5. Konjugation: System der Tempora und Genera Verbi das Verb ist nach den morphologischen Kategorien Numerus, Person, Tempus, Modus, Genus Verbi konjugierbar es kann den Kasus von Nomina regieren (reiner Kasus und Präpositionalkasus) das Paradigma des Verbs wird durch synthetische und analytische Formen besetzt manche Verblexeme enthalten außer dem Verbstamm weitere Stämme (z.b. totschlagen, sich satt essen, teilnehmen, stattfinden, kennenlernen usw.) die Verben lassen sich innerhalb der Wortart in Subklassen einteilen, je nach dem, welche Teilparadigmen sie ausfüllen (z.b. Impersonalia, passivfähige Verben usw.) es gibt auch lückenhafte Teilparadigmen, z.b. das des Imperativs Finite und infinite Formen Verbformen mit den kategoriellen Merkmalen von Person und Numerus nennt man finite Formen (finites Verb/Finitum/Verbum finitum) ein Verb kann 218 konjugierte Formen haben Verbformen ohne die kategoriellen Merkmale von Person und Numerus nennt man infinite Formen diese sind entweder Infinitive oder Partizipien, letztere haben zwei Formen: Partizip I (oder Partizip Präsens) und Partizip (oder Partizip Perfekt) der Infinitiv hat 8 Formen (verschiedene Tempora und Genera verbi, z.b. machen, gemacht haben, gemacht werden, gemacht worden sein usw.) das Paradigma der Partizipien ist ärmer: Genus v.: Aktiv sind Part. I (singend) und bei intransitiven perfektiven Verben Part. (angekommen); Passiv: Part. von transitiven Verben (gelöst); Tempus wird nicht ausgedrückt, nur relative Zeit, d.h. Vor- oder Gleichzeitigkeit: Part. I: Gleichz., Part. : im Aktiv Vorz., im Passiv bei perfektiven Vorz. (der Wagen, von der Polizei abgeschleppt), bei durativen Gleichz. (der Wagen, von Pferden geschleppt) aus den 36 Teilparadigmen sind es nur 4, die ausschließlich finite Verbformen beinhalten: o (1) Aktiv, Indikativ, Präsens (z.b. gebe, gibst,...), o (2) Aktiv, Indikativ, Präteritum (z.b. gab, gabst,...); o (3) Aktiv, Konjunktiv, Präsens (z.b. gebe, gebest,...); o (4) Aktiv, Konjunktiv, Präteritum (z.b. gäbe, gäbest,...). Tempus genau 6 Tempora? andere Versionen des deutschen Tempussystems: Thieroff (1992): zwei grundsätzliche Auffassungen: 6 Tempora und 3 mal 3 = 9 Tempora gleichzeitig sind Präsens, Präteritum und Futur I, vorzeitig sind Perfekt, Plusquamperfekt und Futur noch drei absolute Tempora kommen hinzu, was insgesamt 12 ergibt Bauer (1830) hat alle 9 Leerstellen des kleineren Idealparadigmas ausgefüllt Fourquet (1970): keine nachzeitige Zukunft (s. Tab.)
vorzeitig gleichzeitig nachzeitig Zukunft er wird getan haben er wird tun 0 Gegenwart er hat getan er tut er will, soll tun Vergangenheit er hatte getan er tat er wollte, sollte tun Weinrich (1971): Einführung der erzählenden Tempora und besprechenden Tempora in beiden Gruppen gibt es Tempora der Rückschau (Perfekt, Plusquamperfekt) und solche der Vorausschau (Futur I und Konditional) sowie je eine Null-Stelle (Präsens und Präte- ritum) Futur und Konditional kombinieren Rückschau und Vorausschau Weinrich: Textgrammatik (1993): Futur und die beiden Konditionale fehlen. Tempusre- gister, Tempus-Perspektiven (Neutral-Perspektive, Rück-Perspektive, Voraus- Perspektive). Futur fehlt (weil es selten und fast nur mit der modalen Bedeutung Wahrscheinlichkeit gebraucht wird). Thieroff (1992) Umstrukturierung des Gesamtparadigmas Leiss (1992) entfernt sein + Part. aus dem traditionellen Tempussystem, indem sie das sein-perfekt und das Zustandspassiv als Resultativ(um) wie eine Kategorie zwischen Tempus und Aspekt behandelt Beleg, wo das Perfekt keinen Folgezustand ausdrückt: Aus der Umkleide rechts, eine Treppe hoch, an einem der Zerberusse vorbei, links den Gang lang und schon scheinen die Scheinwerfer. Pressekonferenz. Alles schön eng beieinander, und doch ist Zeit genug, auf dem kurzen Dienstweg durchzuatmen, Contenance zu wahren und sich ein paar Sätze zurecht zu legen. Jörg Berger ist langsam gegangen, ganz langsam und noch immer hat er sich zusammen reißen müssen, damit ich nicht sage, was ich wirklich denke. (R99/OKT.84095 Frankfurter Rundschau, 18.10.1999, S. 27). aktivische und passivische Zustandsformen vollständiges Paradigma mit allen (6) Tempora Umstrukturierung des Paradigmensystems? Korpusbelege Zustandsaktiv: aktivisches, atelisches, gegenwartsbezogenes sein + Partizip Terminus für das Deutsche von Hermanns (1987) geprägt fehlende 4. Zeile des Schemas von Helbig/Buscha (1972: 141): +agenszugewandt prozessual und Eichinger (1995: 112 f.): sein-perfekt und -Plusquamperfekt sind Zustandpräsens bzw. Zu- standpräteritum Zustandsaktiv bei Ágel (1998: 40 ff.): in einem weiteren Sinn Der Zug ist angekommen Der Zug ist da, aber: Der Zug ist angekommen und nach 5 Minuten Aufenthalt ist er weitergefahren; oder: *Der Zug ist vor 10 Minuten angekommen und er ist noch immer angekommen.
sein + Part. von Verben wie zufrieren u.ä.: Kookkurrenz mit Adverbialen, die Gegenwart und/oder atelische Aktionsart ausdrücken, außerdem: vollständiges Tempusparadigma präsentisches angekommen sein? keine weiteren Tempusformen (1) Der Klöntalersee ist vor dem 24. Dezember zugefroren. Doch dann kam der Föhn. (SOZ06/JAN.01812 Die Südostschweiz, 12.01.2006) (2) Der See Päijänne, an dem das Skigebiet liegt, ist schon seit Oktober zugefroren, aber die Temperaturen sind ausgesprochen erträglich. (RHZ05/FEB.17883 Rhein-Zeitung, 16.02.2005) Übersetzung ins Ungarische: Beleg (1) mit der Vergangenheitsform (befagyott), Beleg (2) mit der Präsensform einer Zustandskonstruk-tion (be van fagyva) Vorgang oder Zustand? im Deutschen nur mit Hilfe des Kontextes bzw. von Verträglichkeits- tests bestimmbar im Ungarischen kommt der Unterschied auch morphologisch zum Ausdruck Verträglichkeit mit seit wann, wie lange schon usw. bzw. mióta, mennyi ideje usw. nicht alle resultativen Verben! Aber ihre Vergangenheitsformen können in beiden Sprachen Gegenwarts- bezug ausdrücken: a. Er ist vor Kurzem dahinter gekommen, dass Nemrég jött rá, hogy b. *Er ist seit Kurzem dahinter gekommen, dass *Nemrég óta jött rá, hogy eine ungarische Zustandskonstruktion *rá van jőve wird nicht gebraucht etwas ist beleuchtet valami meg van világítva: kein Folgezustand, aber atelisch und mit denselben Adverbialen kompatibel synonymes werden-passiv auch (kein) Zustandspassiv? terminologische Auswege: allge- meine Zustandsform oder sein-passiv analog: Zustandsverben auch (kein) Zustandsaktiv? (z.b. etwas grünt ( ist grün), etwas ist vergilbt ( ist gelb)) sein-aktiv wäre irreführend, die Form kann nämlich auch eventives Perfekt sein besser: Bezeichnung nach der Hauptfunktion Zustand Zustandsaktiv: ein Genus Verbi mit 6 Tempora nur sein + Partizip mit Zustand-Funktion ist ein Zustandspassiv oder Zustandsaktiv (ebenso im Ungarischen: nur van + Verbaladverb) bekommen-passiv: die Zustand-Variante ist das haben-passiv Vorgang und Zustand teilen das deutsche Paradigma in zwei symmetrische Hälften:
Vorgang Zustand Aktiv Passiv Aktiv Passiv Genus- Hilfsverb 0 werden bekommen sein sein haben Präsens synthetisch wird + Part. Präteritum synthetisch wurde + Part. Perfekt hat/ist + Part. ist + Part. + worden Plusquamp. hatte/war + war + Part. Part. + worden Futur I wird + Inf. wird + Part. Präs. + werden Futur wird + Part. wird + Part. + ha- + worden ben/sein sein Beispiele für einbauen/ zu- eingebaut Infinitiv Prä- frieren werden sens bekommt + Part. ist + Part. ist + Part. hat + Part. bekam + war + Part. war + Part. hatte + Part. Part. hat + Part. ist + Part. ist + Part. hat + Part. + bekommen + gewesen + gewesen + gehabt hatte + Part. war + Part. war + Part. hatte + Part. + bekom- + gewesen + gewesen + gehabt men wird + Part. wird + Part. wird + Part. wird + Part. + bekom- + sein + sein + haben men wird + Part. wird + Part. wird + Part. wird + Part. + bekom- + gewesen + gewesen + gehabt men haben sein sein haben eingebaut zugefroren eingebaut eingebaut bekommen sein sein haben Beleg mit Futur des Zustandsaktivs: Kopfschütteln erregte der junge Mann, dessen Mountainbike unterwegs den Geist aufgegeben hatte und der sich nun in der Rolle des Joggers anscheinend recht wohl fühlte. Er wird bei seiner Zielankunft jedenfalls nicht so verschmutzt gewesen sein wie seine radelnden Kumpels. Zwei von denen, Armin Deuster (Kempenich) und Christian Groß (Niederzissen), waren nach ihrem 50- Kilometer-Ritt durchs schlammige Gelände kaum noch wieder zu erkennen. (RHZ06/MAI.28653 Rhein-Zeitung, 30.05.2006) ungarisches Paradigma: kein Rezipientenpassiv, kein Patiens-Vorgangspassiv, nur (Vorgangs- )Aktiv bzw. Zustandsaktiv und Zustandspassiv, Letztere in der gleichen Form: van + Verbaladverb Bildbarkeit: v.a. transformative (mutative) Verben mit impliziertem Folgezustand aktivisch: v.a. unakkusativische Geschehensverben (mediale Verben) ambige deutsche Zustandsform bei labilen Verben, anders als im Ung.: schmelzen (transitiv) megolvaszt, schmelzen (intransitiv) megolvad; dementsprechend: ist geschmolzen (pas- siv/aktiv) meg van olvasztva (passiv) oder meg van olvadva (aktiv) (Ausnahme: ist ge-/zer- /eingebrochen el/szét/be van törve: beides passiv/aktiv)
präziser: nicht aktivische, sondern mediale Form (da nicht agentiv) deutsche Zustandsform: analytische Verbform oder Kopula + Adjektiv? Argument für die analytische Version aus kontrastiver Sicht: im Ung. ist es eine Konstruktion aus einem Finitum und einer infiniten Verbform aber in der Hungarologie herrscht eine Vollverb + Adverbial-Version vor Vorschlag fürs Deutsche: unabhängig von der jeweiligen Version ist eine Distinktion nötig zwischen aktivischem, atelischem sein + Partizip/Adjektiv und telischem und/oder eventivem sein + Partizip, denn nur Letzteres ist Aktiv Perfekt (Frage: Was ist geschehen?)