Sünde und Schuld aus neuro-phänomenologischer Sicht Vortrag zur 35. Jahrestagung der Deutschsprachigen Gesellschaft für Kunst und Psychopathologie des Ausdrucks an der Psychiatrischen Klinik der LMU München im Oktober 2001 Sehr geehrte Damen und Herren, in den folgenden zehn Minuten möchte ich Ihnen einige neuro-phänomenologische Überlegungen zum Thema dieser Tagung anbieten. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Annahme, dass Sünde, Schuld und Sühne psychische Phänomene sind. Damit es psychische Phänomene geben kann, braucht es ein funktionsfähiges Gehirn. Äußerst komplexe bioelektrische und biochemische Wechselwirkungen müssen vorhanden sein, damit auch nur das einfachste psychische Phänomen zustande kommen kann. Ein intelligent gemischter Neurotransmitter-Cocktail sorgt dafür 1), dass etwas entsteht, was Ihnen zum Beispiel als ein Gefühl oder als ein Gedanke bekannt ist. Die vom Gehirn produzierten Psychodrogen, zum Beispiel Acetylcholin, Dopamin, Endorphin, Noradrenalin, Serotonin sind an allen kognitiven und psychischen Prozessen beteiligt und machen sie sogar erst möglich. Sind psychische Phänomene lediglich Produkte chemischer Hirnprozesse? In einem Interview mit dem Spiegel 2) äußert sich der deutsche Hirnforscher Prof. Dr. Wolf Singer dahingehend, dass der Mensch keinen freien Willen habe und demnach für sein Tun auch nicht verantwortlich wäre. Auf die Frage des Journalisten müssen Sie dann nicht das Prinzip von Schuld und Sühne über Bord werfen? antwortete Singer: "Ja, ich halte dieses Prinzip für verzichtbar. Es kommt noch besser: "Aber so die weitere Frage "ist dann nicht jede psychiatrische Feststellung von Schuldfähigkeit unsinnig, wenn man sowieso unterstellt, dass niemand schuldfähig ist? Die Antwort Singers: "Richtig. Unsere Sichtwei- 1
se von Übeltätern würde sich eben ändern müssen. Man würde sagen: Dieser arme Mensch hat Pech gehabt. Er ist am Ende der Normalverteilung angelangt. Eichmann, Mengele, Milosevich und viele andere - sie haben demnach alle nur Pech gehabt mit ihrer hirnphysikalischen Normalverteilung. Sie können diesen Gedanken sogar noch extremer denken: Es gibt niemanden, der schuldig wäre, wenn er Ihnen etwas Übles angetan hat! Die sogenannte üble Tat kann aufgelöst werden in eine statistische Größe im cerebralen Geschehen; auf diese Weise wird sie von jeglichem psychischen Wert befreit. Das heißt im Klartext: Wenn Sie gefoltert werden, dann haben Sie bloß Pech gehabt, weil Sie mit dem Ende einer cerebralen Normalverteilung in Kontakt gekommen sind. Das wäre eine wissenschaftlich einwandfreie Definition. Pawlov und Skinner würden sich darüber freuen; wir sind nämlich wieder oder immer noch da, wo die Beiden schon einmal waren: der Ausdruck von Schmerz und Leid ist - naturwissenschaftlich definiert und interpretiert - nur eine input-output-relation der biologischen Materie. Für Wolf Singer ist das Phänomen der menschlichen Freiheit und damit des gewollten Wählen-Könnens dennoch real. Das ist interessant: einerseits behauptet er, dass das Psychische lediglich als Tätigkeit der hirnphysikalischen Objektwelt zu verstehen sei, gleichzeitig spricht er dem Menschen eine subjektive Selbstbestimmung und damit auch eine Schuldfähigkeit aufgrund des Wählen-Könnens zu. Auf die Frage, "wenn der Einzelne keinen freien Willen besitzt, wo verankern wir dann die Menschen würde?" antwortet Singer, dass wir zu einer "demütigeren und "toleranteren Haltung finden, wenn wir die Freiheitsvorstellung aufgeben. Die Widersprüche sind nicht zu übersehen. Einerseits behauptet ein führender Wissenschaftler, dass wir aufgrund von Erkenntnissen der Hirnforschung keinen freien Willen haben; auf die Konsequenzen hin angesprochen, bringt er dann "Demut und "Toleranz ins Spiel. Es scheint so, als ob folgender Zusammenhang ausgeblendet wäre: Wenn das psychische Phänomen der Willensfreiheit nicht exis- 2
tiert, dann können auch andere psychische Phänomene wie Demut und Toleranz nicht existieren. Physikalische Systeme sind tot, weil sie nicht wahrnehmen können. Wenn Sie das ZNS auf seine physikalischen Bestandteile reduzieren, dann ist es ein totes System, das nicht wahrnehmen kann. Auch dann, wenn Sie annehmen, dass physikalische Systeme irgendwann einmal gelernt haben, sich selbst zu reproduzieren, wären sie dennoch tot. Physikalisch gesehen gibt es nur ein Außensystem. Das Problem dabei ist: Wenn diesem Außensystem kein Innensystem gegenüber ist, dann kann es keine Wahrnehmung geben. Wahrnehmen setzt voraus, dass sich ein Innensystem von einem Außensystem unterscheiden kann. Das Wahrnehmen richtet sich stets von einem Innensystem auf ein Außensystem. Niemals ist es umgekehrt! Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie es wäre, wenn das Außensystem das Innensystem wahrnehmen würde und nicht umgekehrt? Das ist eine interessante Meditation. Wenn Sie das Gehirn auf seine physikalischen Bestandteile reduzieren, wenn Sie es ausschließlich als ein elektrokolloidales input-output Verrechnungssystem verstehen, dann begreifen Sie es als ein Außensystem. Wenn Sie die Welt der psychischen Phänomene auf sogenannte objektive und damit materielle Wechselwirkungen zurückführen, dann gibt es definitiv weder Schuld noch Sühne, weder Mitgefühl noch Hoffnung, weder Wahrnehmung noch Einsicht. Wenn Sie sich aber von diesen psychischen Phänomene nicht radikal verabschieden wollen, dann akzeptieren Sie die Interpretationen der in der Hirnforschung gewonnenen Daten nicht. In der forensischen Psychiatrie wird bei einer kriminellen Tat, die Frage nach der Schuldfähigkeit des Täters gestellt. Aus der Sicht einer naturwissenschaftlichen Biopsychiatrie wäre dann die Frage zu stellen: kann ein Gehirn schuldig sein? Kann die Software einer biologischen Gehirnhardware "schuldig sein? Das ist in etwa so als ob Sie fragen würden: kann das "Messer, das im Bauch eines Opfers steckt schuldig sein? Ist der Arm eines Roboters, der in einer Montagestraße einen Monteur zerquetscht hat "schuldig? 3
Von wissenschaftlicher Seite wird uns ernsthaft erklärt und gelehrt, dass alles Psychische Produkte gehirnphysikalischer Aktivitäten sind, andererseits will man den Menschen aber bei sozial schädlichen Handlungen eine Schuldfähigkeit zusprechen. Der israelische Neurologe und Psychiater Salomon Rothschild 3) hat dieses Dilemma dadurch zu lösen versucht, indem er dem ZNS eine symbolische Funktion unterstellt hat. Die Tatsache der Gehirnlateralität, die bei allen Säugetieren vorhanden ist, würde aus seiner Sicht erklären, dass sich ein Innensystem vom Außensystem als getrennt erfährt. Er meint, das Psychisch-Subjektive wäre das deutende Verhalten des Innensystems zu sich selbst in Beziehung zum Außensystem als Nicht-Selbst. Dieses Deuten kann seiner Meinung nach nicht auf molekulare Einheiten reduziert und durch sie erklärt werden. Trotzdem bleibt auch bei diesem Modell die Frage unbeantwortet: Wie wird aus dem Objekt ein Subjekt? Wie wird aus einem physikalischen Außensystem (als dem naturwissenschaftlich einzig realen System) ein offenbar nicht physikalisches Erlebens-, Deutungs- und Wahrnehmungssystem, das auf Wahlfreiheit beruht? Solange Sie das Gehirn als ein Objekt definieren, wird ein Objekt ein anderes Objekt untersuchen - das kann nicht anders sein und führt zu der Frage: Ist es überhaupt phänomenologisch möglich, dass ein Objekt andere Objekte untersucht? Die einzige, mir sinnvoll scheinende Annahme, die den Phänomenen gerecht würde, läge darin anzunehmen, dass das Gehirn kein Objekt sondern Subjekt ist. Der Physiker Gustav Theodor Fechner 4) hat ein seinem Buch Zend Avesta geschrieben: "Ich kann im Ernst daran zweifeln, ob Du eine Seele hast; denn unmittelbar kann ich in Deinem Körper nichts von Seele und Geist entdecken, während mir meine Seele, mein Geist in unmittelbarer Weise selbst erscheint; in diesem Fall hört jeder Zweifel auf. Alle Erscheinung des Seelischen, Geistigen ist als solche immer nur Selbsterscheinung. Seele ist ein Wesen, das sich selber hell, für jedes äußere Auge aber dunkel ist. 4
Literatur 1) Zehentbauer, Josef: Körpereigene Drogen. München, Zürich 1992 2) Der Spiegel 1/2001: Das falsche Rot der Rose 3) Salomon Rothschild: Das ZNS als Symbol des Erlebens. Basel, New York 1958 Ders.: Die Evolution als innere Anpassung an Gott. Bonn 1986 4) Gustav Theodor Fechner: Zend Avesta. Leipzig 1919 5