Vom Wert der Kindheit aus philosophischer Sicht 125 JAHRE JUBILÄUM KINDER-UND JUGENDHILFE ST. GALLEN
Was Sie heute erwartet 1) Was ist ein Wert? 2) Was ist ein Kind? Zwei prominente Antworten der Philosophie und eine Alternative 3) Der Wert der Kindheit 4) Kindheit als Lebensspanne im Vergleich zu anderen 5) Zusammenfassung & Folgerungen 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 2
Was ist ein Wert? In der Philosophie versteht man unter einem Wert etwas Erstrebenswertes, Wünschenswertes bzw. etwas, das als gut erachtet wird Es wird zwischen instrumentellen und intrinsischen Werten unterschieden: Instrumenteller Wert: Etwas, das um etwas anderen willen angestrebt wird bzw. etwas, das gut im Hinblick auf etwas anderes ist Intrinsischer Wert: Etwas, das um seiner selbst willen angestrebt wird bzw. etwas das selbst als gut befunden wird 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 3
Vortragsinhalt: Frage nach dem Wert von Kindheit > Frage, ob die Kindheit selbst etwas Gutes ist oder nur gut im Hinblick auf etwas anderes, z.b. auf das Erwachsenen-Sein Praktische Bedeutung dieser Frage: Wissen über den Wert von Kindheit hilft dabei, herauszufinden, was wir Kindern schuldig sind bzw. worauf sie Anspruch haben 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 4
Gedankenexperiment zum Einstieg Angenommen, wir könnten eine Pille nehmen, mit der wir die Phase der Kindheit überspringen und direkt das Leben eines Erwachsenen führen könnten wäre dies erstrebenswert? 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 5
Was ist ein Kind? In der Philosophie dominieren zwei Ansichten dazu: 1) Ein Kind ist ein unvollendeter Erwachsener, etwas Werdendes ( Setzling )! Kindheit ist maximal als Übergangsphase zum Erwachsenendasein wertvoll Pro: Kinder besitzen noch keine voll ausgebildete Rationalität, sie können ihre Emotionen (noch) nicht regulieren, sie sind abhängig Contra: Die kognitiv-rationalen sowie moralischen Fähigkeiten von Kindern werden unterschätzt, in mancher Hinsicht sind sie den Erwachsenen voraus (z.b. Vorstellungsvermögen) 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 6
Fortsetzung: Was ist ein Kind? 2) Ein Kind ist das bessere Wesen im Sinne von Unschuld, Reinheit, Schuldfreiheit, Unverbrauchtheit ( frische Frucht )! Kindheit ist ein noch nicht korrumpierter Zustand Pro: Kinder sind in der Tat offen und vorurteilsfrei und können qua noch nicht ausgeprägter Handlungsfähigkeit moralisch schuldig werden Contra: Das ist ein unrealistisches Ideal, welches das Erwachsenensein übertrieben korrumpiert darstellt, ferner können auch Kinder grausam sein 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 7
Fortsetzung: Was ist ein Kind? Zwischen Abwertung einerseits und Idealisierung andererseits dürfte es noch eine differenzierte Antwort geben: Alternative: Ein Kind ist ein Kind, d.h. ein menschliches Wesen, das sich in einem eigenen eigentümlichen Zustand befindet ( Raupe ) > Kindheit und Erwachsenensein müssen nicht gegeneinander ausgespielt werden; stattdessen sind sie als zwei eigenständige Daseinsweisen zu sehen, die aber durch eine bestimmte zeitliche Abfolge und Entwicklung bestimmt sind 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 8
Der Wert der Kindheit Die philosophische Diskussion um den Wert der Kindheit dreht sich vor allem um die Frage: Ist die Kindheit als Lebensspanne intrinsisch (für sich genommen) wertvoll? Oder ist sie nur instrumentell als Übergangsphase zum Erwachsen-Sein wertvoll? Wenn die Kindheit nur instrumentellen Wert (im Sinne der Vorbereitung auf das Erwachsen-Sein) hat, muss man diese Frage bejahen. 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 9
Der Wert der Kindheit II Verneint man sie, stellt sich die Frage, was die Kindheit intrinsisch wertvoll macht. 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 10
Intrinsische Güter der Kindheit Folgende Kandidaten werden genannt (vgl. Brennan 2014, Gheaus 2014): Unschuld (sexuelle und moralische) Neugierde Offenheit Entdeckergeist Vorstellungskraft Phantasie 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 11
Unstrukturierte Zeit, anderes Zeitverständnis freies Spiel Unbeschwertheit Draussen sein, Naturerlebnisse Bewegung, Freude an der erlebten Körperlichkeit Vertrauensvolle Beziehungen 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 12
Kindheit als Lebensspanne betrachtet Welche Bedeutung kommt der Kindheit verglichen mit anderen Lebensphasen zu? (zur Diskussion vgl. Betzler) Zeitlicher Egalitarismus: Jede Lebensspanne zählt gleich viel gesamthaft betrachtet für ein gutes Leben. Die zeitliche Verortung (Beginn, Mitte, Ende) spielt keine Rolle. Probleme:! Da das erwachsene Leben meist länger geht als die Kindheit, scheint diese leicht zu neutralisieren zu sein! Die Bedeutung der Kindheit für weitere Phasen wird ignoriert. 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 13
Kindheit als Lebensspanne Zeitlicher Präferentialismus: Ein bestimmter zeitlicher Ablauf oder bestimmte Lebensphasen haben mehr Wert. Nicht die Summe aller Lebensphasen, sondern deren Verhältnis zueinander ist wichtig. 1) Shape-of-life: Wenn es einen Aufwärtstrend gibt, so fügt dies dem Leben zusätzlichen Wert bei. 2) Bestimmte Lebensphasen: dabei wird typischerweise der Blüte des Lebens am meisten Wert zugesprochen, weil in dieser Phase die meisten Ziele verwirklicht werden. 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 14
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Kindheit als Lebensspanne Probleme: 1) Bei shape-of-life: Kontraintuitive Folgerung, dass man mit einer schlechten Kindheit eine besseren Aufwärtstrend erreicht 2) Bei Favorisierung der Lebensmitte: Unterschätzt die Bedeutung einer guten Kindheit diese kann nicht durch die Orientierung an Zielerreichung eingefangen werden. 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 16
Bedeutung einer guten Kindheit für ein gutes Leben Alternative: Es spielt eine Rolle, ob der Start ins Leben glückt, weil bestimmte Güter mehr Wirkung entfalten, wenn sie in der Kindheit realisiert sind fehlende Güter in der Kindheit später schlecht(er) kompensiert werden können frühe Erfahrungen nachfolgende Erfahrungen positiv/ negativ beeinflussen Aber: Resilienz sollte auch nicht unterschätzt werden 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 17
Zusammenfassung Ein Kind ist ein eigenständiges Wesen Kindheit hat einen eigenständigen Wert; entsprechend gibt es intrinsische Güter der Kindheit Kindheit als Lebensspanne kommt besondere Bedeutung zu, insofern sie am Anfang des Lebens steht 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 18
Folgerungen Kinder sollten hinreichend Zeit zum Ausleben der intrinsischen Güter der Kindheit erhalten, bevor (und auch während) sie kompetitiven Erwartungen ausgesetzt werden (Stichwort: Schule) Gesellschaft und Politik müssen dafür sorgen, dass alle Kinder Zugang zu intrinsischen Gütern erhalten Dies beinhaltet auch eine Entlastung von Eltern im Sinne familienfreundlicherer Arbeitswelt, Städteplanung etc. 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 19
Literatur (in den Folien erwähnt): Archard, David (2014): Children. Rights and Childhood, Routledge. Betzler, Monika (unveröffentl. MS): The Value of Childhood. Brennan, Samantha (2014): The Goods of Childhood and children s Rights, in; Baylis, F. / McLeod, C. (eds.): Family-Making. Contemporary Ethical Challenges, Oxford: Oxford University Press, 30-45. Gheaus, Anca (2014): The Intrinsic Goods of Childhood and the Just Society, in: Bagattini, A. / MacLeod, C. (eds.): The Nature of Children s Well-Being, Heidelberg/New York: Springer, 35-52. Gheaus, Anca (2015): Unfinished Adults and Defective Children. On the Nature and Value of Childhood, in: Journal of Ethics & Social Philosophy 9/1, 1-21. Tomlin, Patrick (2016): Saplings or Caterpillars? Trying to Understand Children s Wellbeing, in: Journal of Applied Philosophy 33/2, 1-18. 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen Dr. Magdalena Hoffmann 20
Weitere ausgewählte Literatur zur Familienethik Bagattini, Alexander / Macloed, Colin (eds) (2015): The Nature of Children s Well-Being. Theory and Practice, Dordrecht: Springer Verlag. Betzler, Monika (2011): Erziehung zur Autonomie als Elternpflicht, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59, 937-953. Bleisch, Barbara / Hoffmann, Magdalena / Löschke, Jörg (2015): Forschungsbericht zur Familienethik, in: Information Philosophie 1/2015, 16-29. Schickhardt, Christoph (2012): Kinderethik. Der moralische Status und die Rechte der Kinder, Münster: mentis Verlag. Wiesemann, Claudia (2006): Von der Verantwortung, ein Kind zu bekommen, München: C. H. Beck Verlag. Dr. Magdalena Hoffmann 125 Jahre Kinder-und Jugendhilfe St. Gallen 21