Dr. Peter Marquard, Leiter des Stiftungsbereichs Kinder- und Jugendhilfe im Rauhen Haus, Hamburg

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Transkript:

Dr. Peter Marquard, Leiter des Stiftungsbereichs Kinder- und Jugendhilfe im Rauhen Haus, Hamburg Fachtag: Vom Kind aus denken?! Inklusives SGB VIII am 14. Juni 2016 in Frankfurt / Main Fachvortrag: Impulse zur sozialräumlichen Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe Einführung: SGB VIII Inklusion Gesetzesentwurf: Wozu ich nichts sage. Fokussierung auf sozialräumliche Arbeitsansätze und deren rechtlich-materielle Absicherung und wozu ich nichts sagen kann. I. Vorbemerkungen 1. Sozialraumorientierung als Arbeitsprinzip Im hier zu diskutierenden Zusammenhang werden unter Sozialraumorientierung (SRO) drei Strukturelemente zusammengefasst: - Lebensweltorientierung im Sinne eines respektvollen, bewussten Umgangs mit und in der Alltagswelt (potentieller) Nutzerinnen und Nutzer. Dies zielt auf die Nutzung und Unterstützung ihrer Ressourcen im Sinne von doing Alltag ; damit geht es auch um Freiräume für pragmatisch zufällige Lösungen zur Eröffnung des Strebens nach dem gelingenderen Leben. - Grundlage ist die Vernetzung von Angeboten und sozialen Dienstleistungen im Quartier und - die sozialräumliche Präsenz und Erreichbarkeit der Dienste und Einrichtungen. Für eine sozialräumliche Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe erforderlich ist die sozialräumlich organisierte und somit lebensweltlich vernetzte Erbringung der vielfältigen sozialpädagogischen Angebote im Quartier, womit auch die Einbeziehung der unterschiedlichen Berufsfelder der Sozialen Arbeit begründet und unverzichtbar wird: - Erziehung, Bildung und Betreuung in Kindertagesstätten oder auch die Jugendarbeit in Freizeitheimen und Jugendgruppen brauchen den Zugang und die Ausrichtung an der alltäglichen und je individuellen Lebenswelt ebenso, wie wir uns dies verstärkt für sozialpädagogische Arbeitsansätze in der Schule wünschen. - Erzieherische Hilfen von der Beratung bis zur Heimerziehung sind von ihrem Zugang wie für ihre Wirksamkeit auf ein sozialräumliches Verständnis angewiesen die Entwicklung der flexiblen Hilfen verweist m.e. auf die Erfolgsaussichten dieser Orientierung. - Soziale Dienste für Erwachsene von der Beratung und Betreuung für verschiedene Gruppen in schwierigen Lebenslagen über die Eingliederungshilfe für Behinderte und sozialpsychiatrische Angebote bis zur Hilfe zur Pflege sollen die Menschen dort abholen, wo sie stehen bzw. leben: Auch dieser Zugang erfordert soziales Engagement von uns Professionellen im Quartier als dem Lebensraum dieser NutzerInnen. 1

2. Steuerung der HzE Hilfen zur Erziehung werden bei rückläufiger Kinderzahl in den letzten Jahren vermehrt gewährt. Gleichzeitig gibt es aus verschiedenen Studien berechtigte Hinweise, dass längst nicht alle jungen Menschen und Familien erreicht werden, die einen entsprechenden Hilfebedarf haben. Steigende Fallzahlen gehen einher mit einer deutlichen Steigerung der Ausgaben. Neben den öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe beschäftigte sich auch die Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder (JFMK) mehrfach mit den Herausforderungen und Möglichkeiten der Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung. Dabei werden in den Beschlüssen der JFMK vor allem präventive und sozialräumliche Ansätze gefordert. Gemeint ist im Wesentlichen, dass es zu regelhaften Kooperationen zwischen Infrastrukturangeboten und Einzelfallhilfen kommen soll. 2.1 Steuerungsebenen des öffentlichen Jugendhilfeträgers Die damit angesprochene Steuerungsverantwortung des Jugendamtes bezieht sich mindestens auf - die Kooperation und Interventionsebene im Einzelfall (vor allem die Hilfeplanung), - die Interventionsebene der Organisationsgestaltung (Personalausstattung und Personalentwicklung, Entscheidungspraxen, Controlling) sowie - die Interventionsebene der Infrastrukturgestaltung (insbesondere Jugendhilfeplanung). Neben und vor der Frage nach einer sozialräumlichen Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe sollten auch diverse Kooperationshürden innerhalb unseres eigenen Systems konstruktiv bearbeitet werden und Schnittstellen zu anderen Systemen fachlich wie institutionell besser geregelt werden (zu denken ist an die bekannten Beispiele in den Bereichen Schule, Arbeitsförderung und Gesundheit). 2.2 Steuerungsphilosophie des SGB VIII Konzeptionell, rechtlich und für die Professionalität unverzichtbar bleibt gerade auch im Hinblick auf die sozialräumliche Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe die Verwirklichung der Prinzipien des SGB VIII: die Vielfalt von Trägern und die partnerschaftliche Zusammenarbeit öffentlicher und freier Träger dient der Umsetzung des Wunsch- und Wahlrechts und der professionellen Ausgestaltung einer Vielfalt von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen dies im Interesse und zum Wohle der jungen Menschen und ihrer Familien ( 3, 4, 5 SGB VIII). Auch aus Sicht der Behindertenhilfe und der Ausgestaltung einer inklusiven Gesellschaft im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK von 2006/2008) sind diese Prinzipien für die Entwicklung und Sicherung eines eigenständigen und selbstbestimmten Lebens wesentlich. Beispielhaft sei auf das Recht von Eltern mit Lernschwierigkeiten (geistige Behinderung) auf die Erziehung ihrer Kinder hingewiesen. Hier liegen durchaus Herausforderungen für das System der Kinder- und Jugendhilfe. Nur in diesem Sinne können die HzE bedarfsorientiert und wirkungsvoll entwickelt und gesteuert werden. 2

II. Sozialräumliche Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe 1. Soziale Infrastruktur entwickeln Es gibt zahlreiche sozialräumliche Strukturen für sozialpädagogische Leistungen des SGB VIII. Gut funktionierende Beispiele können aus vielen Städten und Kreisen berichtet werden. Mit solchen Projekten werden (alte) Ansätze der GWA oder des Quartiersmanagement einbezogen (seit den 1970er Jahren, später neu bei Soziale Stadt und der Förderung benachteiligter Wohnquartiere) und die Grenzen werden fließend zum Kernauftrag von HzE und deren Organisations- wie Finanzierungsformen und ebenso zum Auftrag und zur Arbeitsweise sogenannter Regeleinrichtungen. Wie erreichen wir marginalisierte Personen und Gruppen, die vor einer mit Zwang verbundenen Eingriffsschwelle des Jugendamtes einen Unterstützungsbedarf haben, ohne dass sie selbst bereits individuelle Hilfen beanspruchen? Es muss besser ermöglicht werden, gerade und insbesondere in benachteiligten Wohngebieten und für Zielgruppen in besonderen sozialen Situationen gezielt Projekte zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur zu etablieren. Eine fachlich begründete Privilegierung erfolgt z.b. schon dort, wo Kitas wegen ihrer Lage in Quartieren mit besonderen sozio-demografischen Strukturen personell besser ausgestattet werden als anderswo; ein solcher Personalaufschlag bedeutet nebenbei auch eine Trägerprivilegierung (der eben gerade an diesem Ort engagierten Träger). Es ist zu fragen nach dem niedrigschwelligen Zugang von jungen Menschen und Familien zu diversen Angeboten, Diensten und Hilfen und dem Nutzen in deren alltäglicher Lebenswelt. Für die gebotene ganzheitliche, systemische und alltagspraktische Unterstützung braucht es - eine partnerschaftliche Zusammenarbeit der öffentlichen und freien Träger, - Orte und Angebote im sozialen Nahraum, - eine fachlich abgestimmte Kooperation der verschiedenen Einrichtungen und Dienste, - gemeinsame, neue Organisationsstrukturen, - ein Konzept für die Beteiligung und Teilhabe der jungen Menschen und ihrer Familien und - neue, entsprechende Finanzierungsformen. 2. Sozialräumliche Kooperation zur Verbesserung des Kinderschutzes Unstrittig ist heute die Notwendigkeit einer quartiersbezogenen Vernetzung Früher Hilfen für kleine Kinder und Familien; dies gilt für die Zusammenarbeit mit dem Gesundheitswesen ebenso wie für Kindertagesstätten und Schule und natürlich dezidierte Angebote der Frühförderung, Familienbildung und Beratung. Grundlegend sollte eine kind- und familiengerechte Infrastruktur im Quartier sein, die den alltäglichen Bedürfnissen von Kindern und Familien gerecht wird und deshalb gerade in prekären Lebensverhältnissen stabilisierend wirkt. Vernetzung, Hilfe und Kontrolle im Sinne eines fachlich begründeten Kinderschutzes können auf einer solchen Basis konstruktiv weiterentwickelt werden, ohne übermäßig stigmatisierend wirken zu müssen. 3

3. Strategischer Ansatz aus Hamburg: SHA (Sozialräumliche Hilfen und Angebote) Mit Stand von 2014 werden ungefähr 500 sozialräumliche Projekte mit unterschiedlichen Schwerpunkten in Hamburg von 20.000 Menschen genutzt. Damit werden auch mehr als 4.000 verbindliche Hilfen realisiert. Gefordert ist die Verbindung von Angeboten und Leistungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sowie Jugendsozialarbeit, Früher Hilfen und Familienförderung, Kindertagesbetreuung und der Schulen sowie weiterer Einrichtungen und Dienste mit der Leistungserbringung bei individuellen erzieherischen Bedarfen. Der ASD kann diese Angebote nutzen und ratsuchende Menschen dorthin vermitteln; ein direkter Zugang ohne Einbeziehung des Jugendamtes ist ebenso möglich. Diese sozialräumlichen Projekte in Hamburg schließen eine Angebotslücke insbesondere dort, wo Menschen in biographischen Übergangssituationen Unterstützung benötigen. Zum Kennenlernen und zur Nutzung vorhandener und ggf. weiterzuentwickelnder Ressourcen im Stadtteil gehört zwingend die Kooperation der ansässigen öffentlichen und freien Träger der Jugendhilfe untereinander sowie mit anderen Regeleinrichtungen wie Schulen und Kitas, den Gesundheitsdiensten und der Berufsschule. Im Zentrum der öffentlichen Auseinandersetzung stehen insbesondere alternative und ergänzende Handlungsansätze zu den einzelfallbezogenen Instrumenten der Hilfen zur Erziehung nach dem SGB VIII. Mit SHA soll der ASD für seine Zielgruppen zusätzliche Handlungsoptionen neben den HzE erhalten und nutzen und damit gleichzeitig in der eigenen Arbeit entlastet werden. Die Stadt Hamburg will mit SHA auch erreichen, dass ohne Qualitätsminderung die hohen Kosten der Jugendund Familienhilfe bei den HzE begrenzt werden. Tatsächlich ist der Ausbau sozialräumlicher Hilfen und Angebote bisher nicht mit einer Kürzung von HzE-Ausgaben verbunden; andererseits waren Kürzungen im Bereich der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu verzeichnen und fachlich wurde gleichzeitig ein eng normiertes, an einer Prozesslandschaft orientiertes Qualitätsmanagementsystem eingeführt und eine Verregelung des Kinderschutzes im Jugendamt vorangetrieben. Für das Netzwerkmanagement in den Sozialräumen haben die Hamburger Jugendämter zusätzliches Personal bekommen. Die Auswahl der Projekte und deren Steuerung erfolgt in den sieben Bezirken durch deren Jugendämter. 4. Urteil des VG Hamburg zur pauschalen Finanzierung eines Sozialraumkonzeptes Das Verwaltungsgericht Hamburg hat im Dezember 2015 die Rechtswidrigkeit eines pauschal finanzierten Sozialraumkonzepts bei überwiegender Zuweisung der Hilfen durch den ASD festgestellt. Wenn sogenannte verbindliche Einzelhilfen durch den ASD überwiegend im Rahmen sozialräumlicher Angebote vermittelt und ein Träger der freien Jugendhilfe nicht in den Kreis der befristet pauschal finanzierten Leistungserbringer aufgenommen wird, so stellt dies einen unzulässigen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG dar. Eine Finanzierung anspruchsgebundener HzE hat auf der Grundlage des sogenannten jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses im Wege der Entgeltfinanzierung zu erfolgen. Wesentliches Merkmal dieser Art der Hilfegewährung und Finanzierung ist die Hilfeplanung nach 36 SGB VIII. Grundsätzlich kritisch zu sehen ist an diesem Urteil die nicht haltbare Verknüpfung von Vereinbarungen gemäß 36a Abs. 2 S. 2 SGB VIII mit solchen i.s.v. 77 SGB VIII. Niedrigschwellige Leistungen und der Zugang zu ihnen ohne vorherige Entscheidung des Jugendamtes erfordern eine spezifische Bedarfsorientierung, Angebotsplanung und -finanzierung. Die Schaffung solcher infrastruktureller Angebote ist unvermeidbar mit einer Trägerauswahl verbunden und erfolgt oft 4

zweckmäßigerweise über eine besondere Finanzierung eben pauschal. Eine zweiseitige Finanzierungsvereinbarung nach 77 SGB VIII erscheint bereits heute als möglich für solche Leistungen, die beim Leistungserbringer direkt in Anspruch genommen werden können. III. Grundlagen und Anforderungen für bzw. an sozialräumliche Konzepte 1. Individuelle Rechtsansprüche, soziale Infrastruktur und Kooperation/Vernetzung Sozialräumliche Leistungen in Form von Projekten und individuelle Leistungsansprüche ergänzen sich und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Eine Stärkung infrastruktureller Angebote darf die individuellen Rechtsansprüche und das Wunsch- und Wahlrecht nicht unterlaufen. Die Weiterentwicklung der Leistungen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe erfordert verpflichtende Kooperationsbeziehungen zwischen Einrichtungen (Kita, Jugendtreffs; Schulen), Gruppenangeboten und Einzelfallhilfen der Kinder- und Jugendhilfe. Gerade für die neue Zielgruppe der Kinder mit Behinderungen wird entscheidend sein, wer nach welchen Kriterien und mit welcher Expertise die Geeignetheit solcher Angebote feststellt. Ergänzend zur Finanzierung der rechtsanspruchgebundenen Einzelfallhilfen muss die Refinanzierung sozialräumlicher Angebote und Projekte für die Leistungserbringer ebenfalls angemessen erfolgen. 2. Neue gesetzliche Regelungen im SGB VIII zur Stärkung infrastruktureller Angebote 2.1 Umsetzungspunkte des BMFSFJ In seinem Übersichtspapier zur Reform des SGB VIII vom 11.03.2016 schreibt das BMFSFJ zur Weiterentwicklung von HzE im Koalitionsvertrag, dass geeignete Finanzierungsmodelle für systemische Unterstützungsformen (z.b. an den Schnittstellen von SGB VIII, SGB XII und Schulträger) entwickelt werden müssen. Die Steuerungsinstrumente der Jugendämter seien deutlich zu verbessern und gleichzeitig sollen die Rechte der Kinder und ihrer Familien sichergestellt sowie sozialraumorientierte und präventive Ansätze verfolgt werden. Der erwartete Gesetzesentwurf ist daraufhin genau zu prüfen, ob die vom Ministerium benannten Umsetzungseckpunkte ausreichend und praktikabel normiert sind: - unmittelbarer Zugang zu präventiven Angeboten, - Entlastung der kommunalen Verwaltung durch direkte Inanspruchnahme von Regelangeboten, - Intensivierung der Steuerung der Einzelfallhilfen, - Qualifizierung der Einzelfall- und der Angebotsplanung, - neue Finanzierungsmodelle zur Flexibilisierung (z.b. Pooling bei Schulbegleitung) und mehr Rechtssicherheit (Einschränkung des Anbieterkreises). 2.2 Direkte Inanspruchnahme lebensweltlich orientierter Angebote Im Rahmen der jetzigen Regelungen des SGB VIII wäre zu prüfen, ob eine Finanzierung von niedrigschwelligen Hilfen mit direkter Inanspruchnahme durch eine Ergänzung in 36a Abs. 2 SGB VIII verbessert werden kann. In einer Arbeitsfassung vom 22. April d.j. wird in einem neuen 41 5

Absatz 2 eine Spur gelegt zur Erleichterung einer unmittelbaren Inanspruchnahme bestimmter ambulanter Leistungen. Dazu soll der Träger der öffentlichen Jugendhilfe mit den Leistungserbringern Vereinbarungen schließen, in denen die Voraussetzungen und die Ausgestaltung der Leistungserbringung sowie die Übernahme der Kosten geregelt werden. Fachliches Ziel ist die Erreichbarkeit und Ansprechbarkeit von Hilfen ohne Zuweisung durch das Jugendamt wie z.b. - Beratung und Familienförderung in der Kita, - die Zusammenarbeit von Familienhilfen und Familienhebammen in Quartieren, - die Unterstützung und sozialpädagogische Förderung von Kindern in der Schule, - die Beratung und Förderung von Kindern und Familien im Stadtteiltreff und die zumindest immer mögliche strukturierte, systemische Zusammenarbeit solcher Projekte mit den HzE. 2.3 Auswahlverfahren und Finanzierungsoptionen Geeignete Formen einer Projektfinanzierung müssen rechtlich abgesichert werden, die in der Regie der Jugendhilfe eine Trägerauswahl aus einem Anbieterkreis in einem Sozialraum rechtssicher zulassen z.b. Interessensbekundungsverfahren mit Beteiligung des Jugendhilfeausschusses und nicht EU-Ausschreibungsrecht. Im Rahmen der Förderung der freien Jugendhilfe ist in 74 (3) SGB VIII bereits eine Norm für eine Trägerauswahl vorhanden. Erforderlich ist eine gesetzliche Regelung mit Bezug auf Artikel 12 GG ( Freiheit des Berufes ). Ermöglicht werden sollen Kontrakte mit Budget bzw. Vollfinanzierung (und Verzicht auf Eigenmittel im Sinne von Geld was nicht dasselbe ist wie Eigenleistung, 74 (1) Nr. 4 SGB VIII). Und eine ordentliche Refinanzierung der Leistungserbringer (Anerkennung echter tariflicher Lohnkosten, Regiekosten) ist anzustreben. Erforderliche Ergänzungen können in den bisherigen Finanzierungsparagraphen 74, 77, 78a ff. SGB VIII aufgenommen werden; dazu sind Formulierungen derzeit allerdings nicht bekannt. 3. Finanzausgleich für gleiche Lebensbedingungen Wir sollten unsere Debatte über angemessene Finanzierungsstrategien in der Kinder- und Jugendhilfe nicht losgelöst von anderen Finanzierungskonzepten betrachten: so finden wir in den Forderungen des Bundes zum Finanzausgleichsmodell der Länder vom 03.12.2015 unter 3.) Regionalisierung der Sozialgesetzgebung folgenden Vorschlag des Bundesfinanzministers quasi als Einsparangebot für die Länder: Die Länder erhalten Abweichungsrechte (Art. 72 Abs. 3 GG) für Art und Umfang der Leistungsgewährung in den Bereichen a) Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (SGB XII) b) Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII). 6

Auch wenn dieser Vorschlag inzwischen schon als politisch nicht durchsetzbar gilt, sollte entgegen diesem für struktur- und finanzschwache Regionen perfiden Angebot auf dem Ziel der Gleichwertigkeit bzw. Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (Artikel 72 Abs. 2, 106 Abs. 3 GG) bestanden werden. Für gleichwertige Lebensbedingungen im Sinne eines gedeihlichen Aufwachsens von Kindern und der gebotenen Unterstützung für ihre Familien erscheint in unserem Land ein Finanzausgleich erforderlich zwischen wohlhabenden und verarmten Regionen. Dafür ist letztlich eine Veränderung der Regelungen zum Finanzwesen im Grundgesetz notwendig (Artikel 104a ff., z.b. 106 Abs. 3 Nr. 2 GG). IV. Schlussbemerkungen Die Schaffung einer sozialräumlich ausgerichteten Jugendhilfelandschaft bietet eine wesentliche Grundlage für die Stärkung ressourcenorientierter Arbeitsansätze. Förderlich ist eine partnerschaftliche Zusammenarbeit des öffentlichen und der freien Träger, mit der das bestehende Hilfespektrum offensiv erweitert und dessen Wirkung durch ein gemeinsames Fallverstehen verbessert werden kann. Damit werden die Steuerungsoptionen sowie die Handlungs- und Entscheidungsalternativen des Allgemeines Sozialen Dienstes (ASD) erhöht. Eine neue Qualität der Beratung, Förderung, Unterstützung und Hilfe soll erreicht werden und als sozialräumliches Netzwerk für mehr Kinder, Jugendliche und Familien real verfügbar gemacht werden. Die Hamburger Konzeption wird aus professioneller und rechtlicher Sicht kritisch betrachtet, weil die Beschneidung individueller Rechtsansprüche befürchtet wird als Refinanzierungsstrategie für eine im SGB VIII rechtlich noch nicht abgesicherte Projektförderung. Optimistisch liegt hier das kritische Potenzial für eine anzustrebende, neue Regelung zur Ermöglichung eines von den NutzerInnen gesteuerten Zugangs als bedarfsgerechtes Angebot für die aus ihrer Sicht erforderliche Unterstützung in der Gestaltung eines oft prekären Alltags. 7