ANA Postfach 11 01 64 30856 Laatzen An unsere Mitgliedsunternehmen ANA Recht aktuell 07/2012 Laatzen, 13.12.2012 +49 (0) 511 98490-34 wichert@chemienord.de Sehr geehrte Damen und Herren, in unserem ANA Recht aktuell berichten wir über lesenswerte Urteile zu den folgenden Themen: 1. Urlaubsansprüche verfallen spätestens nach 15 Monaten nach Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres! 2. Unverzüglichkeit der außerordentlichen Kündigung nach Zustimmung des Integrationsamtes 3. Teilnahme an einer Betriebsversammlung ist Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes Im Einzelnen: 1. Urlaubsansprüche verfallen spätestens nach 15 Monaten nach Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres! BAG, Urteil vom 7. August 2012-9 AZR353/10 Seit der Rechtsprechungsänderung, ausgelöst durch das mittlerweile allseits bekannte EUGH-Urteil vom 20.01.2009 (Schulz-Hoff) im Urlaubsrecht, dem sich das BAG sodann ohne Gewährung von Vertrauensschutz angeschlossen hatte, verfällt solcher Urlaub nicht mehr, den der Arbeitnehmer auf Grund von Arbeits- Seite 1 von 8
unfähigkeit nicht bis zum Ende des Übertragungszeitraums des 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG nehmen kann. Seitdem war offen, 1. ob auch in einem als ruhend vereinbarten Arbeitsverhältnis Urlaubsansprüche entstehen bzw. der Höhe nach auf "Null" anzupassen sind und 2. ob sich über mehrere Bezugszeiträume übertragene Urlaubsansprüche unendlich kumulieren. Mit beiden Fragen hatte sich der Neunte Senat in der Sache 9 AZR 353/10, deren Verkündung bereits für den Herbst 2011 anberaumt war, auseinanderzusetzen. Kurzerhand wurde der Termin unter Verweis auf die anstehenden Entscheidungen des EuGH in Sachen KHS AG (C-214/10, BB 2012, 59 m. BB- Komm. Fuhlrott) und Maribel Dominguez (C-282/10) aufgehoben. Dieser stellte in der Sache KHS AG fest, dass es zur Verwirklichung des Anspruchs auf den Jahresurlaub nicht erforderlich sei, dass sich Urlaubsansprüche unbegrenzt ansammeln. Insoweit "nuanciere" er seine Schlussfolgerungen aus der Schultz-Hoff-Entscheidung. Eine nationale Regelung könne den Bestand von Urlaubsansprüchen, die für Zeiten von Arbeitsunfähigkeit erworben wurden, zeitlich begrenzen, wobei eine solche Frist die Dauer des Bezugszeitraums deutlich überschreiten müsse. Die vorgelegte Regelung aus einem MTV der Metall- und Elektroindustrie, nach welcher der Urlaub 15 Monate nach Ablauf des Urlaubjahres erlischt, hielt er für angemessen. In den darauffolgenden Monaten befassten sich Rechtsprechung und Literatur mit Verfallregelungen von neun bis zu 18 Monaten. Auch die Auswirkungen des ruhenden Arbeitsverhältnisses auf den Urlaubsanspruch wurden diskutiert. Eine überwiegende Mehrheit war sich zutreffend einig: Beim Ruhen wird das arbeitsvertragliche Synallagma derart verändert, dass Urlaubsansprüche nicht entstehen bzw. der Höhe nach auf "Null" anzupassen sind. Am 7.8.2012 wurde die Sache endlich entschieden. Sachverhalt: Die als schwerbehindert anerkannte Klägerin war seit 2004 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses am 31.3.2009 arbeitsunfähig erkrankt. Zudem bezog sie eine Erwerbsminderungsrente, womit ihr Arbeitsverhältnis gemäß 33 Abs. 2 S. 5 und 6 TVöD seit 1.1.2005 ruhte. Vor dem Arbeitsgericht beanspruchte sie Urlaubsabgeltung für 149 Tage. Die Beklagte berief sich auf 26 Abs. 2c TVöD (Zwölftelungsregelung), wonach während des Ruhens des Arbeitsverhältnisses keine Urlaubsansprüche entstehen. In der Berufungsinstanz wurde der Klägerin ein Urlaubsabgeltungsanspruch für 106 Tage zugesprochen, woraufhin die Beklagte Revision einlegte. Entscheidung: Der Neunte Senat hat entschieden, dass die Ansprüche auf den gesetzlichen Erholungs- und den Zusatzurlaub gem. 125 SGB IX auch Seite 2 von 8
entstehen, wenn der Arbeitnehmer eine befristete Erwerbsminderungsrente bezieht und eine tarifliche Regelung daran das Ruhen des Arbeitsverhältnisses knüpft. Er hat sich zwar mit den Gegenargumenten auseinandergesetzt (nach juris Rn. 14 ff. der Entscheidungsgründe), ist ihnen aber nicht gefolgt: Die Zwölftelungsregelung sowie die Annahme, dass Urlaubsansprüche im ruhenden Arbeitsverhältnis nicht entstehen, wenn das Ruhen auf eine Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers zurückzuführen ist, seien mit der in 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG angeordneten Unabdingbarkeit des gesetzlichen Mindesturlaubsanspruchs nicht vereinbar. Arbeitnehmer können nicht durch kollektiv- oder individualvertragliche Abreden aus dem Geltungsbereich des BUrlG ausgenommen und damit dem Schutz der 13 i.v. m. 1, 2, 3 BUrlG entzogen werden. Auch im ruhenden Arbeitsverhältnis würde "an sich" eine Arbeitsleistung geschuldet; das Ruhen führe nicht zu einer Reduzierung auf "Null". Für die Umrechnungsformel, nach der sich die Höhe des Urlaubsanspruchs nach dem Umfang der Arbeitspflicht richtet, sei damit kein Raum. Das Fehlen einer Kürzungsregelung im PflegezeitG zeige, dass aus den 17 BEEG, 4 Abs. 1 ArbPlSchG kein allgemeiner Rechtsgedanke zu entnehmen ist, dass im ruhenden Arbeitsverhältnis kein Urlaub entsteht. Dieser Wermutstropfen ist aber in Anbetracht der weiteren positiven Feststellungen des Urteils hinnehmbar: Denn die trotz des Ruhens entstandenen Urlaubsansprüche verfallen 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres. Dies folge aus der gebotenen "modifizierten" unionsrechtskonformen Auslegung von 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG. Diese habe einerseits das mit Art. 7 Abs. 1 ArbeitszeitRL verfolgte Ziel zu gewährleisten. Andererseits habe sie den Willen des nationalen Gesetzgebers zu beachten, Urlaubsansprüche zu begrenzen und zeitlich an das Urlaubsjahr zu binden. Ergebnis einer solchen richterlichen Rechtsanwendung könne auch die Festlegung einer konkreten Zahl sein. In Anwendung dieser Grundsätze ist 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG unionsrechtskonform so auszulegen, dass gesetzliche Urlaubsansprüche vor Ablauf eines Zeitraums von 15 Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahres nicht erlöschen, wenn der Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen an seiner Arbeitsleistung gehindert war. Sie gehen jedoch mit Ablauf des 31. März des zweiten Folgejahres unter, so das BAG. Der Übertragungszeitraum von 15 Monaten wurde vom EuGH als angemessen gebilligt und überschreite den Bezugszeitraum deutlich. Eine weitere Privilegierung des einmal übertragenen Urlaubs sei insoweit nicht geboten. Bewertung: Die Begrenzung der Urlaubsansprüche auf 15 Monate bringt Rechtssicherheit in das seit nunmehr fast vier Jahren aus den Fugen geratene Seite 3 von 8
Urlaubsrecht: Arbeitgeber langzeiterkrankter Beschäftigter können ihr Kostenrisiko kalkulieren. Wegen durchgängiger Arbeitsunfähigkeit übertragener Resturlaub aus dem Urlaubsjahr 2010 ist demnach mit Ablauf des 31.03.2012 erloschen. Resturlaub aus dem Urlaubsjahr 2011 erlischt mithin mit Ablauf des 31.03.2013. Der zusätzlichen Vereinbarung kollektiv- oder individualvertraglicher Regelungen bedarf es nicht, da diese lediglich deklaratorischen Charakter hätten. Ggf. aber müssen Klauseln, die einen Übertragungszeitraum von weniger als 15 Monaten vorsehen, angepasst werden. Ob Regelungen, die einen Zeitraum von 13 und 14 Monaten vorsehen, unionsrechtlich zulässig sind, hat der Senat ausdrücklich offengelassen - jedenfalls überschreiten beide Zeiträume die Länge eines Kalenderjahres. 2. Unverzüglichkeit der außerordentlichen Kündigung nach Zustimmung des Integrationsamtes BAG, Urteil vom 19.April 2012-2 AZR 118/11- Eine fristlose Kündigung ist nur wirksam, wenn sie innerhalb von 2 Wochen nach Kenntnis der kündigungsrelevanten Gründe ausgesprochen wird (= Erklärungsfrist), mithin dem zu kündigenden Arbeitnehmer zugeht. Ist der Arbeitnehmer allerdings schwerbehindert oder diesen gleichgestellt, muss vor Ausspruch der Kündigung erst noch das Integrationsamt der Kündigung zustimmen. Da dies kaum innerhalb der 2wöchigen Erklärungsfrist des 626 BGB möglich ist, bestimmt 91 Abs. 5 SGB IX, dass eine fristlose Kündigung auch noch nach Ablauf der 2-wöchigen Erklärungsfrist ( 626 II S. 1 BGB) ausgesprochen werden kann, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung des Integrationsamtes ausgesprochen wird. Mit den Anforderungen an diese Unverzüglichkeit der Kündigungserklärung nach Zustimmung des Integrationsamtes hatte sich das BAG in seiner Entscheidung vom 19.04.2012 zu befassen. Sachverhalt: Der schwerbehinderte Kläger war bei der Beklagten als Lagerist beschäftigt. Durch Beauftragung einer Detektei wurden der Beklagten zwei Vorfälle bekannt, bei denen der Kläger Ware ohne Kauf- und Auslieferungsunterlagen an Dritte ausgehändigt hatte. Daraufhin beantragte die Beklagte mit Schreiben vom 8. Juni beim zuständigen Integrationsamt die Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Parteien, welches am 9. Juni beim Integrationsamt einging. Vor Ablauf der 2-wöchigen Entscheidungsfrist erkundigte sich der Arbeitgeber telefonisch beim Integrationsamt nach einer Bescheidung des Antrags. Der Arbeitgeber behauptet, dass das Integrationsamt ihm mitgeteilt hätte, die Entscheidung sei bereits auf dem Postweg. Mit Schreiben vom 24. Juni, welches am 30. Juni zur Post gegeben wurde und der Beklagten am 1. Juli zuging, teilte das Integrationsamt mit, dass es eine Entscheidung innerhalb der Zwei-Wochen-Frist nicht getroffen habe und deshalb die Zustimmung als erteilt gelte. Mit Schreiben vom 2. Juli, dem Kläger Seite 4 von 8
zugegangen am 3. Juli, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich fristlos. Nach Auffassung des klagenden Arbeitnehmers ist der Ausspruch der Kündigung nicht unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung erfolgt. Die Kündigungsschutzklage hatte sowohl vor dem Arbeitsgericht als auch vor dem LAG zunächst Erfolg. Entscheidung: Das BAG hielt dagegen die Revision des Arbeitgebers für begründet und verwies die Sache an das LAG zurück. Aufgrund der vom LAG getroffenen Feststellungen stehe noch nicht fest, ob die Beklagte die Kündigung vom 2. Juli unverzüglich i. S. v. 91 Abs. 5 SGB IX erklärt hat. 1. Erteilung der Zustimmung - Erteilt ist die Zustimmung des Integrationsamtes - wenn die positive Bescheidung der Behörde innerhalb der 2-Wochen-Frist getroffen und der antragstellende Arbeitgeber hierüber in Kenntnis gesetzt wurde oder - wenn eine solche Entscheidung innerhalb der Frist des 91 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nicht getroffen worden ist, da insoweit die Zustimmung als erteilt gilt. 2. Unverzüglichkeit der Kündigungserklärung - Unverzüglich bedeutet ohne schuldhaftes Zögern. Schuldhaftes Zögern liegt vor, wenn das Abwarten durch die Umstände des Einzelfalls nicht geboten ist. Insoweit kommt es auf eine verständige Würdigung der beiderseitigen Interessen an. Dabei ist nicht allein die objektive Sachlage entscheidend. Solange derjenige, dem unverzügliches Handeln abverlangt wird, nicht weiß, dass er die betreffende Rechtshandlung vornehmen muss, oder aus vertretbaren Gründen angenommen hat, er muss sie noch nicht vornehmen, liegt kein schuldhaftes Zögern vor, so die Bundesrichter. 3. Anforderungen an den Arbeitgeber - Soweit die - vom LAG nicht näher erörterte - Behauptung der Beklagten zutreffe, wonach sie bei ihrer telefonischen Nachfrage vom Integrationsamt die Information erhalten habe, eine Entscheidung sei auf dem Postweg, habe sie mit dem Ausspruch der Kündigung bis zum Zugang der Entscheidung abwarten dürfen. Unter diesen Umständen habe sie darauf vertrauen dürfen, dass die Zustimmung nicht fingiert wurde. Soweit nämlich das Integrationsamt innerhalb der 2- Wochen- Frist entschieden und diese Entscheidung zur Post gegeben hat, tritt eine Zustimmungsfiktion nicht ein. Weiß der Arbeitgeber oder darf er zumindest annehmen, dass das Integrationsamt vor Ablauf der Frist eine Entscheidung getroffen habe, deren Inhalt er aber nicht kennt, muss er nicht riskieren, eine Kündigung ohne die erforderliche Zustimmung auszusprechen. Seite 5 von 8
Zwar ist es nach Ansicht des BAG eine Obliegenheit des Arbeitgebers, sich beim Integrationsamt zu erkundigen, ob eine fristgerechte Entscheidung getroffen worden ist, da andernfalls die Zustimmung fingiert wird. Dem Arbeitgeber ist aber darüber hinaus nicht zuzumuten, auch auf eine Information über den Inhalt der Entscheidung zu drängen, zumal das Integrationsamt zu einer solchen Auskunft nicht verpflichtet ist. Das LAG hat daher zu klären, ob die Behauptung des Arbeitgebers hinsichtlich das Aussage des Integrationsamtes tatsächlich zutrifft. Bewertung: Die Entscheidung macht den Reformbedarf im SGB IX deutlich. Während der Arbeitgeber dafür sorgen muss, dass der Antrag auf Zustimmung zur Kündigung beim Integrationsamt vor Ablauf der Zwei-Wochen-Frist dort eingeht, hat das Integrationsamt seine Zwei-Wochen-Frist für die Rückantwort bereits eingehalten, wenn eine Entscheidung innerhalb dieser Frist getroffen wurde, d. h. den Machtbereich der Behörde bspw. durch Aufgabe zur Post verlässt. Der Arbeitgeber muss sich sodann nach einer fristgerechten Entscheidung erkundigen um so feststellen zu können, ob die Zustimmung möglicherweise fingiert ist. Eine solche vom BAG anerkannte Obliegenheit des Arbeitgebers lässt sich aus dem Gesetz nicht unmittelbar herleiten. Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung bietet sich folgendes Verfahren an: Die Zustimmung des Integrationsamtes zur außerordentlichen Kündigung ist innerhalb von zwei Wochen nach Kenntniserlangung von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen zu beantragen ( 91 Abs. 2 SGB IX). Ab dem Tag des Antragseingangs hat das Integrationsamt für seine Entscheidung zwei Wochen Zeit. Versäumt das Integrationsamt diese Frist, wird die Zustimmung fingiert ( 91 Abs. 3 SGB IX). Der Arbeitgeber hat sich beim Integrationsamt zu erkundigen, ob es innerhalb dieser Frist eine Entscheidung getroffen hat. Wird dies vom Integrationsamt bejaht, kann der Arbeitgeber die Entscheidung abwarten, ohne den Inhalt der Entscheidung erfragt zu haben. Nach (ausdrücklicher oder fingierter) Erteilung der Zustimmung muss die Kündigung unverzüglich erklärt werden ( 91 Abs. 5 AGB IX). 3. Teilnahme an einer Betriebsversammlung ist Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes OVG Münster, Urteil 10. Mai 2011-4 A 1403/08 - Sachverhalt: Die Klägerin ist ein Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs mit 2000 Arbeitnehmern. Der Betriebsrat führt in der Regel zwei bis drei Mal im Jahr jeweils sieben Betriebsversammlungen durch. Sie finden an den verschiedenen Standorten zu unterschiedlichen Uhrzeiten statt. Dem Dienstplan liegt dabei die Annahme zugrunde, dass es sich bei den Zeiten der Seite 6 von 8
Teilnahme an Betriebsversammlungen um Arbeitszeit im Sinne des ArbZG handelt. Die Klägerin beantragte bei der zuständigen Bezirksregierung (Bez- Reg) einen Verwaltungsakt mit dem Inhalt, festzustellen, dass die Teilnahme an Betriebsversammlungen nicht als Arbeitszeit im Sinne des ArbZG zu berücksichtigen sei. Mit Bescheid vom 26. September 2007 stellte die BezReg fest, dass die Teilnahme der Arbeitnehmer der Klägerin an Betriebsversammlungen Arbeitszeit i.s.d. ArbZG sei. Die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Entscheidung: Das OVG hat die Berufung zurückgewiesen. Der angefochtene Bescheid sei formell und materiell rechtmäßig. Die Teilnahme an der Betriebsversammlung sei Arbeitszeit im Sinne von 2 Abs. 1 S. 1 ArbZG. Der Begriff der Arbeitszeit werde je nach arbeitsrechtlichem Regelungszusammenhang unterschiedlich verwendet. Welche Zeiten und Tätigkeiten in die Arbeitszeit im Sinne des ArbZG einzubeziehen seien, müsse daher ausgehend von Sinn und Zweck des ArbZG her bestimmt werden, das im Interesse der Gesundheit des Arbeitnehmers und der Sicherheit am Arbeitsplatz der Arbeitszeit Grenzen setze. Hierbei sei auch die gemeinschaftsrechtliche Auslegung zu beachten, wie sie u. a. in den Rechtssachen Jaeger (Urteil vom 9. September 2003, C-151/02) und Pfeiffer u. a. (Urteile vom 9. März 2004, Rechtssachen C-397/01 bis C- 403/01) ihren Niederschlag gefunden hätte. Für den Begriff der Arbeitszeit gewinne insbesondere der gegenläufige Begriff der Ruhepause bzw. der Ruhezeit Bedeutung. Arbeitszeit und Ruhezeit schlössen sich gegenseitig aus und deckten den arbeitsbezogenen Lebensbereich vollständig ab. Daher sei die Teilnahme an einer Betriebsversammlung als Arbeitszeit zu werten, weil sie keine Ruhepause oder Ruhezeit darstelle. Nicht eindeutig als Arbeits- oder Ruhezeit zu bestimmende Aktivitäten seien im Zweifel als Arbeitszeit zu werten, da andernfalls der europarechtliche Mindeststandard nicht gewahrt werden könnte. Betriebsversammlungen sollen zudem gem. 44 Abs. 1 BetrVG grundsätzlich während der betrieblichen Arbeitszeit stattfinden. Insofern müsse hinsichtlich der streitigen Feststellung auch auf diesen gesetzlichen Regelfall abgestellt werden. In der Rechtsprechung des EuGH habe das Merkmal des Zur- Verfügungsstehens keine vorrangige Bedeutung derart, dass damit die Qualifizierung als Arbeitszeit stehe oder falle. Dies schlage sich auch in der Abgrenzung von Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst nieder. Zeiten der Rufbereitschaft seien keine Arbeitszeit, auch wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung stehe. Der Bereitschaftsdienst sei demgegenüber mit erheblich stärkeren Einschränkungen für den Arbeitnehmer verbunden, weil er sich außerhalb des familiären und sozialen Umfeldes aufhalten müsse und über die Zeit, in der nicht in Anspruch genommen werde, weniger frei verfügen könne. Betriebsversammlungen fänden im betrieblichen Rahmen statt und seien im betrieblichen Sinne veranlasst. Die Teilnahme an Betriebsversammlungen sei bei ordnungsgemäßem Ablauf jedenfalls keine Gelegenheit, sich auszuruhen Seite 7 von 8
oder ggf. sogar zu schlafen. Im Gegenteil sei der Arbeitnehmer insoweit immer - auch im Interesse des Arbeitgebers - tätig. Bewertung: Die Entscheidung des OVG steht im Widerspruch zur Rechtsprechung des BAG (Urt. vom 5. Mai 1987, 1 AZR 292/85) und verkennt die Tragweite der EuGH-Entscheidungen u. a. in den Rechtssachen Jäger und Pfeiffer oder auch Simap. Die Teilnahme an einer Betriebsversammlung ist keine Arbeitszeit im Sinne des ArbZG. Das BAG hat zu Recht betont, dass die Teilnahme an Betriebsversammlungen wie Arbeitszeit nach 44 BetrVG zu vergüten sei. Ist eine Zeit nur wie Arbeitszeit zu vergüten, folgt daraus im Umkehrschluss, dass der Gesetzgeber gerade nicht davon ausgeht, dass es sich bei der Teilnahme an der Betriebsversammlung um Arbeitszeit handelt. Auch der Vergleich zu den Rechtssachen Simap, Jäger, Pfeifer u. a. trägt das Ergebnis nicht. Beim Bereitschaftsdienst hält sich der Arbeitnehmer auf Veranlassung seines Arbeitgebers in den Betriebsräumen auf. Eine solche Veranlassung ist bei der Betriebsversammlung nicht gegeben. Tatsache ist jedoch, dass dieses Urteil nun in der Welt ist. Insbesondere bei Mehrschichtsystemen ergibt sich aus der Entscheidung insoweit ein Risiko. Aufsichtsbehörden könnten sich ermutigt fühlen, die Rechtsauffassung der Bezirksregierung in Münster zu übernehmen. Obwohl die Entscheidung weder arbeitsvertraglich noch vergütungsrechtlich eine Änderung der bestehenden Rechtslage herbeiführen kann, könnte die falsche Entscheidung des OVG als Handlungsleitfaden für mögliche Kontrollen genutzt werden. Mit freundlichen Grüßen Silke Wichert Seite 8 von 8