Umgang mit Krisen in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe Eine Handreichung für Heimleitungen und Trägerschaften Anlass und Zweck dieser Handreichung Einrichtungen der stationären Jugendhilfe sehen sich immer wieder krisenhaften Situationen gegenüber, die in ihrem Charakter und ihren Auswirkungen über die alltäglichen Probleme hinausgehen und den Heimbetrieb nachhaltig beeinträchtigen. Sie müssen sich auf solche Ereignisse vorbereiten, die nötigen Vorkehrungen erarbeiten und schliesslich in verbindlicher Form schriftlich festhalten. Die vorliegende Handreichung dient als Grundlage für diese Diskussionen und zur Erarbeitung eines an den individuellen Gegebenheiten der Einrichtung orientierten und im Feinkonzept enthaltenen Krisendispositivs. Sie vermittelt Gedankenanstösse und Informationen und weist auf weiterführende Materialien hin. Die Unterlage wurde verfasst von der Konferenz für ausserfamiliäre Erziehung FORUM nach Vorarbeiten von Jürg Hofer (Villa RA), Dieter Müller (Kinderheim Neumünsterallee), Bastian Nussbaumer (Albisbrunn) und Markus Brühwiler (Amt für Jugend und Berufsberatung). Definition Eine Krise ist ein akutes oder sich abzeichnendes Ereignis, das in mindestens einem Teil des betroffenen Heims (z.b. einer Gruppe) die Erfüllung des Auftrags erheblich gefährdet oder verunmöglicht bzw. die Zielerreichung grundlegend in Frage stellt. Zum Beispiel: Elementarereignis, Kindesmisshandlung, sexuelle Ausbeutung, Gewalt, Unfall, Tod, Veruntreuung, Zur- Verfügung-Stellung mehrerer Kinder oder Jugendlicher, Schliessung von Gruppen, Personalkonflikte. Oft führt nicht das einzelne Ereignis, sondern die Gleichzeitigkeit mehrerer Ereignisse oder die Kombination eines einzelnen Ereignisses mit anderen Belangen zu einer Krise (z.b. Aktualitäten in den Medien). So können sich auch an sich alltägliche Ereignisse zu einer Krise auswachsen, wenn sie durch Begleiterscheinungen und/oder durch Medienberichte eine neue Dimension erhalten. Amt für Jugend und Berufsberatung Fachbereich Familie und Jugend Dörflistrasse 120, Postfach 8090 Zürich Telefon 043 259 96 50 Fax 043 259 96 08 www.ajb.zh.ch www.lotse.zh.ch
Merkmale erfolgreicher Krisenbewältigung 1. Die Krise wird gut bewältigt, sie hat keine unnötigen Begleit- oder Folgeerscheinungen und wächst sich nicht zur Katastrophe aus. 2. Die Krise wird als Chance genutzt, und es werden die nötigen Lehren aus ihr gezogen. 3. Über die Krise wird sowohl gegen innen als auch gegen aussen sachgerecht und ohne Tabus informiert. 4. Krisen erhalten sowohl institutionsintern als auch in der Öffentlichkeit den ihnen zukommenden Stellenwert, d.h. sie werden weder ignoriert noch hochgespielt. Grundhaltung 1. Krisen sind sowohl in der individuellen Entwicklung des Einzelnen als auch im Zusammenleben etwas Normales und Selbstverständliches. Jede Krise birgt zwar Risiken; sie zeigt aber immer auch Entwicklungs- und Veränderungsmöglichkeiten auf und kann fruchtbar genutzt werden. 2. Besonders in sozialpädagogischen Institutionen gehören Krisen zum Alltag. Die betreuten Kinder und Jugendlichen sind auf Grund ihrer Lebensgeschichte und ihrer aktuellen Lebenssituation krisenanfälliger als viele ihrer Altersgenossen. 3. Sozialpädagogische Einrichtungen übernehmen und bearbeiten Krisen stellvertretend für die Gesellschaft. Sie haben zumindest implizit den gesellschaftlichen Auftrag, mit jenen Krisen fertig zu werden, welche die Eltern und die primären Sozialisationseinrichtungen überfordern. Die Art und Weise, wie sozialpädagogische Institutionen mit Krisen umgehen wie sie mit ihnen fertig werden bzw. an ihnen scheitern, kann für die primären Sozialisationseinrichtungen und die ganze Gesellschaft lehrreich sein. Sozialpädagogische Einrichtungen müssen deshalb über ihre Krisen sprechen und informieren (Öffentlichkeitsarbeit). 4. In Krisen und in ihrer Bewältigung zeigen sich die Substanz und die Qualität einer sozialpädagogischen Einrichtung. An ihnen kann sich die Institution bewähren. 5. Vor Krisen kann man sich wappnen, und man kann ihnen zumindest bis zu einem bestimmten Grad vorbeugen. Sich auf Krisen vorbereiten 1. Mitarbeiter/innen sowie Kinder und Jugendliche auf das Eintreten von Krisen sensibilisieren. 2. Die hauptsächlichen Ereignisse, aus denen sich Krisen ergeben können (siehe vorne, "Definition"), in die sozialpädagogischen Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen sowie die betriebsinternen Diskussionen mit dem Personal einbeziehen. 3. Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten klar regeln, schriftlich festhalten und den relevanten Personen und Instanzen mitteilen. 4. Für jede mögliche Krise ein zweckmässiges, möglichst einfaches und gut verständliches Vorgehen festlegen, schriftlich festhalten und den relevanten Personen und Instanzen mitteilen. 5. Die erforderliche Infrastruktur (z.b. Brandschutz) bereitstellen. 6. Regelmässig Öffentlichkeitsarbeit betreiben, Kontakt zu den (lokalen) Medien pflegen. 2/5
Vorgehen im konkreten Fall 1. Krisenbewältigung ist "Chefsache" (Leitung, Trägerschaft)! 2. Prioritäten richtig setzen! 3. Im Krisenfall haben Vorrang: Schutz der betroffenen Menschen Entlastung und Betreuung der Beteiligten Organisation der erforderlichen Hilfe Massnahmen zur Eindämmung des Schadens bzw. zur Vermeidung einer Eskalation Information der Angehörigen Betroffener 4. Anhand des im Voraus festgelegten Ablaufs das Vorgehen planen und organisieren! Information / Kommunikation / Medienarbeit 1. Grundsätze Information, Kommunikation und wenn angezeigt Medienarbeit sind in einer Krise von Beginn an von zentraler Bedeutung und können wesentlich zur Krisenbewältigung beitragen müssen offen und ehrlich sein und dürfen keine Tabus kennen sind "Chefsache" müssen klar organisiert und übergeordnet koordiniert werden: was, wann, wer, wie. 2. Adressaten der Information und Kommunikation Trägerschaft Personal Kinder und Jugendliche Angehörige Platzierende Stellen Behörden Polizei, Bezirksanwaltschaft Aufsicht Medien und Öffentlichkeit 3. Mögliche Formen von Information und Kommunikation Informationsanlässe Schriftliche Information (Brief, interner Aushang) Medienmitteilung, Medienkonferenz Internet Hotline 4. Medienarbeit Grundsätze und Vorgehensweisen siehe Materialien im Anhang, z.b. das Merkblatt der Schulpflege Maur "Medienarbeit in Krisensituationen". 3/5
Nachbereitung einer Krise 1. Die mit der Krise gemachten Erfahrungen auswerten und aufarbeiten (Personal, Trägerschaft, Kinder und Jugendliche evtl. Externe). Dazu wenn angezeigt (externe) Beratung beiziehen. 2. Die sich aus der Auswertung ergebenden Anpassungen vornehmen (z.b. im Krisendispositiv, im Feinkonzept, im Betriebsablauf, in der Information/Kommunikation). Dazu wenn angezeigt (externe) Beratung beiziehen. 3. Den von der Krise besonders betroffenen Kindern, Jugendlichen und Mitarbeitenden persönliche Unterstützung und Beratung (evtl. durch Externe) anbieten. 4. Über den Abschluss der Krise und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen informieren: Trägerschaft, Personal, Kinder/Jugendliche, Angehörige, platzierende Stellen, Behörden, Medien und Öffentlichkeit. Nützliche Materialien "Medienarbeit in Krisensituationen", September 2000, herausgegeben von der Schulpflege Maur, erhältlich beim Schulsekretariat, Gemeindehaus, Postfach, 8122 Maur, Telefon 044 980 01 10, Fax 044 980 11 24 "Leitfaden zur Standardisierung des Verfahrens in Fällen von Kindesmisshandlung", 4. Auflage, herausgegeben vom Amt für Jugend und Berufsberatung, erhältlich beim Amt für Jugend und Berufsberatung, Fachbereich Familie und Jugend, Dörflistrasse 120, Postfach, 8090 Zürich, Telefon 043 259 96 50, Fax 043 259 96 08, jfh@ajb.zh.ch "Vorgehen bei (mutmasslichem) schwerwiegendem Fehlverhalten durch MitarbeiterInnen des Jugendsekretariates", Mai 2001, herausgegeben vom Amt für Jugend und Berufsberatung, erhältlich beim Amt für Jugend und Berufsberatung, Fachbereich Familie und Jugend, Dörflistrasse 120, Postfach, 8090 Zürich, Telefon 043 259 96 50, Fax 043 259 96 08, jfh@ajb.zh.ch "Merkblatt Kindesschutz für die Volksschulen im Kanton Zürich", Juni 2007, herausgegeben vom Volksschulamt des Kantons Zürich, erhältlich beim Volksschulamt, Walchestrasse 21, 8090 Zürich, Telefon 043 259 22 65 oder http://www.volksschulamt.zh.ch/file_uploads/bibliothek/k_350_kinderschutz/1212_0_20070 601merkblatt.pdf "Wissen, wie mit Gewalt in der Schule umgehen. Eine Handreichung für Schulen und Schulbehörden". Februar 2002, Verlag Pestalozzianum. Fr. 10; erhältlich beim Verlag Pestalozzianum, Pädagogische Hochschule, Stampfenbachstrasse 115, 8090 Zürich, Telefon 043 305 50 24, Fax 043 305 55 23, verlag@phzh.ch "Merkblatt über den Schutz der Kinder und Jugendlichen vor körperlicher und seelischer Misshandlung und sexueller Ausbeutung", Februar 2001, Stiftung Schloss Regensberg, erhältlich bei der Stiftung Schloss Regensberg, 8158 Regensberg, Telefon 043 422 10 20 4/5
"Prävention sexueller Ausbeutung durch Erwachsene und Minderjährige, Vorgehen bei Missbrauchsverdacht und bei erwiesener Ausbeutung in sozialpädagogischen Einrichtungen", März 2002, Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime, Fr. 20; erhältlich bei der Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime, Obstgartensteig 4, 8006 Zürich, Telefon 043 255 14 70, Fax 043 255 14 77, info.stiftung@zkj.ch "Institutionelle Prävention sexueller Ausbeutung. Ein Leitfaden für Einrichtungen im Kinderund Jugendbereich", 2002, herausgegeben von Limita Zürich, Fachstelle zur Prävention sexueller Ausbeutung von Mädchen und Jungen. Fr. 15, erhältlich bei Limita Zürich, Bertastrasse 35, 8003 Zürich, Telefon 044 450 85 20, Fax 044 450 85 23 Oktober 2008 5/5