Biomechanik von HWS-Beschwerden bei leichten Pkw-Kollisionen

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Transkript:

Biomechanik von HWS-Beschwerden bei leichten Pkw-Kollisionen PD Dr. Kai-Uwe Schmitt / Prof. Dr. med. Felix Walz AGU Zürich Institut für Biomedizinische Technik, Universität/ETH Zürich Hintergrund AGU: ca. 800 interdisziplinäre Gutachten zu Fällen mit HWS-Beschwerden technische, medizinische und biomechanische Aspekte AGU-Datenbank: Ca. 6 500 Fälle 1

Hintergrund Heckkollisionen (AGU Datenbank: rund 70%) frequency [%] Geringes delta-v 60 50 40 30 20 10 Frequency [%] 80 70 60 50 40 30 20 Larder et al. Galasko et al. Morris et al. Schmitt et al. 0 up to 15 16 to 25 26 to 35 36 to 50 delta-v [km/h] Langwieder et al. 2000 10 0 rear-end frontal side Technische Charakterisierung Analyse der Fahrzeugschäden bei leichten Kollisionen oftmals schwierig Möglichkeiten die Kollisionsschwere zu beschreiben: Kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung (delta-v) EES ( energy equivalent speed ) Fahrzeug-Beschleunigung >> Angabe von Bereichen, immer toleranzbehaftet 2

AGU-Crashdatenbank Datenbank mit Versuchsergebnissen zu Fahrzeugbelastungen im niedrigen Geschwindigkeitsbereich www.agu.ch 3

Biomechanik Insassenbewegung S-Verformung Aufrichten der BWS Die Sitzlehne drückt auf die BWS-Kyphose und zwingt die WS, sich aufzurichten Dadurch entstehen in der HWS Kompressionskräfte Diese führen zu einer Lockerung der die HWS stabilisierenden Bänder und begünstigen so Scher- Bewegungen der Wirbelkörper 4

Hypothesen Hyperextension mit folgender Bänder/HWK-Verletzungen (heute selten) (Mertz and Patrick 1971) Druckgradienten in flüssigkeitsgefüllten Räumen, Schädigung von Nervenzellen als Folge (Aldman 1986) Scherbewegung, Überreizung von Gelenkflächen (Yang et al. 1997) Überdehnung der Muskulatur Auslösung von bereits vorhandenen Bandscheiben-Problemen Experimente zur Bestimmung von Belastungsgrenzen Freiwilligenversuche (z.b. Mertz et al. 1967, Goldsmith and Ommaya 1983, Ono et al. 1997, Ivancic et al. 2010) 5

Experimente zur Bestimmung von Belastungsgrenzen Freiwilligenversuche (z.b. Mertz et al. 1967, Goldsmith and Ommaya 1983, Ono et al. 1997, Ivancic et al. 2010) Experimente zur Bestimmung von Belastungsgrenzen 6

Experimente zur Bestimmung von Belastungsgrenzen Freiwilligenversuche (z.b. Mertz et al. 1967, Goldsmith and Ommaya 1983, Ono et al. 1997, Ivancic et al. 2010) Belastungsgrenzen 7

Belastungsgrenzen im konkreten Fall? Individuelle Abweichungen? Einfluss der Muskulatur? Degeneration? (HWS-Tagung, TÜV Süd, 2008) Degeneration? - Schlussfolgerungen Für die Kausalitätsbegutachtung von HWS-Beschwerden bleibt bei erkennbaren degenerativen aber nicht traumatischen Veränderungen in der HWS-Struktur die wenig konkrete Schlussfolgerung: keine Pauschalbeurteilung in jedem Einzelfall muss versucht werden, etwaige Brücken zwischen der veränderten HWS- Struktur und dem spezifischen Beschwerde- Ursprung (Weichteile?) zu finden. 8

Belastungsgrenzen im konkreten Fall? Individuelle Abweichungen? Einfluss der Muskulatur? Degeneration? Messungen der Belastungen am Pat. nicht möglich > Nachfahrversuch? Crashtest-Dummy? Kritische Belastungen der HWS? geeigneter Dummy Beschleunigungen, Kräfte, Momente, Geschwindigkeiten, Verschiebungen Verletzungskriterium (Schutzkriterium) 9

HWS-Verletzungskriterien NIC max (Boström et al. 1996) N km (Schmitt et al. 2001) IV-NIC (Panjabi et al. 1999) WIC (Muonz et al. 2005) Head-Torso-Rot. (Kuppa et al. 2005) NDC (Viano and Davidsson 2002) LNL (Heitplatz et al. 2003) N ij (Kleinberger et al. 1998) NIC protraction (Boström et al. 2000) Heckkollision Frontalkollision Kriterien/Grenzwerte: Probleme Die während einer Kollision tatsächlich wirkenden Kräfte/Momente etc. können an Versuchspersonen nicht gemessen werden. Auch die Bewegungsabläufe sind schwierig zu erfassen. Bei Leichenversuchen ergeben sich messtechnisch grosse Schwierigkeiten. Zudem sind die Verletzungen meist diagnostisch nicht nachweisbar. Es gibt eine grosse individuelle Variabilität. Derzeitige Dummies (BioRID, RID 2/3d), bilden die Realität nur relativ grob ab. Reproduzierbarkeit muss gewährleistet sein (Fertigungstoleranzen, Einsetzprozedur, Unterschiede zw. versch. Testhäusern ) 10

Belastungsgrenzen im konkreten Fall? Individuelle Abweichungen? Einfluss der Muskulatur? Degeneration? Messungen der Belastungen am Pat. nicht möglich > Nachfahrversuch? Crashtest-Dummy? Korrelation mit realen Fahrzeugdaten Korrelation mit realen Daten 1. Verletzungsrisiko aus Versicherungsstatistik >> entsprechende Fahrzeugmodelle (Sitze) in Schlittenversuchen testen >> Grenzwerte der bestimmten Kriterien definieren 2. Fahrzeuge mit Mess-Sensoren ausstatten >> Fahrzeug- Belastungen bei Kollisionen messen >> mit medizinischen Unterlagen korrelieren 11

Korrelation mit realen Daten Folksam (Schweden), Crashrecorder, seit 1995 Untersuchung d. Zusammenhangs mit medizinischen Befunden Vorteil: Verletzte und Nicht-Verletzte Untersuchungen zu fahrzeugspezifischer Eigenschaften (z.b. Sitze) Korrelation mit realen Daten Anzahl vs. delta-v/mittlere Beschleunigung (Kullgren et al. 2009) 12

Korrelation mit realen Daten Risikokurven (Kullgren et al. 2009) Fazit Fahrzeugspezifische Parameter (delta-v, Beschleunigung) als Hilfsgrösse zur Beschreibung von Insassenbelastungen, statistische Korrelation möglich zur Einzelfall-Beurteilung technischer Hintergrund wichtig und entsprechend abzuklären, aber weitere (biomechanische) Faktoren berücksichtigen Einflussfaktoren ausserhalb der Biomechanik 13