Was Tun mit Kultur in der Wissenschaft?

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Transkript:

Martina Kaller-Dietrich 1 C:\Eigene Dateien\Texteseit96\Kultur-Geschichte\Kultur und Wissenschaft.do Erstelldatum 26.11.01 17:24 Was Tun mit Kultur in der Wissenschaft? Mit ihrem Verzicht auf Wertungen und Festschreibungen sowie ihrem eindeutigen Bekenntnis für den Plural der Kulturen sind die cultural studies angetreten, das anthropologische Paradigma in den Humanwissenschaften durchzusetzen. Das öffnete in den letzten Jahrzehnten neue Wege bei der Suche nach kulturspezifischen Differenzen und kulturübergreifenden Gemeinsamkeiten bei gleichzeitiger Kritik der Macht, das heißt der Herrschaftsverhältnisse. 1 Dem linguistic turn, dem prominenten methodischen Paradigmenwechsel in den modernen Kulturwissenschaftem, ist unter anderem die äußerst produktive, aktuelle Postkolonialismus-Debatte zu verdanken. 2 Es fällt allerdings auf, dass es nicht etwa die AnthropologInnen waren (deren Forschungsgegenstand ausdrücklich Kultur ist), die diesen Wechsel vorangetrieben hatten. 3 Vielmehr wird die Diskussion von einer Literaturwissenschaft getragen, die den Elite-Disziplinen Philosophie und Literaturtheorie verpflichtet ist, obwohl das Deuten und Verstehen nur einen Aspekt des sozialen Gebrauchs von Kultur darstellen. Zwar wurde die Rhetorik der Sozialwissenschaften verändert ( umgeschrieben ), doch Inhalt und Jargon der cultural studies orientieren sich keineswegs zum Beispiel an den Alltagssprachen und Alltagshandlungen jener Popularkulturen, mit denen sie sich beschäftigen. Eine sehr eindeutige Botschaft des Hyperprofessionalismus 4 ist zu vernehmen. Darin verstärkt sich die hierarchische Unterscheidung zwischen den VetreterInnen dieser neuen Forschungszweigs und den anthropologischen Anderen. Mit einer Sprache der Verallgemeinerung, der professionellen Hauptwörterei 5, wurde das Partikulare 1 Lutter, Christine/ Reisenleitner, Markus 1999: Cultural Studies. Eine Einführung. 2. Aufl. Wien. 2 U.a. siehe Hall, Stuart 1996: When was, the post-colonial? thinking at the limit. In: Ian Chambers, Lidia Curti (Eds): The post-colonial Question. Common Skies. Divided Horizons. London: 65-77. 3 Gingrich, Andre 1999: Wege zur transkulturellen Analye. Ein Essay über die Paradigmenwechsel euroamerikanischer Sozial- und Kulturanthropologie im 20. Jahrhundert. In: Helmut Grössing (Ed): Themen der Wissenschaftsgeschichte (=Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 23). Wien/ München: 83-107 4 Abu-Lughod, Lila 1996: Gegen Kultur Schreiben. In: Ilse Lenz, Andrea Germer, Brigitte Hasenjürgen (Eds):Wechselnde Blicke. Frauenforschung in internationaler Perspektive. Opladen: 32. 5 Duden, Barbara 1998: In Tuchfühlung bleiben. Anmerkungen zur poiesis in Soziologie und Historie. In: Werkstatt und Geschichte 19: 75-87.

Martina Kaller-Dietrich 2 und vielleicht gerade das vielfältige der Kulturen verstellt. 6 In den Worten Lila Abu-Lughods sehen wir nicht mehr, wie die Menschen...durchs Leben gehen und sich dabei mit Entscheidungen herumschlagen, Fehler machen, versuchen, gut auszusehen, Tragödien und persönliche Verluste ertragen, Freude an anderen haben und Augenblicke des Glücks finden. 7 Interessiert aber nicht gerade die Frage, wie Menschen in der Welt zurechtkommen? Erstaunlich, dass das Handeln, das Tun der Menschen, ihre kulturell erlernten Hoffnungen, Sichtweisen, Ängste und Schmerzen ausgeblendet bleiben, also Bilder von Kultur/en entstehen, in denen v.a. die Frage, wie die Menschen Bedeutung und Ordnung in ihrer Welt finden, behandelt werden. Jene von Arjun Appadurai kritisierte Komplizenschaft des anthropologischen Kulturbegriffs mit der andauernden Einkerkerung nicht-westlicher Völker in Zeit und Raum 8, tritt damit wieder in einen nicht so weiten Horizont. Denn jeder Kulturbegriff der besagt, was ist, anstatt zu sehen, zu verstehen und zu beschreiben, was vor sich geht und in Bewegung ist, droht in Essentialismen zu versteinern. Eine Vorstellung von Kultur, die das Tun auf Funktionen reduziert, ist deshalb strikte abzulehnen. Sie würde das Unerträgliche legitimieren. Hier setzt unter anderem auch eine feministische Geschichtswissenschaft an, die mit Gadi Algazi daran erinnert, dass Kultur ist how to do what. 9 Der Begriff Kultur in seiner substantivierten Verwendung ist vom Projekt der Nation nicht zu trennen. Kultur gehört wie Nation zum modernen machtpolitischen Projekt. Wie Nation ist Kultur eine Vorstellung. Die Grenzen und damit die Territorien, in denen Nation und Kultur vorgestellt werden, lassen sich beliebig nach innen und außen verlegen (Eu und Zerfall der Sowjetunion). Jeder Nationalstaat, also eine territorial festgeschriebene Nation, versteht sich als Hort kultureller Werte, auch wenn das immer nur darauf hinauslief, territoriale Ansprüche zu behaupten, die mit Kultur identifiziert wurden. Nationen lagen im Streit über die Frage, wer der wahre Hüter bestimmter kultureller Werte sei. Frankreich und England führten Krieg gegeneinander und erhoben beide den Anspruch, die europäische Kultur und Zivilisation zu verkörpern. Und diesen Anspruch erhob, auf seine Art, auch das nationalsozialistische Deutschland, das doch in der übrigen Welt weithin als Symbol der Unkultur galt. Immerhin 6 Vgl. u.a. Esteva, Gustavo 1995: Fiesta jenseits von Entwicklung, Hilfe und Politik. Frankfurt a.m./ Wien 7 Abu-Lughod 1996: 38. 8 Appadurai, Arjun 1988: Putting hierarchy in its place. In: Cultural Anthropology 3: 36-49. 9 Algazi, Gadi 2000: Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires. In. L Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft. 11/1: 105-119.

Martina Kaller-Dietrich 3 fanden namhafte Denker unseres Jahrhunderts z.b. Martin Heidegger diese Vorstellung nicht abwegig. Anlaß genug, sich der Begriffsgeschichte von Kultur zuzuwenden: Als das Substantiv Kultur im 17. Jahrhundert aus dem lateinischen Stamm colere (colui, cultus, culturus) ins Deutsche entlehnt wurde, bezeichnete es zwei unterschiedliche Dinge: 1. Felderbau, Bodenbewirtschaftung 2. Pflege der geistigen Güter Meinte colere bebauen, bewohnen, pflegen, das nur in Gemeinschaft bewerkstelligt und an einem bestimmten Ort gedacht werden kann, weil es ein Tätigsein beschrieb und nicht ein Produkt, brauchte die Pflege der geistigen Güter keinen konkreten Ort mehr, um sich zu entfalten. Kultur ließ sich überall ansiedeln und konnte überall hingehen. Kultur konnte in jedem Territorium, in jeder Nation also, stattfinden. Dem modernen Begriff Kultur haftet seit Herder, der Kultur als die Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft, eines Volkes identifizierte, eine kolonisatorische Dimension an, zumal mit der Betonung von geistigen und künstlerischen Lebensäußerungen auch die Wertigkeit von Kultur festgeschrieben wurde. Es scheint im Wesen von Konzepten zu liegen, dass sie sich mit allen möglichen und unmöglichen Inhalten ausfüllen lassen, zumal Konzepte wie Rezepte in Aussicht stellen, dass ihre genaue Befolgung auch zu exakt gleichen Ergebnissen führten. Kultur wird so als etwas Gemachtes vorgestellt, nicht als machen oder tun. Kultur, die gemacht ist, steht aber dem Machen im Weg. Mit der Bewertung von Kultur als Produkt einer Gemeinschaft, kann das eigenbezügliche Tätigsein in Gemeinschaft und an einem Ort nicht konkurrieren. Eigenbezügliches Tätigsein schafft keine Tatsachen, es ist nicht innovativ, es ist unergiebig. Eigenbezüglichkeit verwehrt sich der Endgültigkeit. Eigenbezügliches Tätigsein ist schließlich unbeständig und dem Zugriff zentraler Steuerung entzogen. Derart ist es nicht transferierbar. Eigenbezügliches Kultivieren verhält sich uneinsichtig gegenüber dem Konzept der Kultur. Deshalb wird es mit Rückständigkeit in einen Topf geworfen. Dürfen wir aber eine Aussage, wie jene des Flamenco-Sängers Agujetas tatsächlich für rückständig halten? der auf dem Primat der Eigenbezüglichkeit insistierend festhält:

Martina Kaller-Dietrich 4 El que sabe leer y escribir no puede cantar flamenco... porque pierde el saber pronunciar. 10 (Wer lesen und schreiben kann, kann nicht Flamenco singen, weil er die Fähigkeit sich auszudrücken verloren hat.) Dem Begriff Kultur, der mit Uwe Pörksen als Plastikwort identifiziert werden kann, fehlt Eigenbezüglichkeit. 11 Plastikwörter schmecken nach nichts meint Pörksen. Eine weitere Eigenschaft der Plastikwörter - wie Kultur eines ist - fällt erst auf den zweiten Blick auf: Ihre Anpassungs- und enorme Wandlungsfähigkeit verleiht ihnen ihre amorphe Plastizität. Kultur lässt sich in sehr verschiedenen Kontexten verwenden, ohne störend zu wirken. Der Begriff Kultur konnotiert, aber dennotiert letztlich nicht. In seinem Inneren klafft eine Leerstelle, weil niemand bündig sagen kann, was den Kern von Kultur ausmacht. Trotzdem erhebt der Begriff Kultur einen diffusen und inhaltsarmen Universalitätsanspruch. Außerdem verhält sich auch dieser Begriff wie ein Bügeleisen, das männliche und weibliche, helle und dunkle, große und kleine Falten aus dem Kultivieren dem Tun von Kulturen plättet. 12 Ferner meint substantivierte Kultur historisch die Einhegung angeblich kulturell homogener Gesellschaften in Territorien. Edward Said hat in Kultur und Imperialismus die tiefe Verwurzelung von Kultur und Gewalt sowie geistiger und politischer Kolonialisierung im 19. und 20. Jahrhundert aufgedeckt. Said spricht vom Ende der Illusion der Fremdenfreundlichkeit des Abendlands ; er enttarnt die Sprache der Herrschaft in der westlichen Literatur ebenso wie in den Humanwissenschaften, in der Realpolitik der Nationalstaaten ebenso wie in den gesellschaftlichen Leitbildern; er beschreibt die Gestik der zivilisatorischen Domestizierung seit den Kolonialkriegen bis in die Gegenwart. Man muss sich aber nicht den Rändern, der Peripherie des Weltsystems, zuwenden, um zu erkennen, dass dort wo westliche Kultur herrscht, Heterogenität verblasst. Oft bringen Dichter die Sache besser auf den Punkt als wir WissenschafterInnen. Ich zitiere Herbert Achternbusch, der eine gewisse Resistenz gegenüber der Weltherrschaft der Plastikwörter bewahrt: Welt, schreibt Herbert Achternbusch, ist ein imperialer Begriff. Auch wo ich lebe, ist inzwischen Welt. Früher ist hier Bayern gewesen. Jetzt herrscht hier die Welt. Auch Bayern ist wie der Kongo oder Kanada von der Welt unterworfen, wird von der Welt 10 Agujetas, cantor de flamenco Dokumentarfilm von Dominique Abel 11 Pörksen, Uwe 4 1992: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur; Stuttgart <1988> 12 Bügeleisenmetapher frei nach Ivan Illich

Martina Kaller-Dietrich 5 regiert... Je mehr die Welt regiert, desto mehr wird die Erde vernichtet... Das imperiale Gesetz der Welt ist Verständnis. Jeder Punkt dieser Welt muß von jedem anderen Punkt verstanden werden. Das hat zur Folge, daß jeder Punkt auf der Welt jedem anderen Punkt gleichen muß. So wird Verständnis mit Gleichheit verwechselt und Gleichheit mit Gerechtigkeit. Aber wieso ist es ungerecht, wenn ich mich einem anderen nicht verständlich machen kann? Will sich der Unterdrückte oder der Beherrschte verständlich machen? Natürlich der Unterdrückende und der Herrschende. Herrschaft muß begreifbar sein. 13 Es scheint als habe Eigenbezüglichkeit und Eigenmacht im Rahmen eines weltweit vereinheitlichten Verständnis von Kultur ihren Platz verloren. Dort, wo Differenz als Kultur toleriert wird, erscheint sie als Stereotyp nationaler oder rassistischer Spezifika. Die Gleichheit der modernen Kulturen untereinander ist allerdings viel höher einzuschätzen als ihre Differenz. Ein Beispiel davon gibt das Verständnis von Zeit. Eine eigene Zeitlichkeit, sprich die praktische Auffassung von Dauer, von Leben und Sterben oder zyklische Vorstellungen, haben im modernen Projekt einer linearen Chronosophie keinen Platz. Denn substanziell begriffen, würden eigenzeitliche und damit eigenbezogene Vorstellungen von Kultur, die Entwicklung zu einer modernen, fortschrittlichen Kultur jedenfalls hinterfragen und Kulturtransfer auf der beschriebenen Einbahnstraße behindern. Die Diskrepanz von eingenbezüglichen Zeitvorstellungen und dem linearen Zeitverständnis zeigt sich überdeutlich, wenn verschiedene zivilisatorische Projekte innerhalb eines Nationalstaats in der Klammer Kultur vereint werden sollen. Nationale Projekte, wie z.b. jenes der mexikanischen Nation, das sich nach erfolgter Staatsbildung im 19. Jahrhundert eine nationale Kultur festschrieb, fußen prinzipiell in nur einem Wertmaßstab für Kultur. Aus der Hybridisierung von europäischen und indianischen Kulturanteilen sei angeblich eine dritte Kultur, die Kultur des mexikanischen Volks, hervorgegangen. So lautet jedenfalls die Quintessenz des Nationalprojekts Mexiko. Da die nationalen Maßstäbe sich aber am modernen Projekt von Staat und Nation orientieren, irritiert der Umstand etwas europäischer zu sein als das Synthesevolk nicht nur nicht, sondern wird 13 Achternbusch, Herbert: Der Olympiasieger; Frankfurt a.m. 1982, 11.

Martina Kaller-Dietrich 6 leitmotivisch gewünscht. Hingegen scheidet der Anspruch, den Anteil nicht europäischer Kultur zu besetzen an der simplen Negation, dass Indianern ebenso wie den Zigeuner, den Juden und Untermenschen der modernen Staaten - zwar Differenz zugesprochen wird, aber nicht eine eigene Kultur jedenfalls keine, die der nationalen Kultur das Wasser reichen könnte. Nur das Gegenteil festzustellen, bleibt dem mexikanischen Kulturtheoretiker Esteban Krotz: Häufiger als jemand sind Indios meist etwas, nämlich ein Problem. Das rührt zunächst von ihrem offensichtlichen Anderssein her: sie sehen anders aus, kleiden sich anders, essen und trinken anders und tun etwa im Bereich der Medizin und der Religion, aber auch in vielen des ganz gewöhnlichen Alltags anderes. Und sie reden anders. Diese Andersheit ist nicht nur oberflächlich: die moderne Welt scheint ihre Sache nicht zu sein. Sie haben eine andere Kultur als die herrschende, die der Herrschenden. Für letztere ist indianische Kultur eigentlich keine rechte Kultur, sie ist bestenfalls Folklore, Rest einer untergehenden Welt, anachronische Randerscheiung der modernen, der zukunftsträchtigen Welt. Aber damit nicht genug. Indios sind nicht nur nicht modern, sondern sie sind antimodern. Sie sind nicht lediglich Zurückgebliebene des allgemeinen Menscheitsfortschritts, sie sind gegen den Fortschritt. Ja, unfähig zum modernen Leben, dumm und faul sind sie zumindest so erscheinen sie ganz besonders dann, wenn sie in offensichtlich zum Fortschritt berufenen Gebieten angetroffen werden, etwa in Wäldern, die zwecks Viehwirtschaft oder intensivem Ackerbau gerodet, in Tälern, die in Stauseen verwandelt, in Reservaten, die durch Straßen und Häfen erschlossen werden könnten. Ihre Existenz ist ein Hindernis: sie gehören einer Entwicklungsstufe an, die doch längst überwunden sein sollte; ihr Überleben behindert allgemeinen Fortschritt. (...) und als solches behindern, ja bedrohen sie die weisse, die moderne Kultur. 14 Kehren wir noch einmal zur Wortgeschichte zurück. Das Substantiv Kultur geht auf das Verb colere, bebauen, bewohnen, pflegen zurück. Damit wird ein Tätigsein beschrieben, nicht ein Produkt, das sich transferieren lässt. Wenn wir nach bebauen, bewohnen, pflegen fragen, wie würde die Antwort der Indios lauten? Welche Antworten würden wir geben, wenn es nicht um das Produkt, sondern das Tun geht? - Vielleicht würde österreichische Kultur 14 Krotz, Esteban 1993: Folklore, Assimilierung, Zivilisationskritik. Zu Lage und Aussichten der lateinamerikanischen Indiobevölkerung; in: Martina Kaller/ Stefanie Reinberg (Eds): 500 Jahre nach der Erfindung Amerikas; Zeitschrift für Lateinamerika. Sondernummer 44/45: 19-33, hier 19/20

Martina Kaller-Dietrich 7 nicht mehr an ihren Produkten messbar sein, an der rezepttreuen Wiedergabe von Salzburger Nockerln oder der werktreuen Wiederholung einer Symphonie von Mozart oder dem formvollendeten Handkuss des Herrn Hofrat? Vielleicht wäre Kultur nicht länger ein Ausdruck, sondern einfältiges Kochen, eigenmächtiges Musizieren, beliebiges Küssen. Das wäre zwar im besten Sinne des Wortes diletantisch, aber es würde gemacht werden ohne Rücksicht auf das Gemachte. Gibt es eine Möglichkeit Kultur zu leben, die nicht national verstanden wird? Ist ein Kulturverständnis denkbar, das einen eigenen Begriff von Zeitlichkeit hat? Ist Kultur denkbar, die trotz Nation in der Moderne existiert? Seit gut zwanzig Jahren verstehen sich Kultur- und Gesellschaftswissenschaften auf die Kunst der Dekonstruktion der modernen Mythen. Die Mythen der Moderne standen als Gemachtes dem wissenschaftlichen Tun im Weg. Weiterdenken, hieße für mich nicht nur die ständige Veränderlichkeit und Verformung des Gemachten zu dokumentieren, sondern über die Herausforderung nachzudenken, ob es nicht an der Zeit wäre, eigenbezügliches Denken und Tun vom Nimbus der Rückständigkeit und der Fortschrittsparalyse zu befreien. Ich schlage mich seit Jahren mit der Frage herum, was den Unterschied ausmacht zwischen Essen, das eigenbezüglich hergestellt wird, und den Produkten der Nahrungsmittelindustrie, vor deren Tatsächlichkeit das kulturell heterogene Tätigsein bei diesem lebensnotwendigen Vorgang zur industriellen Routineangelegenheit verkommt. Was hat Essenmachen mit Kultivieren zu tun? Alltägliches Essenmachen schafft keine Tatsachen, es ist nie endgültig erledigt, es löst sich nie von den Händen, die es machen. Essen lässt sich nicht als Produkt transferien. Vielleicht schafft gerade das eigenbezügliche Essen kulturelle Unterschiede, auf die es ankommt im Strom gegen die Verheinheitlichungsprozesse von Kultur im Substantiv?