Musikphysiologie und Musikermedizin 2003, 10. Jg., Nr. 4 203



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Transkript:

Musikphysiologie und Musikermedizin 2003, 10. Jg., Nr. 4 203 Musikermedizin Craniomandibuläre Dysfunktionen als ein Einflussfaktor für die Entstehung von Überlastungsbeschwerden bei Geigern* A. Steinmetz¹, P.-H. Ridder², A. Reichelt 3 ¹ Klinik für Manuelle Medizin Sommerfeld, Kremmen ² Therapiezentrum Jesuitenschloss Freiburg, 3 Klinik für Orthopädie, Department für Orthop. und Traumatologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Zusammenfassung Bisherige Untersuchungen bei Geigern ergaben eine deutlich höhere Prävalenz von Craniomandibulären Dysfunktionen (CMD) gegenüber Vergleichsgruppen. Es stellt sich daher die Frage, ob CMD auch bei der Entstehung von berufspezifischen Überlastungsbeschwerden (Overuse) eine Rolle spielen. In diesem Zusammenhang wurde der Einfluss einer CMD und deren Therapie auf die Muskelspannung beim Geigenspiel untersucht. Bereits aufgetretene Überlastungsbeschwerden sowie aktuelle Symptome einer CMD wurden bei 31 GeigerInnen mittels eines Fragebogens, einer Kieferfunktionsanalyse sowie einer klinischen Untersuchung evaluiert. 70% der Probanden wiesen ausgeprägte Symptome einer CMD auf. Um den Einfluss der CMD auf die Muskelspannung während des Geigenspiels differenzieren zu können, wurden Oberflächen-EMG- Messungen ohne sowie mit einer Aufbissschiene durchgeführt. Die Aufbissschienen konnten die Muskelspannung in den Mm. temporales, Mm. masseter, dem M. sternocleidomastoideus und in den Mm. trapezii signifikant senken. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass CMD zu einer Erhöhung der Muskelspannung beim Geigenspiel führen und dadurch die Entstehung von musikerspezifischen Überlastungsbeschwerden fördern können. Aufbissschienen können möglicherweise auch als ein Mittel zur Prävention und Therapie von Überlastungsbeschwerden bei einer präexistierenden CMD eingesetzt werden, wozu weitere Langzeit-Studien sinnvoll wären. * Wissenschaftspreis 2003 der Deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin Summary Craniomandibular Dysfunction as an Influential Factor in the Etiology of Overuse Symptoms in Violinists Previous studies showed a significantly higher prevalence of CMD in violin players against controls. Thus the question arises whether CMD can also cause Overuse in violinists. We investigated a group of 31 violinists with a questionnaire, mandibular tracking and a clinical examination to elicit Overuse and CMD symptoms. The influence of CMD on muscle tension during violin playing was finally assessed with a surface EMG, which was performed both without and with an occlusal splint in order to work out the effect of a CMD on the muscular load level. 70% of the investigated violinists showed distinct signs of CMD. The occlusal splints significantly decreased the load in the masseter, temporalis, trapezius and sternocleidomastoid muscles during musical performance. CMD is related to increased muscular load in the muscles of mastication, the trapezius and the sternocleidomastoid muscles, also during playing the violin which can possibly predispose to overuse syndromes. Occlusal splints appear also to decrease the muscular load in asymptomatic violinists, suggesting a possible preventive and therapeutic role in the development of overuse symptoms in the setting of pre-existing CMD. Therefore further long-time studies would be useful. Keywords CMD - muscle tension overuse - occlusal splints

204 A. Steinmetz et al. Craniomandibuläre Dysfunktionen 1. Einleitung Craniomandibuläre Dysfunktionen Unter Craniomandibulärer Dysfunktion (CMD) versteht man Schmerzsyndrome bzw. Funktionsstörungen im Bereich der Kaumuskulatur, der Kiefergelenke und der Okklusion. Diese sind gekennzeichnet durch die Leitsymptome: - Schmerz (im Kiefergelenk und/oder der Kaumuskulatur), - Mandibuläre Dysfunktion; Einschränkung der Depression (Mundöffnung) und/oder eine Laterotrusion (Seitdeviation des Unterkiefers) während der Mundöffnung - Kiefergelenksgeräusche (Knacken, Krepitationen) Ursachen Craniomandibulärer Dysfunktionen sind: - dento-/okklusogen durch den Zahnstatus und die Okklusion - myogen durch Parafunktionen wie z. B. Knirschen oder Haltungsstörungen bzw. muskuläre Dysbalancen - sowie arthrogen, wie beispielsweise eine Subluxation des Discus (internal derangement) oder eine Arthrose Da das Kiefergelenk über die Kopf- und Nackenmuskulatur mit der Wirbelsäule verbunden ist, bleibt die Störung nicht isoliert im Kauapparat, sondern wirkt sich auch auf Kopf- und Körperhaltung aus. Abb. 1: Das stomatognathe System und die funktionell-anatomischen Bezüge zum Rest des Körpers Daher sind Störungen im Bereich des Kiefergelenks, der Okklusion oder der Kaumuskulatur oft assoziiert mit Dysfunktionen bzw. komplexen Schmerzsyndromen im Bereich der Kopfgelenke, der Halswirbelsäule, des Mundbodens und Hyoids, der übrigen Wirbelsäule, des Zwerchfell, des Beckens und sogar innerer Organe. Es resultieren Symptome außerhalb des Kausystems wie Kopfschmerzen, Otalgien, Schwindel, Globusgefühl, Lumbalgien, Beckenschiefstände und variable Beinlängendifferenzen. Diese Beschwerden stehen bei CMD-Patienten häufig im Vordergrund, viele Patienten fühlen sich in Bezug auf ihr Kiefergelenk subjektiv sogar symptomfrei. Bei der Entstehung dieser deszendierenden Craniomandibulären Dysfunktionen spielt der N. trigeminus eine bedeutende Rolle. Die Konvergenz der Propriozeption beim Zahnkontakt über den N. maxillaris und N. mandibularis mit Afferenzen aus der Dura mater auf den spinalen Trigeminuskern ermöglichen eine Schmerzprojektion in Nacken und Kopf. Die Fortsetzung des spinalen Trigeminuskerns in die Substantia gelatinosa des Rückenmarks sorgt für eine Weiterleitung der Kiefergelenksinformation zur Wirbelsäule. [8] Außerdem kommt es durch schmerzhafte Reizung von Trigeminusafferenzen zur Auslösung posturaler Reflexe auf segmentaler sowie suprasegmentaler Ebene, welche ein spezifisches Haltungsmuster auslöst. Dieses ist auf der zur Störung ipsilateralen Körperseite durch ein geringgradig tieferstehendes Becken und ein mäßig verkürztes Bein, einer verkürzten thorako-lumbalen und supra-hyoidalen Muskulatur gekennzeichnet. Auf der kontralateralen Seite kommt es zu einer Verkürzung der zervikalen Muskulatur sowie zu verkürztem Masseter und Temporalis [9]. Umgekehrt kann es durch Störungen außerhalb des craniomandibulären Systems zu aszendierenden Craniomandibulären Dysfunktionen kommen. Die Therapie Craniomandibulärer Dysfunktionen ist abhängig von ihrer Ursache. Bei myogen bzw. okklusogen ausgelöster CMD besteht die Therapie idealerweise in der Kombination von Aufbissschienen mit Manueller Medizin, Osteopathie und Physiotherapie. Voraussetzung für die erfolgreiche Herstellung einer Aufbissschiene ist das Einstellen einer neuen Ruheschwebelage des Unterkiefers, in welcher die mit der CMD verbunden Pathologien wie z.b. Beckenschiefstände oder eine erhöhte Duraspannung verschwinden. Zu einem späteren Zeitpunkt kann eine definitive

Musikphysiologie und Musikermedizin 2003, 10. Jg., Nr. 4 205 zahnärztliche/kieferorthopädische Versorgung der Okklusion angeschlossen werden. Bei arthrogen verursachter CMD können in seltenen Fällen möglicherweise auch kieferchirugische Eingriffe nötig werden, meistens sind jedoch Methoden der Manuellen Medizin oder Akupunktur aufgrund ihres zusätzlichen Einflusses auf die mit CMD assoziierten Funktionskreise erfolgreicher. Bei komplexen chronifizierten Schmerzsyndromen ist oft eine begleitende Psychotherapie notwendig. Craniomandibuläre Dysfunktionen bei Geigern Untersuchungen über Craniomandibuläre Dysfunktionen bei Geigern liegen bisher von Hirsch (1982) [4] und Kovero/Könönen (1995) [ 5] vor. In beiden Untersuchungen wurde eine deutlich höhere Prävalenz von CMD bei Geigern gegenüber Vergleichgruppen festgestellt und professionelles Geigenspiel als möglicher prädispositioneller Faktor für die Entstehung einer CMD gewertet. Die Ursache dafür liegt in der spezifischen Geigenhaltung begründet. Während des Geigenspiels wird ein Druck zwischen 30-70 N (5-14 N/cm²) bzw. 220 und 2200g auf den Kinnhalter ausgeübt [3;6]. Dabei kommt es zur Kompression des rechten und zur Subluxation des linken Kiefergelenks als arthrogene CMD-Ursache. Zusätzlich kommt es bei Geigern typischerweise zur Entwicklung spezifischer Muskeldysbalancen, wie z.b. dem oberen gekreuzten Syndrom, welches als myogener Faktor zur Entstehung einer CMD führen kann. Trotzdem hatten diese Erkenntnisse bisher selten praktische Konsequenzen für Geiger, im Sinne einer spezifischen Diagnostik und Therapie bezüglich Craniomandibulärer Dysfunktionen. Dies beruht wohl auch auf dem 1999 von Carlsson beschriebenen Phänomen, dass sich viele Patienten mit CMD subjektiv für nicht behandlungsbedürftig sehen, weil sie im Kiefer bzw. Zahnapparat keine Beschwerden aufweisen. [1] Es ist allerdings bekannt, dass CMD zur Erhöhung der Muskelspannung führt. [2] Außerdem weiß man, dass eine erhöhte Muskelspannung während des Geigenspiels zur Entstehung von Überlastungsbeschwerden wie z. B. Tendovaginitiden oder Epicondylitiden führen kann. [7] Daher wollten wir in dieser Studie untersuchen, welchen Einfluss eine CMD und deren Behandlung auf die Muskelspannung während des Geigenspiels und damit auch auf die Entstehung von musikerspezifischen Überlastungsbeschwerden (Overuse) hat. Außerdem wollten wir analog zu den Studien von Hirsch und Kovero/Könönen die Häufigkeit von CMD bei den von uns untersuchten Geigern feststellen. 2. Methode Wir untersuchten insgesamt 31 Geigerinnen und Geiger der Musikhochschulen sowie professioneller Orchester im Großraum Freiburg. Die Untersuchung bestand aus einem Fragebogen, einer Kieferfunktionsanalyse und einer klinischen Untersuchung, um das Vorliegen einer CMD festzustellen. Anschließend führten wir Oberflächen-EMG- Messungen durch, um den Einfluss einer CMD auf die Muskelspannung festzustellen. Fragebogen Die Probanden erhielten einen Fragebogen, der ausführlich Überlastungsbeschwerden, Schmerzen während des Geigenspiels und Probleme im Bereich des Kiefergelenks und der Kaumuskulatur erfragte. Des Weiteren wurden Daten betreffend des Geigenspiels und der damit verbundenen Belastung, sowie bezüglich täglicher Übe- bzw. Spielzeiten, Übegewohnheiten, aktuelle Stressbelastung u. ä. erhoben. Kieferfunktionsanalyse Die Kieferfunktionsanalyse wurde mit dem Meßsystem zebris JMA der Firma zebris Medizintechnik GmbH durchgeführt, welches eine genaue Messung der Bewegungsgrade des Kiefergelenks mittels einer Laufzeitmessung von Ultraschallimpulsen erlaubt. Wir bestimmten die max. Depression (Mundöffnung) und die Laterotrusion (Seitab-weichung der Mandibula) bei der Mundöffnung als Parameter für die mandibuläre Dysfunktion. Klinische Untersuchung Die anschließende orthopädisch/manualmedizinische Untersuchung hatte das Ziel, Symptome und assoziierte Zeichen einer Craniomandibulären Dysfunktion festzustellen.

206 A. Steinmetz et al. Craniomandibuläre Dysfunktionen Das Kiefergelenk und die Kaumuskulatur untersuchten wir auf die oben erwähnten Leitsymptome Druckdolenz/Schmerz sowie Geräusche während der Funktionsbewegungen. Neben Befunden in direkt benachbarten Regionen wie der Nacken- und Schultermuskulatur suchten wir außerdem nach Auffälligkeiten in weiter entfernten Funktionsbereichen wie z.b. Beckentiefständen, Beinlängendifferenzen oder einer erhöhten Duraspannung. EMG-Untersuchung Abschließend führten wir Oberflächen-EMG- Messungen der Kaumuskulatur (Masseter und Temporalis bds.) sowie des Trapezius bds. und des rechten SCM sowie der linken Extensoren während des Geigenspiels durch. Die Messungen erfolgten mit einem 4-Kanal- Oberflächen-EMG, dem myosys 01 easy der Firma Meditronic Jena unter Verwendung der zugehörigen Auswertungs-Software EMG- Utils. Um den Einfluss der CMD auf die Muskelspannung während des Geigenspiels differenzieren zu können, wurden die Messungen zuerst ohne und dann mit einer provisorischen Aufbissschiene durchgeführt. Die Mean-Werte der EMG-Messungen wurden in der statistischen Auswertung einer Varianzanalyse unterzogen. 3. Ergebnisse Fragebogen Unsere Probanden waren im Mittel 30,1 (16-58) Jahre alt und spielten seit 23,2 Jahren Geige. Unter ihnen waren 20 Frauen und 11 Männer. Die tägliche Übezeit/Spielzeit am Instrument betrug durchschnittlich 4,4 h. Anamnestisch hatten bereits 74% unserer Probanden Overuse-Syndrome durchgemacht. 81% berichteten über Schmerzen beim Geigenspiel, 39% von ihnen gaben Schmerzen im Zeitraum der Untersuchung an, während der Messungen kam es allerdings bei keinem der Probanden zu Schmerzen. Diese waren am häufigsten im Bereich der rechten Schulter sowie im HWS-Nacken- Bereich und der LWS lokalisiert. Bei 16% traten auch im Bereich des Kiefergelenks Schmerzen auf. Abbildung 2 zeigt die Lokalisation der am häufigsten genannten Schmerzen (Mehrfachnennungen waren möglich). Die Probanden spielten dabei jeweils dreimal drei verschiedene Stücke unterschiedlichster Anforderungen, um zu untersuchen, ob die postulierte Veränderung der Muskelspannung vom Schwierigkeitsgrad des Musikstückes bzw. vom Grad des Musizierens abhängig ist. Schmerzen beim Geigenspiel 70,0% 60,0% 50,0% 40,0% 36% 36% 58% 30,0% 20,0% 10,0% 0,0% 16% 10% 16% 10% 13% 7% 16% HWS-Nacken BWS LWS Schulter re Schulter li Kiefer Arm re Arm li Hdglk. re Hdglk. li Abb. 2: Schmerzen beim Geigenspiel

Musikphysiologie und Musikermedizin 2003, 10. Jg., Nr. 4 207 Klinische Untersuchung In der klinischen Untersuchung zeigten sich typische CMD-Symptome sehr häufig: - Deviation der Mandibula (90%) - Druckdolenz Kaumuskulatur (65%) - Kiefergelenksgeräusch (58%) Funktionsstörungen in umliegenden und weiter entfernten Funktionsbereichen zeigten sich bei 81% der Probanden. Am häufigsten traten auf: - Abschwächung der Nackenbeuger (58%) - Vorlaufphänomen eines Beines (52%) - funktionelle Beinlängenverkürzung (39%) - Gesichtsskoliosen (39%) - Beckenverwringung (16%) Kieferfunktionsanalyse Die Kieferfunktionsanalyse ergab ausgeprägte mandibuläre Dysfunktionen bei den Probanden. Bei 87% zeigte sich eine Einschränkung der maximalen Mundöffnung mit weniger als 41mm. Eine Deviation der Mandibula wiesen insgesamt 93% auf. 63% der Probanden zeigten eine Abweichung nach rechts und 30% eine Abweichung des Unterkiefers nach links. CMD-Leitsymptome In Bezug auf die von uns untersuchten 4 Leitsymptome einer CMD: - Schmerz im Kieferbereich, u.u. auch während des Geigenspiels - Druckdolenz der Kaumuskulatur - Deviation des Unterkiefers bei Mundöffnung - Kiefergelenksgeräusche zeigten sich bei 70% der Probanden ausgeprägte, d.h. 3 bzw. alle 4 der genannten Symptome (Abb. 3). Probanden 50% 40% 30% 20% 10% 0% Abb. 3: Anzahl der CMD-Leitsymptome EMG-Untersuchung CMD-Leitsymptome 6% 23% 39% Die EMG-Untersuchung mit Aufbissschienen zeigte im Vergleich zu denen ohne, dass die Aufbißschiene außer bei den Extensoren zu einer signifikanten Senkung der EMG-Werte führte. Höchst signifikant (p 0.001) fiel die Senkung der EMG-Werte beim M. masseter aus, hoch signifikant (p 0.01) beim M temporalis und beim Sternocleidomastoideus (SCM) und signifikant (p 0.1) beim M. trapezius aus (Tab. 1). Masseter: F = 13.95 p = 0.0008 *** Temporalis: F = 9.36 p = 0.0047 ** Trapezius: F = 6.04 p = 0.0202 * SCM: F = 12.83 p = 0.0012** Extensoren: F = 2.85 p = 0.1023 *** höchst signifikant, ** hoch signifikant, * signifikant 32% 1 2 3 4 Anzahl der Leitsymptome Tab. 1: Signifikanz-Niveaus der Senkung der EMG-Aktivität Die Senkung der EMG-Aktivität lässt sich auch im Roh-EMG ablesen. Die Abbildungen 4 und 5 zeigen exemplarisch den Effekt der Aufbissschiene im EMG eines M. trapezius und eines M. sternocleidomastoideus. Das bedeutet, dass wir nach den oben genannten Kriterien bei über 70% unserer Probanden klinisch eine CMD diagnostizieren konnten, bei meist subjektiver Symptomfreiheit der Betroffenen in Bezug auf das Kiefergelenk.

208 A. Steinmetz et al. Craniomandibuläre Dysfunktionen der vier erhobenen Leitsymptome einer CMD zeigte sich keiner unserer Probanden symptomfrei. 70% der Untersuchten wiesen sogar drei oder vier dieser Symptome auf. Tab. 2 zeigt die Häufigkeit der CMD- Symptome im Vergleich zu den Ergebnissen der Studien von Hirsch und Kovero/Könönen. Abb. 4: EMG des M. trapezius rechts ohne und mit Aufbissschiene Schmerzen Kiefergelenk Druckdolenz Kaumuskulatur Kiefergelenksknacken Deviation Mandibula nach rechts Steinmetz/ Kovero/ Hirsch Ridder Könönen 39% 27% 78% 65% 50% 58% 19% 93% 93% 81% 58% 62% 92% 97% Tab. 2: CMD-Symptome im Vergleich Abb. 5: EMG des M. sternocleidomastoideus rechts ohne und mit Aufbissschiene 4. Diskussion Prävalenz von Belastungsbeschwerden Die Tatsache, dass bereits 74% der Probanden Overuse-Syndrome durchgemacht hatten, entspricht zwar bereits bekannten Untersuchungen, ist aber angesichts des relativ jungen Durchschnittsalters von 30,1 Jahren unserer Probanden besorgniserregend. Zusätzlich ist alarmierend, dass 81% der Untersuchten bereits Schmerzen beim Geigenspiel hatten bzw. haben. Diese Daten dokumentieren eindringlich den Handlungsbedarf zur Vermeidung von berufsbedingten Überlastungserkrankungen bei Geigern. Prävalenz von Craniomandibulären Dysfunktionen Diese Studie bestätigt eindrucksvoll die Ergebnisse der Untersuchungen von Hirsch und Kovero/Könönen, dass typische Symptome einer craniomandibulären Dysfunktion bei Geigern vermehrt anzutreffen sind. Hinsichtlich Es zeigen sich durchaus vergleichbare Ergebnisse, wenn man davon absieht, dass Hirsch nicht zwischen Schmerzen im Kiefergelenk und einer druckdolenten Kaumuskulatur unterscheidet und Kovero/Könönen nur diejenigen Geräusche als Kiefergelenksgeräusch werten, welche im Abstand von einem halben Meter ohne Hilfsmittel zu hören sind. Herabsetzung der Muskelspannung bei Geigern mittels einer Aufbissschiene Es konnte in dieser Studie gezeigt werden, dass sich die Muskelspannung während des Geigenspiels mit einer Aufbissschiene signifikant senken lässt. Vor allem die Auswirkung der Schiene auf den M. sternocleidomastoideus und den M. trapezius ist für das Verhindern von Überlastungsbeschwerden als sehr hoch einzuschätzen. Eine erhöhte Muskelspannung stellt einen prädispositionellen Faktor für die Entstehung von Overuse dar, welche bevorzugt im Schulter-Nacken-Bereich auftreten. Es ist davon auszugehen, dass die Schienenbehandlung bei einer Craniomandibulären Dysfunktion die muskelspannungs-steigernde Auswirkung der CMD auf die periphere Muskulatur verhindern kann. Dieses verhindert möglicherweise, dass in diesen Bereichen durch erhöhte Muskelspannung zusätzliche, durch die Belastung des Geigenspiels ausgelöste, berufsbedingte Überlastungsbeschwerden auftreten.

Musikphysiologie und Musikermedizin 2003, 10. Jg., Nr. 4 209 Dieser Zusammenhang sollte in zukünftigen Studien weiter verfolgt werden. Angesichts unserer Ergebnisse sollten Geiger auf CMD untersucht und ggf. behandelt werden. Dies ist besonders wichtig angesichts der Tatsache, daß sich viele Patienten mit einer CMD subjektiv als nicht behandlungsbedürftig fühlen. Auch bei bereits aufgetretenen Overuse- Syptomen sollte eine CMD-Diagnostik und Behandlung unbedingt erfolgen. Nur so wird es möglich sein, mit der CMD einen muskelspannungssteigernden Faktor aus dem multifaktoriellen Prozeß der Entstehung von Overuse herauszunehmen und weitere langfristige Veränderungen mittels Körperarbeit, Optimierung der Arbeitsabläufe u.ä. zu ermöglichen. [8] Schupp W (2000): Schmerz und Kieferorthopädie, Man Med 38: 322-328 [9] Thomas N (1999): Der Einsatz der elektromyographischen Spektralanalyse bei der Diagnose und Behandlung von kraniomandibulären Dysfunktionen, ICCMO-Brief, Jg. 6/2: 5-15 Literatur [1] Carlsson GE (1999): Epidemiology and treatment need for temporomandibular disorders, J Orofac Pain 13, 232-237 [2] Ehrlich R, Garlick D, Ninio M (1999): The effect of Jaw Clenching on Electromyographic Activities of 2 Neck and 2 Trunck Muscles, J Orofac Pain 13, 115-120 [3] Herman E (1974): Orthodontic aspects of musical instrument selection, Am J Orthod 65, 519-530 [4] Hirsch JA, McCall WD, Biswhop B (1982): Jaw dysfunction in viola and violin players, JADA, Vol.104, 838-843 [5] Kovero O, Könönen M (1995): Signs andsymptoms of temporomandibular disorders and radiologically observed abnormalities in the condyles of the temporomandibular joints of violinand viola players, Acta Odontol Scand 53, 81-84 Korrespondenzadresse: Dr. med. Anke Steinmetz Klinik für Manuelle Medizin Sommerfeld Waldhausstr. 16766 Kremmen Telefon: 033055/ 5-2393 Fax: 030/25359779 e-mail: anke_steinmetz@yahoo.com [6] Okner MAO, Kernozek T, Wade MG (1997): Chin Rest pressure in Violin players: Musical repertoire, Chin Rests and Shoulder Pads as Possible Mediators, Med Probl Perform Art 12, 112-121 [7] Philipson L, Sörbye R, Larsson P, Kaladjev S (1990): Muscular Load Levels in Performing Musicians as Monitored by Quantitative Electromyography, Med Probl Perform Art 5, 79-82 Dieser Artikel fasst die Ergebnisse einer medizinischen Dissertationsarbeit der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. 2003 zusammen.