Predigt am Israelsonntag 24. August 2003 St. Jacobi-Kirche Göttingen. Predigttext: Markus 12, 28-34

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Transkript:

Predigt am Israelsonntag 24. August 2003 St. Jacobi-Kirche Göttingen Prediger: Pastor Tiedemann Predigttext: Markus 12, 28-34 als sie die Anzeige für die Israelfahrt unter der Post fand, hatte sie erst ein wenig gezögert. Nach Israel fahren, ist das nicht viel zu gefährlich, jetzt? Nun, gerade das hatte sie immer gewollt: einmal in das Land fahren, in dem Jesus gelebt hat, in dem sich abgespielt hat, was in der Bibel steht. Als sie dann auch noch auf der Anzeige las, es gehe darum, die Spuren der Evangelien, ja die jüdischen Spuren aufzusuchen, da war sie entschlossen. Diesmal wollte sie den Geschichten aus der Bibel Bilder geben. Farbe. Auf dass ihr dieser Jesus näher komme durch die Reise. Dieser Jesus, von dem sie wusste, dass er Jude war. Jesus war Jude. Kein ernstzunehmender Mensch hat das je wirklich bestritten. Dass Jesus ein geborener Jude sei, davon wusste Martin Luther, darum weiß die Kirche seit alters her. Die Zeiten sind kurz, ja zum Glück eine Ausnahme, in denen das in der Kirche vergessen wurde. Aber: welche Farbe hat dieser Satz "Jesus der Jude"? Von wo bekommt er seine Anschauung? Ein Bild? Von wo Bedeutung? der Predigttext heute will hierauf eine Antwort geben: Wir hören noch einmal die Worte aus Markus 12: "Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Das andre ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Es ist kein anderes Gebot größer als diese. Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen."

Jesus, Jude unter Juden. Mit den eben gehörten Worten wird das ein Stück anschaulich. Wir hören von einer innerjüdischen Diskussion um das höchste Gebot. Welches es sei? Im Sinne der Tradition, im Sinne jüdischen Selbstverständnisses bis auf den heutigen Tag antwortet Jesus mit dem Schma Jisrael, dem Höre Israel. Die umstehenden jüdischen Gelehrten stimmen zu: "Meister, du hast wahrhaftig recht geantwortet! Er, Gott, ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm." Es ist kein Zufall, dass diese Worte für die Predigt am heutigen Israelsonntag ausgesucht wurden. Übrigens sind sie heute zum ersten Mal Predigttext. Als Evangeliumslesung gehören sie zum Sonntag in acht Wochen. Die Worte wollen heute ein Jesusbild formen, eines herausheben auch, das bisweilen übersehen wurde. Nicht mehr der oberhalb der Stadt Jerusalem weinende Jesus, nicht mehr die Geschichte von der vorausgesehenen, vermeintlichen Verstockung Israels soll im Vordergrund stehen; statt dessen eine Diskussion jüdischer Gelehrter über das höchste Gebot. Und das, um ein Bild davon zu bekommen, zu vermitteln, was es heißt: Jesus, der Jude. natürlich hat sie erwähnte Israelfahrerin gewusst, dass da 2000 Jahre dazwischen liegen. Dass es nicht geht, einfach so über den Graben der Geschichte zu springen, auch nicht mit den Augen, wenn man vor Ort ist. Sie ist die Via Dolorosa, den Leidensweg Jesu abgeschritten. Quer durch die engen Gassen der Jerusalemer Altstadt ist sie gelaufen. Immer wieder hat sie sich gesagt: Hier plus minus einige Meter hier ist Jesus gegangen. Ein Bild von Jesus mochte daraus nicht wirklich entstehen. In einer kleinen Synagoge am Stadtrand von Jerusalem ist es ihr anders gegangen. Freitag abend, Sabbatanfang, saß sie da, sah vor sich die Betenden, den Kopf geneigt, Worte murmelnd, die sie im Einzelnen nicht verstand, aber um deren Bedeutung sie wusste. Manchmal war es ihr, als ob sie Bekanntes heraushörte: Schma Jisrael, adonai elohejnu, adonai ächad. Höre Israel, der Herr unser Gott, ist der Herr allein. Ob Jesus es auch so gerufen hat? Mit der Ehrfurcht dieser Männer? Sie hat die Gesichter der Betenden nicht gesehen. Und um so mehr ein Bild vor Augen gehabt. Jesus, wie er betet: Gott einer, Gott einziger. Liebe Gemeinde, natürlich ist das nicht historisch, ist das fiktiv, so ein Bild, so eine Vorstellung. Ihr war das bewusst. Aber plötzlich spürte sie Nähe. Eine ganz starke Verbundenheit. Und daneben noch etwas anderes, ja irritierendes: Je näher ihr das Bild vom diesem Jesus kam, desto ratloser wurde sie. War er ihr jetzt eigentlich näher? Nicht zugleich auch ferner, eben Jude und Juden?

die Worte heute verbinden, und sie irritieren. Ja, die Geschichte von der Einigkeit zwischen Jesus und den Gelehrten, sie irritiert auch. Stehen dagegen nicht die vielen Erzählungen, die Jesus im Streit, im Widerspruch, im Gegensatz zu den jüdischen Lehrern seiner Zeit darstellen? Einige Verse weiter vorne vor unserem Predigttext heißt es am Ende des Gleichnisses von den bösen Weingärtnern: "Sie und gemeint sind: jüdische Hohepriester und Schriftgelehrte trachteten danach ihn, Jesus, zu ergreifen." Wie oft hören wir in den Evangelien dieses Bild: Jesus gegen die Schriftgelehrten, die Schriftgelehrten gegen Jesus. Ja im Evangelium des Johannes sogar das: Jesus gegen die Juden, die Juden gegen Jesus. Und dazwischen die Worte von heute, irritierend, verbindend, schön: Der Schriftgelehrte zu Jesus: "Meister, du hast wahrhaftig recht geredet." Jesus zum Schriftgelehrten: "Du bist nicht fern vom Reich Gottes." Wie ist diese Nähe zu verstehen? Was sagt sie uns, diese Nähe, diese Verbundenheit und Verwurzelung Jesu in seinem Volk? heute, am Israelsonntag, denke ich, dass uns diese Fragen gleichsam wie Israelreisende ins Gespräch mit jüdischen Geschwistern bringen können. Es gibt nicht nur auf christlicher, es gibt auch auf jüdischer Seite verschiedene Bilder von Jesus. So sagt David Flusser, vor einigen Jahren verstorbener Professor in Jerusalem: "Durch eine konstruierte Spannung zwischen Jesus und dem Judentum seiner Zeit wird die Bedeutung der Lehre und der Person Jesu verdeckt. Denn wie viel klarer noch wird zum Beispiel sein Vorstoß zur alles umfassenden Liebe, wenn wir unsere Aufmerksamkeit jenen Schriftgelehrten schenken, die wie er in der Nächstenliebe das höchste Gebot sahen! Jesus wird auf seinem jüdischen Hintergrund nur größer, verständlicher für uns und für unsere trübe Zeit." So weit David Flusser. Martin Buber hat einst vom jüdischen Bruder Jesus sprechen können. An eine ähnliche Stimme wollen wir heute erinnern, an Schalom Ben Chorin, 1999 verstorbener Journalist, ein Mensch, der auf seinem Weg von München nach Jerusalem viel für das Verhältnis von Christen und Juden getan hat. Schalom Ben-Chorin schreibt: "Jesus ist für mich der ewige Bruder, nicht nur der Menschenbruder, sondern mein jüdischer Bruder. Ich spüre seine brüderliche Hand, die mich fasst,... eine menschliche Hand, in deren Linien das tiefste Leid eingetragen ist... es ist die Hand eines großen Glaubenszeugen in Israel. Sein Glaube, sein bedingungsloser Glaube, das schlechthinnige Vertrauen auf Gott, den Vater, die Bereitschaft, sich ganz unter den Willen Gottes zu demütigen, das ist die Haltung, die uns Christen und Juden verbinden kann. Der Glaube Jesu einigt uns, aber der Glaube an Jesus trennt uns."

"Der Glaube Jesu einigt uns, aber der Glaube an Jesus trennt uns." Schalom Ben Chorin erinnert uns daran, die Nähe von Juden und Christen nicht falsch zu verstehen. Wir freuen uns an der Nähe. Wir danken, dass Nähe möglich ist heute, trotz aller Geschichte. Aber es geht nicht darum, mit dem Bild vom Juden Jesus uns zu Juden zu machen oder Juden zu denen, die Christen werden müssen, etwa, weil sie doch selbst die Nähe zu Jesus erkennen. Der Glaube Jesu einigt uns, aber der Glaube an Jesus trennt uns. Vereinnahmungen, Inklusionen, ungefragtes Hineinholen, wie es mit der Einsicht von Jesus, dem Juden, auch schnell verbunden werden könnte, ist nicht gemeint. Es geht um Anerkennung, Dank, um neue Bilder voneinander. Und es geht für uns auch darum, sich irritieren zu lassen. Warum? Weil hierin ein Stück Nachfolge Jesu liegt. Ein Stück Nachfolge im Sinne der Worte, die uns heute ansprechen wollen. Das muss erzählt, und natürlich auch erklärt werden. als sie wieder zurück kam aus Israel, unsere Reisende, von der ich bereits mehrfach erzählt habe, als sie wieder zurück kam, da hatte sie das Gefühl, Neues erlebt zu haben. Ihr Bild von Jesus hatte neue Facetten bekommen. Er ist für sie jetzt vorstellbar als einer in der Synagoge. Und als einer, der selber aufgebrochen ist. Mit jenem höchsten Gebot, das er wohl radikal gelebt hat: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Außer Landes ist er damit gegangen - Markus erzählt es - außer Landes zu Griechen und Heiden, hat auch dort geheilt, hat auch dort Menschen Gottes Reich nahe gebracht. Als unsere Reisende am See Genezareth war und noch einmal im Neuen Testament gelesen hat, da ist ihr eines besonders aufgefallen: Jesus entzieht sich, wiederholt auch denen, die ihm anhängen und folgen, seinen Jüngern. Wo man ihn versucht zu fixieren, entflieht er, den Zuschreibungen, den Bildern. Bis da nur noch jenes Bild ist, das sich immer wieder auch aller Vorstellung entzieht: Jesus am Kreuz. Irgendwo zwischen Jerusalem und den Bergen Galiläas begriff sie: Jesus gehört uns nicht, uns Christen nicht, mir nicht, wem auch immer nicht. Sie hat das als befreiend empfunden. Indem sich Jesus entzieht, verbindet er: Menschen und Gott, die Völker und das jüdische Volk, Christen und Juden. An die Stelle der Irritation trat bei ihr mehr und mehr Dank. heute, am Israelsonntag wird mit der Geschichte aus Markus 12 daran erinnert, dass das Überschreiten von Grenzen die Heimat, die Tradition, aus der heraus es geschieht, nicht vergessen macht. Der Jesus, der sich entzieht, ist zugleich der, von dem wir hören, dass er sich festlegt, festlegt auf das höchste Gebot: Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der

Herr allein. Der zu seinem jüdischen Bruder sagt: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Der Jesus, der außer Landes geht und Menschen für Gott und sich gewinnt, ist zugleich der, der auf das Hauptgebot jüdischer Weisung zielt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Der Jesus, der am Kreuz entzogen wird, der sich entäußert, der uns zum Christus wird, ist zugleich jener, in dem sich Juden und Jüdinnen in ihrer Geschichte stets als seine Geschwister leider auch wiederfinden mussten: als Geschundene, Gequälte, Ermordete. So geht es heute nicht darum, ein gänzlich neues Jesus-Bild zu hauen. Auch nicht darum, die christliche Heimat, den eigenen Glauben aufzugeben. Wohl aber geht es darum, sich irritieren zu lassen. Weil das befreien kann zu einem Gespräch unter Christen über den Juden Jesus. Weil das befreien kann zu einem Ruf in die Nachfolge dessen, der um der Nächstenliebe willen Grenzen überschreitet. Und weil das befreien kann zu einem neuen Verständnis für Juden und Jüdinnen. unsere Israelfahrerin würde wohl im Nachhinein sagen: In der Tat, es ist ein Wagnis diese Reise. Nicht wegen der politischen Situation. Weil die alten Bilder nicht mehr stimmen. Und gerade deshalb tut dieses Wagnis gut. Und wer nicht so reisen kann oder mag? Die Worte heute, die Geschichte von der Einigkeit zwischen Jesus und den jüdischen Gelehrten ist wie eine kleine Reise zu Jesus, unserem Christus, dem Juden. Eine Reise, die sich lohnt. Weil sie befreit, auch heute, von falschen Bildern - und befreit zur wahren Bestimmung unseres Glaubens: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften." Denn du bist von Gott gerufen, von Jesus gewonnen nicht fern vom Reich Gottes. Amen. Dr. Bettina Kratz-Ritter, Pastor Dr. Christian Stäblein, Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Göttingen e.v.