationsprojekt Heimat-, Regional- und Landesgeschichte im Geschichtsunterricht an Schulen Schleswig- Holsteins- Integrative Untersuchung und Einordnung. Danker, Uwe, Prof. Dr. phil., geb. 1956 in Westerland/ Sylt, Professor für Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Universität Flensburg. Direktor am Institut für schleswig- holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte. Jessen- Klingenberg, Manfred, Prof. Dr. phil, geb. 1933 in der Landschaft Stapelholm, Professor für Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Christian- Albrechts- Universität zu Kiel. Köhler, Nils, M.A., geb. 1971 in Springe am Deister, Doktorand an der Universität Flensburg. Stipendiat der Konrad- Adenauer- Stiftung. Seit 1999 Dissertationsprojekt Zwangsarbeiter im Regierungsbezirk Lüneburg. Lehmann, Sebastian, M.A., geb. 1971 in Hamburg, Doktorand an der Universität Flensburg. Stipendiat der Friedrich- Ebert- Stiftung. Wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für schleswig- holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte. Seit 2000 Dissertationsprojekt Kreisleiter der NSDAP in Schleswig- Holstein. Schulte, Rolf, Dr. phil., geb. 1950 in Mannheim, Oberstudienrat an einem Gymnasium. Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Christian- Albrechts- Universität zu Kiel.