Zur Bedarfsbemessung bei Hartz IV Bietet der Kompromiss 2011 eine angemessene Lösung? Beitrag zum Workshop der Hans-Böckler-Stiftung

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Transkript:

Zur Bedarfsbemessung bei Hartz IV Bietet der Kompromiss 2011 eine angemessene Lösung? Beitrag zum Workshop der Hans-Böckler-Stiftung Die Hartz IV-Entscheidung 2011. Ein bisschen Fortschritt oder schlicht zu kurz gesprungen? in Frankfurt a. M. am 12.05.2011 von Irene Becker

Übersicht I. Zur Bemessung des soziokulturellen Existenzminimums nach dem Statistikmodell theoretische und empirische Grundlagen a) Die empirisch-statistische Methode b) Datengrundlage: EVS (2008) II. Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und Umsetzung mit dem reformierten Verfahren der Bedarfsbemessung III. Fazit

I. Zur Bemessung des soziokulturellen Existenzminimums nach dem Statistikmodell theoretische und empirische Grundlagen a) Die empirisch-statistische Methode

Das so genannte Statistikmodell Das soziokulturelle Existenzminimum i. S. d. Lebensstandards, der in der jeweiligen Gesellschaft mindestens üblich ist und somit Ausgrenzung vermeiden soll, wird aus dem beobachtbaren Ausgabeverhalten unterer Einkommensgruppen abgeleitet. Von bedarfstheoretischen Überlegungen ( notwendige Güterarten und -mengen, relevante Preise) wird abgesehen. Die Ersetzung der von Experten entwickelten Maßstäbe durch statistisch basierte Werte kann zu mehr Transparenz und Konsistenz im Ergebnis führen und berücksichtigt implizit gesellschaftliche Dynamik. Dies hat auch das BVerfG betont (Rn. 166). Annahme bzw. Philosophie des Statistikmodells: Ausgleich von über- und unterdurchschnittlichen Bedarfen bei einzelnen Positionen; dieser ist insbesondere bei regelmäßig anfallenden Ausgaben für Gütergruppen zu erwarten. Struktur der Durchschnittsausgaben entspricht nicht der Ausgabenstruktur der einzelnen Gruppenmitglieder! Denn: Durchschnittswerte sind fiktive Größen (große Streuung der Einzelwerte spiegelt individuelle Umstände und Interessen).

Ein Beispiel: Ausgaben nach Güterarten innerhalb des Bereichs Freizeit etc. in p. M. von 4 Modellhaushalten Ausgaben für junge/r Alleinstehende/r HH 1 HH 2 Alleinstehende/r im Ruhestand HH 3 HH 4 Durchschnittsbeträge Software etc. 20 5 Sportartikel 20 5 Pflanzen etc. 20 5 Haustiere 20 5 Summe 20 20 20 20 20 Wie wirkt sich eine Aushöhlung des Statistikmodells für vergleichbare Haushalte im Grundsicherungsbezug aus?

Problematische Konsequenzen eines Methoden-Mix Ausgaben für IT und Sport (J) Ausgaben für Haustiere, Schnittblumen (A) Modell-Referenzgruppe: junge und ältere Teilgruppe G 1, Junge 20 0 G 2, Ältere 0 20 Ergebnis reines Statistikmodell Ergebnis bei eingeschränktem Statistikmodell mean mean ohne A 10 + 10 = 20 0 + 10 = 10 Bedarfsunterdeckung infolge Vermischung mit Warenkorbmodell! Dennoch: vermutlich keine Abschaffung des Haustieres sondern Änderung des Ausgabeverhaltens insgesamt wie in der jüngeren Teilgruppe!

Grenzen des Statistikmodells Die implizite Annahme, dass das Ausgabeverhalten den Bedarf spiegelt, ist fragwürdig. Denn: Verhalten spiegelt insbesondere die Budgetrestriktion. Allerdings: in einem relativen Existenzminimum spiegeln sich die begrenzten materiellen Ressourcen einer Gesellschaft. Bei Polarisierung der Einkommensverteilung wird die Entwicklung der Ressourcen bei Bezugnahme auf untere Einkommensgruppen aber nicht wiedergegeben; deshalb: Auswahl der Referenzgruppe kommt große Bedeutung zu; die Verteilungsentwicklung ist zu beobachten, bei zunehmender Spreizung ist die Referenzgruppe anzupassen. Schließlich: nicht-monetäre private Transfers sind unberücksichtigt; Gefahr der Unterschätzung des Bedarfs.

I. Zur Bemessung des soziokulturellen Existenzminimums nach dem Statistikmodell theoretische und empirische Grundlagen b) Datengrundlage: EVS (2008)

Erhebungsmethoden und -inhalte der EVS (2008) Querschnittsbefragung in fünfjährigem Abstand; Quotenstichprobe Gefahr von Verzerrungen wegen Abweichung vom Zufallsprinzip; knapp 60.000 Haushalte, 2008: ca. 55.000 auswertbare Fälle (zum Vergleich SOEP und EU-SILC: ca. 13.000 Haushalte); Hochrechnung auf ca. 39 Mio. Haushalte nach Ergebnissen des Mikrozensus insbesondere unter Berücksichtigung der Merkmale - Haushaltstyp - soziale Stellung des/der Haupteinkommensbezieher/in - Haushaltsnettoeinkommensklasse Anschreibungen von Einnahmen und Ausgaben im Befragungsquartal (früher: Jahr) hohe interne Konsistenz durch Budgetierung; zudem: Erfassung von Vermögen.

Aufbau des Fragebogens der EVS, zwei Gütergruppen Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren Nahrungsmittel alkoholfreie Getränke alkoholische Getränke Tabakwaren Post- und Telekommunikation Kauf von Telefon-, Telefaxgeräten, Mobilfunktelefonen, Anrufbeantwortern Post- und Kurierdienstleistungen (außer Postbank), private Zustelldienste, Versandkosten Telefon, Fax, Telegramme (auch Flatrate) Mobilfunk/CB-Funk (auch Flatrate) Internet-/Onlinedienste (auch Flatrate) Flatrate als Kombipaket 1. Mon. 2. Mon. 3. Mon.

Allgemeines Problem der Bedarfsermittlung auf Basis der EVS: bei Familien lassen sich nur wenige Ausgabearten eindeutig zuordnen, die meisten Güter werden von Kindern und Eltern konsumiert. Forschungsstand: Ergebnisse der Arbeitsgruppe Lebenshaltungsaufwendungen für Kinder 1, Überlegungen generell für Familien also nicht speziell für den unteren Einkommensbereich; Berechnungen des Statistischen Bundesamtes zuletzt auf Basis der EVS 2003. Überarbeitung der vorliegenden Aufteilungsschlüssel mit Blick auf unteres Einkommenssegment? Vorläufige Übernahme der Aufteilungsschlüssel durch den Gesetzgeber ist vertretbar. 1 Diese Arbeitsgruppe wurde in den 80er Jahren vom damaligen Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit eingesetzt.

Reformgesetz: Aufteilung der Konsumausgaben in kindspezifische und erwachsenenspezifische Teile Ergebnisse der Arbeitsgruppe Lebenshaltungsaufwendungen für Kinder vom BMAS weitgehend übernommen, Anteil Kind: Kinderbekleidung, -schuhe (u14), Spiele etc., Kinderbetreuung, Nachhilfe Sonstige Bekleidung/Schuhe ab 14 Jahren Post, Schmuck, Uhren Nahrungsmittel etc.» 0-10 (0-9) J. (Abteilungen 1 und 2)» 11-12 (10-11) J.» 13-17 (12-17) J. Verkehr» Fahrrad / Individualverkehr»ÖPNV Sonst. Verbrauchs-, Gebrauchsgüter für Freizeit etc. Sonstige Gebrauchsgüter (neue OECD-Skala) 100% 33% 0% 23% (24%) 29% (26%) 37% (33%) 15% 25% 33% 16,7% bzw. 25%

II. Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und Umsetzung mit dem reformierten Verfahren der Bedarfsbemessung

Methode Die Entscheidung zwischen Warenkorb- und Statistikmodell wird dem Gesetzgeber überlassen. Reformansatz auf Basis der EVS 2008 ist grundsätzlich mit dem Urteil vereinbar. Die Akzeptanz des Statistikmodells steht allerdings unter dem Vorbehalt, dass das Ausgabeverhalten unterer Bevölkerungsgruppen zu erkennen gibt, welche Aufwendungen für das menschenwürdige Existenzminimum erforderlich sind (Rn. 166). Beobachtung der Verteilungsentwicklung notwendig, bisher aber nicht erfolgt! Forderung nach eigenständiger Ermittlung von Kinderregelsätzen unter Berücksichtigung von Entwicklungsphasen mit Analyse des Ausgabeverhaltens von drei Familientypen ansatzweise erfolgt. Forderung nach einer breiten Fassung der Referenzgruppe(n), um statistisch zuverlässige Ergebnisse zu gewährleisten, aber keine konkrete Vorgabe zur Abgrenzung des unteren Einkommensbereichs. Fallzahlen der der Reform zugrunde liegenden Sonderauswertungen - genügen teilweise gängigen Kriterien der statistischen Signifikanz - liegen teilweise an der Grenze der methodisch gerade noch akzeptablen Vorgehensweise zur Bedarfsermittlung.

Zur Frage der Signifikanz Faustregel : - Fallzahl ab 100: Fehler < 10% - Fallzahl von 25 bis unter 100: Fehler zwischen 10% und 20% - Fallzahl unter 25: Fehler > 20% Fallzahl Alleinlebende 1.678 Zahl der Einzelpositionen* mit Fallzahl Paare mit einem Kind im Alter u6 237 6 - u14 184 14 - u18 115 von 25 bis 100 25 27 28 39 unter 25 24 47 47 57 * Gesamtzahl der Ausgabenpositionen: ca. 180.

Umsetzung des empirisch-statistischen Ansatzes (1) erfordert ein Verfahren zur Vermeidung von Zirkelschlüssen (Rn. 168, letzter Satz, Rn. 169). Dabei geht es nicht nur um die Herausnahme von Haushalten mit Bezug von Leistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII aus der Grundgesamtheit, sondern auch um die Ausklammerung verdeckter Armut. Dem wurde nicht entsprochen: Herausnahme lediglich der Leistungsbeziehenden ohne jegliche anrechnungsfreie Einkommensbestandteile, obwohl zumindest der Freibetrag für Erwerbseinkommen von 100 als pauschale Berücksichtigung von Werbungskosten gilt. Keine Ausklammerung verdeckter Armut mit Verweis auf eine als unzureichend bezeichnete Datenlage; aber: - die dem zugrunde liegende Begründung basiert auf einem extremen Anforderungsprofil an das Schätzverfahren (genaue Identifizierung aller Anspruchsberechtigten); - demgegenüber ist die Herausnahme nur der Haushalte unterhalb der Bedarfsschwelle mit der EVS unproblematisch; Effekt bei Regelbedarfsstufe 1, vorläufige Schätzung: ca. 10.

Umsetzung des empirisch-statistischen Ansatzes (1) Berechnung von Bedarfsschwellen auf Basis der EVS 2008* pauschale Regelleistungen KdU bis zu einem am WoGG orientierten Maximum Alleinlebende 347 Paare mit einem Kind im Alter u6 833 6 - u14 833 14 - u18 902 + Nettokaltmiete + Betriebskosten + (Energiekosten - Ausgaben für Strom) * ohne Haushalte mit selbst genutztem Wohneigentum. Falls - Haushaltsnettoeinkommen < Bedarfsschwelle (vgl. Tabelle), - kein Sozialhilfe- oder Grundsicherungsbezug, - Bruttogeldvermögen < Summe der altersabhängigen Grundfreibeträge und der Freibeträge für notwendige Anschaffungen, ist mit hoher Sicherheit von einer Nicht-Inanspruchnahme zustehender Leistungen auszugehen.

Umsetzung des empirisch-statistischen Ansatzes (2) Das BVerfG hat keine Quantilsabgrenzung vorgegeben. Die Bezugnahme auf unterschiedliche Quantile für Alleinlebende einerseits (untere 15%) Familien andererseits (untere 20%) widerspricht allerdings dem Gleichbehandlungsgrundsatz. Die Gesetzesbegründung bezieht sich auf die hohe Zahl der Grundsicherungsbeziehenden unter den Alleinlebenden; die letztlich erfolgte Abgrenzung des Referenzeinkommensbereichs in Abhängigkeit von der relativen Häufigkeit der Grundsicherungsbeziehenden ist methodisch aber nicht haltbar. Implizit wird mit dem reformierten Verfahren der Bedarf der Erwachsesenen und damit auch der Eltern(teile) in Familienhaushalten vergleichsweise gering geschätzt. Dies folgt (1) sowohl aus einer Gegenüberstellung der Absolutbeträge der Quantilsobergrenzen (2) als auch aus bisherigen Erkenntnissen der Verteilungsforschung (Analysen auf Basis der EVS 2008 liegen noch nicht vor).

Umsetzung des empirisch-statistischen Ansatzes (2) zu (1): Referenzhaushaltstyp 1: Alleinstehende 2: Paare mit Kind u6 3: Paare mit Kind 6 - u14 4: Paare mit Kind 14 - u18 Einkommensobergrenze 901 2.178 (242% von 1) 2.476 (275% von 1) 2.544 (282% von 1) Vielfaches von Typ 1 laut OECD-Skala alt 1.982 (220% von 1) 2.162 (240% von 1) neu 1.622 (180% von 1) 1.802 (200% von 1) zu (2): Nach vorliegenden Verteilungsstudien gehören Alleinlebende relativ häufiger dem unteren Einkommensbereich an als Paare mit einem Kind. Des- Halb bedeutet die Bezugnahme auf ein vergleichsweise kleines Quantil bei den Alleinlebenden eine Ausrichtung der Bedarfsbemessung an ärmeren Haushalten als bei den Familien.

Umsetzung des empirisch-statistischen Ansatzes (3) Gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums, der die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs umfasst, vom BVerfG anerkannt (Rn. 138). Im Zusammenhang mit dem Statistikmodell (Rn. 171*) führt dies zwangsläufig zu einer Vermischung mit Warenkorbelementen, wobei aber jede Abweichung von der gewählten Methode sachlich und nachvollziehbar gerechtfertigt werden muss. Andererseits wird vom BVerfG die Einhaltung der Strukturprinzipien des Statistikmodells gefordert (Rn. 172 und 173**). Dem gesetzgeberischen Ermessungsspielraum sind also Grenzen gesetzt - die allerdings wenig konkret sind. * Der Gesetzgeber darf Ausgaben, welche die Referenzgruppe tätigt, nur dann als nicht relevant einstufen, wenn feststeht, dass sie anderweitig gedeckt werden oder zur Sicherung des Existenzminimums nicht notwendig sind. ** Ein interner Ausgleich zwischen über- und unterdurchschnittlichen Bedarfspositionen muss möglich sein.

Umsetzung des empirisch-statistischen Ansatzes (3) Wie ist das Spannungsverhältnis zwischen methodischer Stringenz (Gewährleistung der Funktionsweise des empirisch-statistischen Ansatzes) und Gestaltungsspielraum zu lösen? Das BVerfG betont, dass es dem Statistikmodell eigen ist, dass der individuelle Bedarf vom statistischen Durchschnittsfall abweichen kann und dass die regelleistungsrelevanten Ausgabenpositionen erst in ihrer Summe ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleisten sollen. Der Pauschalbetrag ist so zu bestimmen, dass ein Ausgleich zwischen verschiedenen Bedarfspositionen möglich ist und der Hilfebedürftige sein Verbrauchsverhalten so gestalten kann, dass er mit dem Festbetrag auskommt (Rn. 205). Hinsichtlich dieses zentralen qualitativ formulierten Kriteriums ist es erforderlich, - nicht nur die einzelnen einbezogenen Güterpositionen, - sondern auch die als nicht regelleistungsrelevant eingestuften Ausgabearten und insbes. die Summe der ausgeklammerten Beträge bzw. den Abstand zum Lebensstandard der Referenzgruppe auszuweisen. Letzteres ist bisher nicht erfolgt.

Umsetzung des empirisch-statistischen Ansatzes (3): Abgrenzung des regelleistungsrelevanten Konsums (a) Generelle Ausklammerungen (z. T. ohne überzeugende Begründung) : 1. chemische Reinigung, Waschen, Bügeln, Färben von Bekleidung 2. Fotoapparat etc., Handtaschen etc. 3. Gartenerzeugnisse, Schnittblumen, Zimmerpflanzen 4. Haustiere 5. Glücksspiele 6. Gaststättendienstleistungen (auch in Kantinen, Mensen), Ansatz eines geschätzten Nahrungsmittelsubstituts 7. Mobiltelefone (Sonderauswertung für Teilgruppe) 8. Benzin etc. für Pkw (Sonderauswertung für Teilgruppe). Einwände: Methoden-Mix weit gehende Aushöhlung des Statistikmodells Ergebnisse der Sonderauswertungen zu 7 und 8 nicht repräsentativ: - Struktureffekte und interner Ausgleich unberücksichtigt; - zu geringe Fallzahlen bei den Familien, keine Signifikanz.

Darstellung von Strukturverzerrung durch Sonderauswertung Verkehr (nur Haushalte ohne Ausgaben für Kraftstoffe) Ausgaben nach Gütergruppen in p. M. von 2 Modellhaushalten HH ohne Pkw, kurze Wege HH mit Pkw, Einkaufen außerhalb reines Statistikmodell BMAS- Modell Ernährung 140 115 127,5 127,5 Bekleidung 45 25 35,0 35,0 Verkehr 25 50 37,5 25,0 Freizeit etc. 40 60 50,0 50,0 Summe 250 250 250,0 237,5

Fallzahlen und hochgerechnete Haushalte der den Sonderauswertungen zugrunde liegenden Teilgruppen Alleinlebende Paare mit Kind u6 Paare mit Kind 6 - u14 Paare mit Kind 14 - u18 S1: Verkehr 1.095 Fälle 1.398 hochgerechnete HH (66% der Referenzgruppe) 59 Fälle 73.000 hochgerechnete HH (30% der Referenzgruppe) 38 Fälle 39.000 hochgerechnete HH (25% der Referenzgruppe) < 25, deshalb Bezugnahme auf Referenzgruppe ohne Altersdifferenzierung: 110 Fälle 124.000 hochgerechnete HH (26% der Referenzgruppe) S2: Kommunikation 647 Fälle 851.000 hochgerechnete HH (40% der Referenzgruppe) zu geringe Fallzahlen, Verzicht auf Altersdifferenzierung: 64 Fälle 63.000 hochgerechnete HH (13% der Referenzgruppe)

Umsetzung des empirisch-statistischen Ansatzes (3): Abgrenzung des regelleistungsrelevanten Konsums (b) Erwachsene: besonders weitgehender Methoden-Mix durch die Ausklammerung jeglicher Ausgaben für - Alkohol (Durchschnittsbetrag: 8,11 ) - und Tabak (Durchschnittsbetrag: 11,08 ). Einwände: Bevormundung durch Gesetzgeber, obwohl mäßiger Genuss von Alkohol/Tabak zur gesellschaftlichen Normalität gehört. Alkohol/Tabak wurde nur von einem Teil der Referenzgruppe gekauft: - Alkohol: 59% der Referenzgruppe; - Tabak: 26% der Referenzgruppe; durch die Ausklammerung der Durchschnittsbeträge sinken die Bedarfsdeckungsmöglichkeiten der Abstinenzler im Grundsicherungsbezug gegenüber denen der Abstinenzler in der Referenzgruppe deutlich.

Umsetzung des empirisch-statistischen Ansatzes (3): Abgrenzung des regelleistungsrelevanten Konsums (c) Kinder: Wegen unterstellter anderweitiger Bedarfsdeckung werden 1. Ausgaben für Zeichenmaterial, Schreibwaren etc., 2. Ausgaben für außerschulische Unterrichte, Hobbykurse, 3. Ausgaben für Nachhilfeunterricht, 4. Ausgaben für Kinderbetreuung ausgeklammert; Verweis auf Bildungspaket (Positionen 1 bis 3) bzw. auf Kostenfreiheit für Grundsicherungsbeziehende (Position 4). Einwände: Kein allgemeiner Rechtsanspruch von Grundsicherungsbeziehenden auf kostenfreie Nutzung von Kinderbetreuungseinrichtungen. Begrenzter Betrag im Bildungspaket für ausgewählte Freizeitaktivitäten (10 p. M.) dürfte kaum bedarfsdeckend sein. Abgesehen von den Ausgaben für Nachhilfeunterricht (Sonderbedarf) beeinträchtigt der teilweise Ersatz von Geld- durch Sachleistungen die Funktionsweise des Statistikmodells. Beispiel

Darstellung des Effekts einer teilweisen Ersetzung von Gelddurch Sachleistungen außerschulischer Unterricht in Musik (U) IT-Fachzeitschrift etc. (IT) Modell-Referenzgruppe: zwei Familien mit unterschiedlich begabten Kindern HH 1 10 0 HH 2 0 10 Ergebnis reines Statistikmodell Ergebnis bei Gewährung von U als Sachleistung mean mean ohne U 5 + 5 = 10 0 + 5 = 5 Bedarfsunterdeckung bei HH 2, Begünstigung von HH 1

Reformgesetz: Regelleistungsrelevante Ausgaben in % der Konsumausgaben insgesamt (einschl. Mitgliedsbeiträge) der jeweiligen Referenzgruppe (1. Zeile) sowie absolute Differenzen (2. Zeile), ohne Bereich Wohnen, ohne Rundfunk-/Fernsehgebühren Alleinstehender u6 Kinder 6 bis u13 14 bis u18 Nahrungsmittel 100% 100% 100% 89% -15 Bekleidung 96% 99% 100% 99% Gesundheitspflege 59% -11 64% -3 60% -3 65% -3 Sonstiges (Teilhabe)* 57% -120 58% (64%) -65 (-55 ) 62% (68%) -63 (-53 ) 63% (70%) -58 (-48 ) insgesamt 72% 75% (79%) 78% (81%) 78% (81%) -132-69 (-59 ) -66 (-56 ) -76 (-66 ) * Verkehr, Nachrichtenübermittlung, Bildungswesen, Freizeit/Unterhaltung/Kultur, Innenausstattung etc., Beherbergungs-/Gaststättendienstleistungen, Andere Waren/Dienstleistungen

III. Fazit: Das reformierte Bemessungsverfahren ist m. E. hinsichtlich der Referenzeinkommensbereiche - einschl. verdeckter Armut, unterschiedliche Quantile - methodisch nicht haltbar; hinsichtlich der Abgrenzung von regelleistungsrelevanten und nicht regelleistungsrelevanten Gütern teilweise methodisch bzw. normativ problematisch: Kürzung bei der sozialen/kulturellen Teilhabe um ca. 40%, teilweise methodisch nicht haltbar: keine Signifikanz der angesetzten Beträge für Mobilität und Kommunikationsdienstleistungen, unzureichende Berücksichtigung des Ernährungsbedarfs bei Jugendlichen. Die im Gesetzentwurf verankerte Konstanz der Regelleistungen folgt keineswegs zwangsläufig aus dem Datensatz, sondern ist das Ergebnis problematischer Abgrenzungen und vielfältiger Abweichungen vom Statistikmodell.